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Pierre Bourdieu zum 70. Geburtstag

"Es gibt eine neue Art, sich in die Politik einzumischen, ohne Politik machen zu wollen. Es geht nicht darum, Politiker zu werden, ganz im Gegenteil. Wir müssen außerhalb der Institutionen bleiben, aber auf sie einwirken, und zwar mit angemessenen und wirkungsvollen Methoden."

Sabine Günther | 01.08.2000
    Pierre Bourdieu ist wieder da! Natürlich war er nie verschwunden, denn er besetzt schließlich seit über dreißig Jahren einen der herausragendsten Plätze im französischen Wissenschaftsbetrieb und hält das Reden und Streiten über ihn mit immer wieder neuen, Schlag auf Schlag erscheinenden, Publikationen zu soziologischen, philosophischen und politischen Themen permanent am Kochen.

    Bourdieu war schon immer da, aber noch nie war er so bekannt und populär wie heute, noch nie so unumstritten Leitfigur und Übervater, wie er es seit kurzem für viele junge kämpferische Intellektuelle in Frankreich ist.

    Gönnen wir Pierre Bourdieu diesen späten Triumph, der seine brillante und ebenso konfliktreiche Akademikerlaufbahn beschließt und durch den die noch vor wenigen Jahren als Schimpfwörter gedachten Etiketts wie "dominanter Intellektueller" oder "absoluter Linker" in Ehrentitel verwandelt wurden.

    Für den Journalisten Serge Halimi war der "Fall Bourdieu", mit dem sich vor drei, vier Jahren auch die deutsche Presse beschäftigte, ohnehin nur ein weiterer Beweis für die Effekthascherei der Medien:

    "Das Interessante an Bourdieu, oder vielmehr am "Phänomen Bourdieu" ist, dass viele Journalisten und Kritiker, die nicht genau begreifen, was sich gegenwärtig in der französischen Gesellschaft tut, nicht nach den Ursachen und Wurzeln einer Protestbewegung, die radikale Forderungen aufstellt, suchen, sondern diese Entwicklung an eine einzige Person - Pierre Bourdieu - binden und ihm zuschreiben. Das erklärt, warum Bourdieu in den Medien einen so hervorragenden Platz einnimmt, und in Unterhaltungsblättern erscheint, in denen man nicht das Geringste über seine Theorie und sein Denken weiß. Bourdieu ist zur Inkarnation jeder etwas radikalen Kritik an der Gesellschaft geworden, die jedoch als solche nicht mehr analysiert wird, weil man ihre Hintergründe nicht versteht."

    Für Serge Halimi, Redaktionsmitglied von "Le Monde diplomatique", stellt der jüngste Aufschwung der linken Bürgerbewegung eine Antwort auf den politischen Zynismus dar, der während der Regierungszeit Frangois Mitterands herrschte und in dessen Folge die ursprünglichen Ideale und die Überzeugungskraft der traditionellen Linken verlorengingen. Auf diese Weise in Frankreich bereits vor ihrem neoliberalen Umschwenken in Misskredit geraten, wird diese Linke verdächtigt, heute weniger denn je in der Lage zu sein, Europapolitik und globales Wirtschaften mit sozialer Gerechtigkeit zusammenzubringen. Es war offensichtlich nur eine Frage der Zeit, dass sich die jüngere Generation linker Intellektueller von Kommunisten, Sozialdemokraten und den linken Parteien nahestehenden Gewerkschaften abstieß und ihr eigenes Konzept einer "militanten Linken" entwickelte. Früdöric Lebaron, Soziologe, Bourdieu-Schüler und Mitbegründer des Vereins "Raison d'agir":

    "Mit "Raison d'agir" wollten wir ein intellektuelles Kollektiv ins Leben rufen, das mit den ihm zur Verfügung stehenden spezifischen Mitteln in die Lage versetzt wird, wirksam in die öffentliche Dikussion einzugreifen. Es geht uns um eine höhere, dauerhaftere und systematische öffentliche Wirksamkeit. Das Kollektiv ist zwar aus der Streikbewegung von 1995, der Kritik am Neoliberalismus mit seinem weltweit funktionierenden wirtschaftlichen Mechanismus heraus entstanden, aber unsere Zielvorstellungen gehen weit darüber hinaus: wir denunzieren den Druck, den die wirtschaftliche Macht auf die intellektuelle und die kulturelle Produktion, auf alle künstlerischen Felder ausgeübt, und wollen eine kollektive Gegenkraft schaffen, mit der wir die Autonomie der intellektuellen'Produzenten, der Wissenschaftler, Künstler, Philosophen usw., verteidigen können."

    Das Vorbild des politisch engagierten Intellektuellen ist nicht mehr Jean-Paul Sartre, der als militanter Linker zu allem und jedem Stellung bezog, sondern es sind Michel Foucault und Pierre Bourdieu, die meinen, dass man dies auf "spezifische" bzw. "kollektive" Weise tun müsse. Im Postskriptum seines 1999 im Suhrkamp-Verlag erschienenen Buchs "Die Regeln der Kunst" stellt Pierre Bourdieu in Weiterführung des Foucaultschen Gedankens Leitlinien für einen "Korporatismus des Universellen" vor. Von der Sorge um die Sicherung der Autonomie intellektueller Produktion und Distribution getragen, fordert Bourdieu die Kulturproduzenten dazu auf, sich darüber klar zu werden, dass durch die zunehmende Durchdringung der Welt der Kunst und der des Geldes ihre Autonomie ernsthaft in Gefahr geraten ist. Um politische Einmischung jedoch originell und wirkungsvoll gestalten zu können, sind Phantasie und Militantismus gefragt, die nicht gerade zu den starken Seiten der Geisteswissenschaftler zählen. Pierre Bourdieu nennt den in New York lebenden deutschen Konzeptkünstler Hans Haacke als Vorbild:

    "Ich glaube, Hans Haacke ist ein Genie in der Erfindung von Provokationen, in der Erfindung von Werken und Aktionen, die zum Nachdenken zwingen. Seine Arbeiten sind sensationell, weil sie den Betrachter verunsichern und ein alternatives Denken und Handeln aufzeigen.

    Für mich ist das ein Talent, das sich nicht übertragen lässt. Leider sind die meisten Denker nicht sehr begabt dafür. Sie können Ideen formulieren, Zustände analysieren, aber sie sind nicht in der Lage, sie in Ereignisse, die einen wirklich berühren, rückzuübersetzen. Ich glaube, politisch ist es von großem Interesse, gerade solche Aktionen zu entwickeln, um insbesondere die Mächtigen, und die Menschen überhaupt aufrütteln zu können."

    Ein Soziologe kann, das hat Pierre Bourdieu zeitig begriffen, nicht beliebt sein, weil er in das Getriebe der Gesellschaft hineinschaut und Dinge ans Tageslicht bringt, die man lieber nicht so genau gewusst hätte. Als er in den fünfziger Jahren studierte, war die Soziologie ein Nebenfach der Humanwissenschaften, dass für die soziale Analyse komplexen gesellschaftlicher Zusammenhänge kaum in Frage kam. Bourdieu wurde Philosoph und, im Fahrwasser des von Claude Lévi-Strauss entwickelten philosophischen Strukturalismus, Ethnologe. 1958 absolvierte er seinen Militärdienst in der damals noch französischen Kolonie Algerien und begann mit Feldarbeiten über die Kabylen, einen Berberstamm in Nordalgerien. Nachdem er in der Ferne erste Forschungsergebnisse zu Verwandschafts- und Heiratsstrukturen in bäuerlichen, subproletarischen Milieus gesammelt hatte, verlegte Bourdieu die Arbeit in seine französische Heimatregion, den Béarn.

    Er erkannte, dass nicht nur die Bauern der Kabylei, sondern auch die des Böarn nach Regeln leben, die sich historisch erklären lassen und die Betroffenen in ein konfliktreiches soziales Beziehungsnetz einspannen, und dass dies - und damit ging er noch einen weiteren Schritt über den Strukturalismus hinaus - ebenso für ihn selbst als Beobachter dieser fremden Welt gilt. Der Wissenschaftsjournalist Didier Eribon:

    "Das was sich bei Bourdieu zeigt, ist der Versuch, die Grenzen zwischen Ethnologie und Soziologie aufzuheben. Wenn man sich eines seiner letzten, vieldiskutierten Bücher "La domination masculine" - Die männliche Herrschaft - ansieht, besteht der erste Teil aus ethnologischen Studien über die Kabylei, während der zweite Teil rein soziologisch ist. Dieses Nebeneinander zweier unterschiedlicher Disziplinen lässt Bourdieus Absicht erkennen, deren Grenzen zu verschieben bzw. aufzuheben. Ich glaube sogar, dass Bourdieu diese Abgrenzungen einmal als für die Wissenschaft "ruinös" bezeichnet hat."

    Pierre Bourdieu nennt sich selbst einen "strukturalistischen Konstruktivisten" bzw. umgekehrt einen "konstruktivistischen Strukturalisten". Er betont immer wieder, dass es für ihn in der sozialen Welt objetive Strukturen gibt, die durchaus in der Lage sind, das, was wir tun und denken, zu leiten und zu begrenzen. Unsere Wahrnehmungen, unser Denken und Handeln ist sozial bestimmt und prägt unseren, von Bourdieu so genannten "Habitus". "Feld", "Habitus", "Kapital", "Disposition" - alle diese Begriffe sind von Pierre Bourdieu wenn auch nicht erfunden, aber im Interesse seines theoretischen Konzepts: der Begründung einer "allgemeinen Anthropologie", ausgeführt und Buch für Buch weiterentwickelt worden. Eine wirkliche Theorie der Praxis müsste idealerweise in der Lage sein, gleichzeitig die unserem Handeln objektiv zugrundeliegenden Strukturen und das Bild, das wir uns subjektiv, von uns und der uns umgebenden Welt machen, zu erfassen.

    "Die soziale Welt ist weitaus starrer, unbeweglicher, als allgemein gesagt wird. Nehmen Sie eine Institution wie das Schulsystem, das man als eine Quelle der Mobilität, der Veränderung beschrieben hat.'Es gab in Frankreich eine linke soziologische Bewegung, die sich "6cole lib6ratrice" nannte und die das Schulsystem so beschrieb, als eröffnete es jedem die Möglichkeit, sich frei zu entwickeln und jede mögliche Position zu erlangen, wenn man nur intelligent genug ist.

    Ich habe damals gezeigt, dass das nicht stimmt. Das Schulsystem trägt wesentlich zur Reproduktion von Ungleichheit bei. Muss man aber daraus den Schluss ziehen, dass alles fatal und festgefahren ist? Keineswegs! Die reproduzierende Schule ist heute paradoxerweise zu einem der wichtigsten Faktoren für die gesellschaftliche Veränderung geworden."

    Schule und Universität sind Themen, die in Bourdieus Werk seit Anfang der sechziger Jahre eine zentrale Rolle spielen. Die aus den Untersuchungen zum Schulsystem hervorgegangenen, gemeinsam mit Jean-Claude Passeron veröffentlichten Bücher "Les Héritiers" (1964) und "La Reproduction" (1970), auf deutsch unter dem Titel "Die Illusion der Chancengleichheit" erschienen, wirkten vor zwanzig Jahren wie ein Radikalen-Anschlag auf die höchsten Werte der Republik.

    Bourdieu begnügte sich aber nicht damit, das Bildungssystem von innen heraus zu kritisieren, sondern machte sich als Repräsentant des Berufsstands "Universitätsprofessor" ebenfalls zum Gegenstand der Kritik. In dem 1992 auf deutsch erschienenen Buch "Homo academicus" widmete er sich detailliert der Struktur des universitären Feldes und brach mit seiner Lesart der dort stattfindenden Machtkämpfe ein weiteres Tabu: der "Homo academicus" ist das ganze Gegenteil eines selbstlos der Wissenschaft ergebenen Denkers; vielmehr kümmert er sich in erster Linie um seinen sozialen Aufstieg innerhalb eines streng hierarchisch gegliederten Milieus und um die Erlangung von Macht, um später wiederum auf andere Macht ausüben zu können:

    "Als ich vor zwanzig Jahren mit meinen Untersuchungen zum wissenschaftlichen Feld begann, gab es noch keine wirkliche Wissenschaftssoziologie. Man hatte eine ziemlich idyllische Vorstellung von der Wissenschaftswelt. Sogar Murton, ein bedeutender Wissenschaftssoziologe, sprach vom "Kommunismus der Gelehrten". Ich zeigte dann, dass es auch in diesem Bereich durchaus Machtkämpfe, dass es Herrscher und Beherrschte gibt und die Wissenschaftler Kapital akkumulieren, auch wenn dieses Kapital natürlich ein spezifisches ist. Gleichzeitig versuchte ich zu zeigen, dass das wissenschaftliche Feld aufgrund seiner Funktionsweise Regeln erzeugt, die die Wissenschaftler dazu zwingen, sich rational zu verhalten. Anders ausgedruckt: die Vernunft sitzt nicht, wie Habermas sagt, in der Sprache oder in den Köpfen der Menschen, sondern in den sozialen Strukturen, und die wissenschaftliche Welt ist so organisiert, dass jeder, selbst Persönlichkeiten, die menschlich verachtenswert sind, Regeln unterworfen sind, die sie dazu zwingen, ihren Gegner zu respektieren."

    "Pierre Bourdieu war sich schon in "Homo academicus" der Zweischneidigkeit seines Unternehmens bewusst, eine Institution zum Gegenstand der kritischen Analyse zu machen, deren "Spiel" er selbst mitspielt. Obwohl er sich gegen den Verlust an Objektivität unter anderem mithilfe eines komplexen und dadurch schwerfälligen Bgriffsapparates abzusichern sucht, bleibt der sich selbst therapierende Soziologe eine zwiespältige Figur.

    Wahrscheinlich deshalb unternahm er in seiner 1997 erschienenen wissenschaftlichen und bisher noch nicht ins Deutsche übersetzten Autobiographie "M6ditations pascaliennes" erneut den Versuch, sich, mit einem Wort von Gaston Bachelard, zu "desubjektivieren". Der insistierende, zum Teil hochfahrende Grundton des Buchs verrät, auch wenn es an keiner Stelle gesagt wird, dass die Zeit der kritischen Stellungnahmen zu Bourdieus Gesamtwerk gekommen ist.

    Pierre Bourdieu, der zweifellos die Grundlagen für eine Theorie der sozialen Welt gelegt hat und nach wie vor einer der bedeutendsten internationalen Vertreter seines Fachs ist, stößt mit seinem Denken in Makrostrukturen, seinem System-Korsett von Macht- und Herrschaftskorrelationen immer deutlicher an seine theoretische Grenze.

    Das zeigt sich unter anderem in einem seiner letzten Bücher "La domination masculine", 1998 in Frankreich erscheinen und beim Suhrkamp-Verlag unter dem Titel "Die männliche Herrschaft" in Vorbereitung. Ausgehend von frühen ethnographischen Untersuchungen zur kabylischen Männergesellschaft schließt der Soziologe kurzerhand auf die sexistische Machtstruktur westlicher Zivilisationen, die seiner Meinung nach noch von niemandem vor ihm in dieser Schärfe festgestellt worden ist. Den Frauen ist aus historischen und sozialen Gründen nicht zu helfen - so ihr "Anwalt" Pierre Bourdieu -, der auch in den feministischen Vorstößen zur Neuverteilung der Macht nur Stückwerk sieht, das er im Großen und Ganzen zum Scheitern verurteilt glaubt.

    In "La domination masculine" und noch sichtbarer in seinem neusten, im Frühjahr 2000 erschienenen Buch "Les structures sociales de l´économie" handelt Pierre Bourdieu i wesentlichen Forschungergebnisse ab, die wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unter seiner Leitung zusammengetragen haben.

    Obwohl er die Resultate mit Hilfe des eigenen theoretischen Überbaus zu bündeln und zuzuspitzen weiß, bleibt nach der schweren Lektüre immer öfter der Eindruck zurück, dass man Bourdieus Kapitalismuskritik, seine Forderungen nach historisch haltbaren Modellen der sozialen Welt nun oft genug gelesen und wiedergelesen hat.

    Dass dies keine Sinnestäuschung ist, beweist die schwindelerregende Zahl von 1400 Veröffentlichungen Pierr Bourdieus, die an der Universität Linz bis Ende September 1999 gezählt worden sind. ___"Ich habe zum Künstlerkreis um Mallarme', Verlaine, aber auch zu den Impressionisten gearbeitet. Der Einfluss der an die soziale Herkunft gebundenen Dispositionen ist erstaunlich groß! Nehmen Sie Degas und Manet, die beide aus demselben, gering voneinander abweichenden bürgerlichen Milieu stammen: sie unterscheiden sich sowohl in ihrer Malweise als auch in ihren Beziehugen zu anderen Malern, eindeutig von Künstlern, die, wie Renoir und Monet, aus becheidenen Verhältnissen kommen. (... ) Das heisst nicht, dass man den revolutionären Aspekt dieser Künstler nicht erklären könnte. Manet hat zum Beispiel eine wirklich revolutionäre Leistung vollbracht, die man sehr gut erklären kann. Die Bindung an bestimmte Strukturen verhindert nicht, dass diese Strukturen veränderbar sind. Es gibt sogar bestimmte Konstellationen, in denen die Strukturen Veränderungen begünstigen."

    In den "Regeln der Kunst", auf deutsch 1999 im Suhrkamp Verlag erschienen, wird die Feldtheorie für die Erklärung des autonomen künstlerischen Feldes, seiner Herausbildung und Funktionsweise, aktiviert, um - so Bourdieu - die Kurzschlüsse zwischen Individualbiographie und Werk sowie die Irrtümer einer rein intertextuellen Analyse zu vermeiden. Anhand des Flaubertschen Romans "Die Erziehung des Herzens" unternimmt er die Rekonstruktion des sozialen und künstlerischen Feldes, wie es sich in Paris um die Mitte des 19. Jahrhunderts dargestellt haben muss.

    Im Zuge der Ausdifferenzierung sozialer Modelle und Praktiken wurde das künstlerische Feld um diese Zeit herum autonom und entwickelte seine eigene Logik, die auf der besonderen Beschaffenheit der symbolischen Güter gründet. Es enstand das freie Künstlertum und eine weitere Berufsgruppe, die es bis dato noch nicht gegeben hatte: die Intellektuellen. Der Intellektuelle ist ein paradoxes Wesen, das zur autonomen Welt der Kunst gehört bzw. aus ihr hervorgegangen ist, und nun versucht, mithilfe seiner spezifischen Autorität in das politische Leben einzugreifen. Soweit die Theorie. In der Praxis war das Selbstverständnis der Intellektuellen jedoch niemals homogen und in stärkstem Maße vom Zeitgeist geprägt. Während Bourdieu in den Achtziger Jahren seinen "politisch eingreifenden Intellektuellen" wie Sauerbier anbot, fiel man ab Mitte der neunziger Jahre geradezu über ihn her. Eine neue Generation linker Intellektueller wollte gesellschaftlich aktiv werden und eine kollektiv handelnde politische Gegenkraft zum staatlich etablierten Neoliberalismus schaffen. Sie entdeckten Bourdieus marxistisch orientierte Soziologie wieder und in seinen Büchern Grundforderungen wie diese, dass der Zugang zum Universellen nicht nur einer kleinen Schicht von Leuten, sondern allen Menschen zugesichert werden muss.

    Bourdieus jahrzehntelanges politisches Engagement, seine editorische Tätigkeit als Herausgeber international viel beachteteter Revuen wie "Actes de la Recherche en Sciences sociales" und seit 1990 "Liber", wurde endlich gewürdigt. Die Intellektuellen um "Raison d'agir" gründeten einen eigenen Verlag, in dem als eines der ersten Bücher Bourdieus Pamphlet "Über das Fernsehen", auf deutsch im Suhrkamp Verlag, und 1998 eine weitere Streitschrift unter dem Titel "Gegenfeuer", auf deutsch im Universitätsverlag Konstanz, erschien. Gemeinsam mit Pierre Bourdieu waren sie bei den Streiks im Winter 1995/96 gegen die Sozialreformpläne der Juppé-Regierung mit dabei und zogen 1998 mit streikenden Arbeitslosen durch die Arbeitsämter. Aus dem harten Kern der "Bourdesiens" entstand in kürzester Frist ein dichtes, inzwischen weltweit gespanntes Aktions- und Informationsnetz zur Verteidigung der Autonomie intellektueller Produzenten, für soziale Gerechtigkeit und solidarisches Wirtschaften.

    Da heute "spezifisches" Eingreifen gefragt ist, kümmern sic die Geisteswissenschaftler um "Raison d'agir" nicht um den Kampf gegen genmanipulierten Mais oder den Erhalt bestimmter Käsesorten - das macht besser die Bauernliga und der seit Seattle zum Volkshelden aufgestiegene José Bové.

    ATTAC - eine weitere Vereinigung, die ursprünglich gegründet wurde, um die Besteuerung von Devisentransaktionen durchzusetzen, ist inzwischen weit über ihre Gründungsidee hinausgewachsen und unterhält überall in Frankreich zahllose Zweigstellen einer basisdemokratischen Bürgerbewegung, die es mit der Bourdieuschen "Realpolitik der Vernunft" ernst meint und dafür sorgt, dass ihre Wahrheit gehört wird. Dazu Bourdieu:

    "Ich denke, dass sich die Vernunft durchsetzt, weil sich immer häufiger kleine Strukturen, Räume bilden, in denen die universellen Gesetze vernünftig gehandhabt werden."