Jean Rudolf von Salis sprach Klartext, als er im Jahre 1961 vor geladenen Gästen und also unter Ausschluss der Öffentlichkeit seine Rede "Die Schweiz im Kalten Krieg" hielt; bis Ende der sechziger Jahre scheute er die Veröffentlichung dieses Textes, in dem er die "eidgenössische Biederkeit" und die "antikommunistische Angstpsychose" anprangerte, jenen Ungeist, der sich im "Niederknüppeln missliebiger Leute" äußerte. Aber seit dieser sogenannten Stapferhaus-Rede, resignierte von Salis 1983, "bin ich in bürgerlichen Kreisen suspekt". Und im hohen Alter von 90 Jahren konstatierte er: "Kurz, das politische Bürgertum hat mich nie akzeptiert."
Ein aufmerksamer und aufrichtiger Zeitzeuge des Jahrhunderts, wuchs Jean Rudolf von Salis in zwei Muttersprachen auf, war ein Jahrzehnt Korrespondent schweizerischer Zeitungen in Paris, promovierte an der Sorbonne und wurde Lehrstuhlinhaber in Zürich, seine vielbändige "Weltgeschichte der neuesten Zeit" legt davon Zeugnis ab. Ambivalenz mag das Schlüsselwort dieser Biographie sein: Ein Europäer, lange bevor Europa zur Parole wurde (lästige Bürokratie eingeschlossen), blieb von Salis im Kern ein Schweizer mit urdemokratischen Anwandlungen. Ein Citoyen und Intellektueller, litt er unter der Wagenburg-Mentalität des ihn ausgrenzenden ideologisch-konservativen Establishments, das den Einzelnen zwinge, als Partisan zu leben und zu wirken. Mit Engagement hatte er zur Geistigen Landesverteidigung gegen die Bedrohung durch Hitlers Deutschland gestanden, genauso entschieden aber die Formierung einer neuen geistigen Landesverteidigung in Zeiten des Kalten Krieges bekämpft. Ihm wollte nicht einleuchten, "dass in der Schweiz der 'Kalte Krieg’ mit mehr Leidenschaft geführt wird als in den NATO-Staaten." Die schweizerische politische Wirklichkeit sah er "in einem argwöhnischen Konformismus steckengeblieben", die Folklore habe vom schweizerischen Gemeinschaftsleben Besitz ergriffen.
"Nach dem Krieg erwachte ich als berühmter Mann", zeigte von Salis sich in den "Notizen eines Müßiggängers" überrascht. Während des Zweiten Weltkriegs hatte der Professor gleichsam im Regierungsauftrag und im Sinne journalistischer Landesverteidigung jeden Freitag über Radio Beromünster seine "Weltchronik" gesprochen, einen gelassen-distanzierten Kommentar über die Wirklichkeit des Krieges gegen die Nazi-Propaganda aus Berlin. Das Echo in Deutschland und Österreich war groß. Einerseits sahen viele in ihm eine Stimme der offiziellen Schweiz, auf der anderen Seite musste er sich der Zensur anpassen und wurde tatsächlich bis zum Jahre 1986 45 Jahre lang wie Tausende anderer Schweizer Bürger als vermeintlich potentieller Landesverräter von der Bundespolizei überwacht. Die nationale Institution als obversierte Subversion.
Soweit Heinz Klunker. Der zweisprachige Band "Jean Rudolf von Salis, die Intellektuellen und die Schweiz - Jean Rodolphe de Salis, les intellectuels et la Suisse" wird von Pierre Ducrey und Hans Ulrich Jost herausgegeben. Er ist im Züricher Chronos Verlag erschienen, hat 144 Seiten und kostet 21,80 Euro.