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Pierre-André Taguieff: Die Macht des Vorurteils. Der Rassismus und sein Double

Wie ambivalent Vorurteile sein können, lässt sich zur Zeit am Fall des kleinen Jungen studieren, der in Sebnitz im Schwimmbad ertrank. Das tatsächlich in Deutschland grassierende rassistische Vorurteil lässt es möglich erscheinen, dass rechte Schläger ein Kind ertränken, während andere Beteiligte einfach wegsehen. Andererseits könnte sich hinter dieser Darstellung auch der Doppelgänger, nämlich ein antirassistisches Vorurteil gegen ostdeutsche Jugendliche und abgestumpfte Erwachsene, verbergen. Sind die meist moralisch motivierten antirassistischen Kampagnen die richtige Strategie gegen die ohne Zweifel erstarkende Xenophobie in Europa? Der französische Philosoph und Politikwissenschaftler Pierre André Taguieff hat sich diese Frage gestellt und in einer umfangreichen Studie Zweifel daran angemeldet, dass die antirassistische Vernunft, wie er das nennt, in der Lage sei, dem Phänomen des Fremdenhasses wirkungsvoll zu begegnen. Er fordert Selbstkritik. Khosrow Nosratian hat Taguieffs Buch "Die Macht des Vorurteils. Der Rassismus und sein Double" seinerseits einer Kritik unterzogen:

Khosrow Nosratian |
    Pierre-André Taguieff, ein Pariser Philosoph und Politologe, hat ein opulentes Buch von 600 Seiten vorgelegt. Die in der Hamburger Edition erschienene Studie über "Die Macht des Vorurteils" versteht sich als eine "Übung der kritischen Vernunft". Der Autor wagt den Versuch einer anspruchsvollen Konstruktion. Er untersucht das Elend eines Antirassismus, der über beträchtliche begriffliche Instrumente verfügt und dennoch in einer erstaunlichen Ohnmacht gegenüber Vorurteilen verharrt. Das Ensemble aus Aberglauben, Intoleranz und Fanatismus wirkt wie ein Stehaufmännchen, das allem Zugriff der Aufklärung entkommt. Darauf antwortet Taguieffs Kernthese: Magische Beschwörungen im Namen des Humanismus führen zu nichts, solange die mythischen Elemente im Diskurs der Aufklärung selbst nicht bestimmt sind. Deshalb sei Selbstkritik die vornehmste Aufgabe jeder antirassistischen Rede.

    "Es muss auch mit einer Selbstanalyse begonnen werden, die das mythische Element in 'unserem' Diskurs aufdeckt, den 'wir', die wir die 'Anderen' des Rassismus, seine fehlerlosen Feinde, sein wollen, nicht ohne eine gewisse Arroganz und Naivität führen. Sich zunächst der Dekonstruktion und Kritik des eigenen arassistischen und antirassistischen Diskurses zu widmen, einen Durchgang durch Texte, in denen der 'Rassismus' benannt, beschrieben, definiert wird, auf sich zu nehmen. Dieser analytische Parcours will zugleich eine gründliche Suche sein, mit dem Ziel, die Argumente ausfindig zu machen, die den Aussagen über den Rassismus zugrunde liegen."

    Taguieff durchquert die Schattenwirtschaft unserer politischen Moderne, in der Rassismus und Antirassismus gleichsam ein Doppelspiel treiben. Deshalb der pointierte Untertitel der Studie: "Der Rassismus und sein Double". Taguieff studiert die heimliche Ökonomie der oft paradoxen Umkehrfiguren: die affektiven Wechselwirkungen, die intellektuellen Austauschbeziehungen. Die extremistischen Zwillinge wider Willen werden in ihrer Ambivalenz vermessen: Die Parteien sind Partner, wenn ihre Konkurrenz auf Kooperation beruht. Diese Arbeitsteilung wird von reflexartigen Schuldzuweisungen und öffentlichkeitswirksamen Anklageerhebungen begleitet. Die Hypermoral des empörten Anprangerns will den Gegner in den Verdacht bringen, Vorurteilen anzuhängen.

    "Die Konstruktion des Gegners als Vorurteilen unterworfener Geist ist ein Modus der grundlegenden Delegitimierung in den modernen ideologischen Kontroversen."

    Dem fährt der Pariser Forscher scharfzüngig in die Parade. Doch ebenso karikiert er den Gutmenschen-Typus der intelligenten Spürnase, die überall Rassismus wittert.

    "Der Rassist wird der Anormale, der Skandal. Durch diese Projektion des rassistischen Gegners in das beunruhigende Universum des Wahns, des Dämonischen und des Anomischen scheint der Diskurs in einer für ein geistig gesundes Subjekt sicheren und normalen Welt geführt zu werden, wobei dieses Subjekt selbst der ehrliche Bürger und das tugendhafte Wesen ist."

    Taguieffs Konzept einer antirassistischen Klugheit will die geläufigen Propagandafloskeln vermeiden. Ihm geht es um die kritische Grundlegung eines Differenzdenkens, das die Vorurteile, in die es stets verstrickt wird, auch wieder entwirren kann. Das zielt auf den strategischen Primat einer geschichtlich gereiften Urteilskraft. Deshalb argumentiert der Autor mit gelegentlich überzogener scholastischer Strenge. So wird der Gebrauch seiner Begriffe von einer Super-Disziplin geregelt, die Taguieff als "Genealogie der dogmatischen Kritik des Vorurteils" vorstellt. Das gewaltige Kapitel von 100 Seiten befasst sich mit den philosophischen Quellen der Kritik des Vorurteils, zitiert Descartes, Montaigne, Spinoza, überdies flankiert von einer ganzen Galerie zeitgenössischer Gelehrter.

    Doch gerade hier verliert sich Taguieffs geschliffene Unterscheidungskunst in ein Geflecht pedantischer Ableitungen. Ihnen muss ein aufgeblähter Anmerkungsapparat assistieren. Der Grund: Die optimistische Forschung nach einem antirassistischen Gemeinsinn aller Menschen und die pessimistische Einsicht in die Herrschaft der Vorurteile liegen über Kreuz. So gerinnt die Ideologiekritik in bester Absicht zur öden Bestandsaufnahme im tabellarischen Verstande, die jeden Verbesserungsvorschlag mit Warnsignalen umstellt: Die traumhafte Vision einer von Vorurteilen gereinigten Welt könnte in den Alptraum einer Säuberung umschlagen.

    "Wenn die Noblesse des Geistes dazu verpflichtet, sich jeglicher rassistischer Neigung zu verweigern, in uns und in anderen, dann muss uns die Bescheidenheit der kritischen Vernunft davor bewahren, dem Extrem des dogmatischen Antirassismus zu verfallen, als sei es möglich und wünschenswert, die soziale und menschliche Welt - hier und jetzt, ein für allemal - von jeder 'Spur' des Rassismus zu befreien."

    Dennoch schlägt der Autor einen philosophischen Antirassismus vor, der als heroischer Humanismus eingeführt wird. Dabei bezieht er sich vor allem auf die politische Philosophie von Leo Strauss, der als Jude vor den Nazis aus Deutschland in die USA fliehen musste und über Jahrzehnte in Chicago lehrte. Strauss unterscheidet eine esoterische Lehre, in der es um eine nur Wenigen zugängliche Wahrheit geht, von einer exoterischen, die mit Rücksicht auf die elementaren Meinungen der Mitmenschen präsentiert wird. Nur esoterisch wird ihm zufolge die Fessel aus Vorurteil und Verfolgung zu sprengen sein. Taguieffs Botschaft ist die direkte Übersetzung seiner Strauss-Lektüre.

    "Das Kennzeichen einer Philosophie ist ihr Widerstand gegen die Vulgarisierung. Sie erweist sich als Philosophie, indem sie sich als Rebell gegen die Massenkommunikation stellt."

    Die rebellische Zivilcourage appelliert an eine wachsame Hellsicht, wie sie die Weisheit einer esoterischen Lehre verkörpert. Dabei führt Leo Strauss' weltabgewandte Aura Regie. Seine verdrießliche Metaphysik zieht die Fäden, wenn Taguieffs Querfeldeindenken dem geduldigen Leser einen Marathon in "Halbgewißheiten" abverlangt. Zwar spielen zahlreiche pathetische Passagen auf ethische Perspektiven an, wird der christliche Humanismus eines Jacques Maritain und das prophetische Philosophieren eines Emmanuel Levinas in Anspruch genommen. Doch es bleibt bei zwielichten Andeutungen, die die gesuchte Grundlegung eines aufgeklärten Antirassismus immer wieder verschatten.

    Statt die Urteilskraft auf geschichtsmächtige Politikbegriffe umzulegen, wird sie von einer nebulösen "metaphysischen Nostalgie" umhüllt. Das mag durchaus gegen die Listen des Vorurteils und die Fallen der "Vulgarisierung" immunisieren. Getrennt von der Matrix der "Massenkommunikation" indes bleibt jene fabelhafte Kompetenz das Betriebsgeheimnis elitärer Zirkel. Alle anderen werden aus dem "Jenseits des Rassismus", das Taguieff so wortgewandt beschwört, ausgeschlossen.

    Das war Khosrow Nosratian über "Die Macht des Vorurteils. Der Rassismus und sein Double" von Pierre André Taguieff: Das 618 Seite starke Buch ist in der hamburger edition des Instituts für Sozialforschung in der Hansestadt erschienen. Übersetzt wurde es von Astrid Geese. Es kostet 68 DM.