Auch die nächste Neuerscheinung, die wir Ihnen vorstellen möchten, kreist um das Thema Gefangenschaft. "Das Jahrhundert der Lager", so ihr Titel, versucht sich an dem in jeder Hinsicht monströsen Unterfangen, die Geschichte von Konzentrations-, Internierungs- und Vernichtungslagern seit 1896 zu rekapitulieren - und das nicht nur weltweit, sondern zudem auch gänzlich ohne den Versuch, aus den Erkenntnissen über Parallelen und Unterschiede der einzelnen Lagerregime ideologisches Kapital zu schlagen. Hören Sie eine Rezension von Günter Müchler:
Ein wütender Anti-Antikommunismus verhinderte jahrzehntelang, dass Kommunismus und Nationalsozialismus in einem Atemzug genannt wurden. Wer es trotzdem tat, sah sich rasch als Revisionist abgestempelt. Günstigstenfalls bescheinigt man ihm, nicht auf der Höhe der Zeit zu sein.
Diese Abwehrhaltung hatte zwei Gründe: Erstens sollte jeder Versuch unterbunden werden, die NS-Verbrechen dadurch zu verharmlosen, dass sie gegen andere, ähnlich monströse Verbrechen aufgerechnet wurden. Zum anderen ging es darum, die im Namen des Kommunismus begangenen Menschheitsverbrechen als etwas Vergangenes, als eine Verirrung hinzustellen, die die Utopie nicht wirklich diskreditierte.
Nach dem ruhmlosen Untergang des kommunistischen Weltsystems ist diese hermetische Verriegelung mehr und mehr durchbrochen worden, unter anderem durch aufklärende Werke wie Francois Furets "Das Ende der Illusion" oder das von französischen Forschern 1997 publizierte "Schwarzbuch des Kommunismus". Dennoch begegneten Furet und den Autoren des Schwarzbuchs heftigen Anfeindungen, wobei auch der tumbe Vorwurf, die Befassung mit Verbrechen kommunistischer Provenienz werde das rechte Lager stärken und müsse daher unterbleiben, nicht fehlen durfte.
In wissenschaftlicher Hinsicht war dieser Einwand niemals ernst zu nehmen. Schon gar nicht taugt er, die Wiedereinsetzung einer Theorie zu unterbinden, die zur Entschlüsselung des 20. Jahrhunderts außerordentlich ertragreich ist, der Totalitarismustheorie. Sie war im letzten halben Jahrhundert wechselnden Konjunkturen unterworfen. Nach dem Krieg wusste man, nicht zuletzt in Deutschland, dass man es in Gestalt von Faschismus/Nationalsozialismus einerseits, dem sowjetischen Kommunismus andererseits, mit zwei spezifisch neuen Herrschaftsformen zu tun hatte.
Bis dann die 68er kamen. Entgegen einer geschönten Rücksicht waren sie keineswegs bedingungslose Aufklärer. Sie waren im Gegenteil höchst effektive Tabuaufrichter, die alle, die es unternahmen, die großen Totalitarismen miteinander zu vergleichen, ob Hannah Arendt, C.J. Friedrich oder Talmon, mit dem Bann des Unzeitgemäßen und Reaktionären belegten. Es bedurfte erst der französischen Neuen Philosophen und schließlich des Falles der Mauer, um den Totalitarismusbegriff als Schlüssel zur Dechiffrierung des Jahrhunderträtsels wieder hoffähig zu machen.
Das ist der Grund, weshalb ein Buch wie "Das Jahrhundert der Lager" wohl erst jetzt geschrieben werden konnte. Es ist noch nicht lange her, dass respektable Nachschlagwerke wie die "Britannica" oder der "Larousse" des 20. Jahrhunderts von der Existenz des GULag kaum Notiz nahmen. Ebenso ist noch gut in Erinnerung, welch kühler Ablehnung Alexander Solschenizyn begegnete, als er den Westen mit der Topographie des Gulag vertraut machte. Gerade in der auf Konvergenz gestimmten Bundesrepublik, die sich um jeden Preis gewaltige Reformfortschritte in den Staaten des Realsozialismus einreden wollte, erschienen Solschenizyns Gulag-Berichte wie Störmanöver eines verbitterten Rückschrittlers.
Dabei war das sowjetische Lagersystem keineswegs etwas Unbekanntes. Bekannt war auch, dass es beileibe keine Erfindung Stalins war. Im August 1918 verlangte Lenin, "zwielichtige Personen" in Konzentrationslagern außerhalb der großen Städte unterzubringen. Zu Zeiten Lenins waren in derartigen Lagern gleichzeitig etwa 150.000 Personen untergebracht. Auf dem Höhepunkt des stalinistischen Terrors stieg die Zahl auf etwa 2,5 Millionen an.
Das sind Schätzungen von Joel Kotek und Pierre Rigoulot, den Verfassern des "Jahrhunderts der Lager". Die Autoren, der eine Zeithistoriker aus Brüssel, der andere aus Paris, verfahren bei allen Zahlenangaben eher zurückhaltend. Sie setzten sich, wo es ihnen angebracht erscheint, von stärker extrapolierenden Angaben eines Robert Conquest oder auch entsprechenden Passagen im Schwarzbuch ab, obgleich Rigoulot an letztem mitgearbeitet hat.
Überhaupt geht es dem Autorenteam vorrangig um Systematisierung. Hier liegt auch der eigentliche Wert des Buches. Kotek und Rigoulot beginnen mit der Unterscheidung zwischen Gefängnis und Lager. Während sich in der Regel in Gefängnissen Menschen befinden, die von der Justiz verurteilt sind, zeichnen sich die Lager gerade dadurch aus, dass die Insassen Verdächtige oder "Schädlinge" im Sprachgebrauch der Herrschenden sind. Geführt werden die Lager nicht von der Justiz, sondern von Sonderpolizeien, der Tscheka, später GPU und NKWD im Falle der Sowjetunion, in Nazi-Deutschland der Gestapo.
Doch es gibt andere, weniger formale Besonderheiten der Lager.
"Als Willkürherrschaft zielt das Konzentrationslager auf die Massen, auf das kollektive Individuum. Seine Funktion besteht darin, weniger Individuen als vielmehr Mitglieder 'nationaler?, 'rassischer? oder 'gesellschaftlicher? Gruppen, die per Definition Verdächtige oder Schädlinge sind, massenhaft zu konzentrieren."
Kotek und Rigoulot unterscheiden drei Typen von Lagern: Isolierungslager, Konzentrationslager und Zentren der Vernichtung oder sofortigen Tötung. Aufgabe der Internierungslager ist die vorübergehende Isolierung Verdächtiger. Zu dieser Kategorie zählen laut Kotek und Rigoulot Lager, in denen in Kriegszeiten Angehörige feindlicher Nationen gefangen gehalten werden. Oft ist ihr Hintergrund ein Kolonialkrieg; die Autoren erwähnen in diesem Zusammenhang die Unterdrückung und weitgehende Vernichtung des Hererostammes durch die deutsche Kolonialmacht nach dem Aufstand des Jahres 1904. Die Konzentrationslager bilden nach Ansicht der Autoren...
"die zentrale Kategorie, den Kern des Phänomens totalitärer Lager, seien es die NS-Lager, der GULag oder die kommunistischen Konzentrationslager Asiens unter anderem der Laogai. Sie zeichnen sich durch Erniedrigung, Umerziehung, Zwangsarbeit und Vernichtung aus. Und sie spielen für das jeweilige Regime, das sie hervorgebracht hat, eine substantielle Rolle. Als Instrument des Terrors und der Umgestaltung der Gesellschaft sind sie auf Dauer angelegt."
In autoritären Staaten, in Diktaturen, stellen die Lager Provisorien dar. Denn das Trachten von Diktatoren ist auf Unterwerfung der Massen gerichtet, nicht auf Veränderung des Menschen. Hingegen sind die Lager in totalitären Staaten eine Dauereinrichtung mit einer Ideologie als Grundlage.
"Das Ziel, die menschliche Natur zu verändern und einen neuen Homo sapiens zu schaffen, unterscheidet den Totalitarismus von klassischen autoritären Systemen. Dazu werden alle verfügbaren politischen und wirtschaftlichen Zwangsmittel eingesetzt. Um dieses Ziel zu erreichen, fungiert als einziges Instrument eine aus einer Minderheit bestehende Partei, eine Elite, die sich dank eines angeblich überlegenen Bewusstseins zur Führung der Massen berufen fühlt."
Umerziehungslager nach dieser Definition gibt es von Beginn an in der Sowjetunion. Auch in den frühen Nazi-Konzentrationslagern findet sich der Gedanke der Umerziehung. Die berüchtigte Dachau-Parole "Arbeit macht frei" lässt nach Auffassung der Autoren die Wahl, so genannte Volksfeinde auszuschalten oder sie auf den rechten Weg zu bringen. Ähnlich ist die Aufgabenstellung der Laogai, der chinesischen Straflager. Kotek und Rigoulot zitieren Mao Zedong aus seiner Schrift "Von der richtigen Behandlung der Widersprüche im Volke":
"Wir werden sie zwingen, sich den Gesetzen der Volksregierung zu unterwerfen, wir werden sie zur Arbeit zwingen, damit sie sich durch Arbeit in neue Menschen verwandeln."
Den dritten Typus der Lager bilden die Zentren zur Vernichtung und zur sofortigen Tötung. Als solche führen die Autoren Belzec, Chelmno, Sobibor und Treblinka auf sowie Auschwitz-Birkenau und Majdanek. Die Nazis selbst sahen in diesen Todesfabriken nicht Konzentrationslager (KL oder KZ), sie bezeichneten sie vielmehr als Sonderkommandos (SK). So kommen Kotek und Rigoulot zu dem Schluss, dass sich die Shoah paradoxerweise außerhalb des eigentlichen KZ-Systems vollzogen habe.
"Als Endstationen der Eisenbahnen dienten diese Stätten, die wir als Vernichtungszentren oder mit Raoul Hilberg als Zentren zur sofortigen Tötung bezeichnen werden, nicht zur Aufnahme von Internierten, sondern zur Vernichtung durch Gas nach der Ankunft. In Treblinka, wo nicht selten täglich 9000 Juden ankamen, gab es keine Infrastruktur, die ihre Unterbringung oder Ernährung über 24 Stunden hinaus ermöglicht hätte. Treblinka diente einer einzigen Aufgabe: der Vernichtung der Juden Europas."
Die Autoren lassen keinen Zweifel daran, dass die genannten sechs Todesfabriken historisch ohne Beispiel sind. Vor diesem Hintergrund nennen sie die These des deutschen Geschichtsphilosophen Ernst Nolte, der GULag sei vor den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten da gewesen, unsinnig.
"Der Hinweis, wonach der GULag vor Auschwitz existiert habe, ist nicht falsch, aber aus mindestens zwei prinzipiellen Gründen überflüssig: Zunächst einmal, weil sich die Shoah, die Vernichtung der Juden, strictu sensu außerhalb des nationalsozialistischen KZ-Systems vollzog, und vor allem deshalb, weil es im GULag für die nationalsozialistischen Vernichtungszentren keine Entsprechung gab."
Hannah Ahrendt stufte die Konzentrationslager je nach dem Grad des Schreckens und der Tortur in drei Kategorien ein, Hades, Fegefeuer und Hölle. Kotek und Rigoulot fügen eine weitere Kategorie ein, die Gehenna, als Bezeichnung für die Vernichtungszentren. Dreißig Seiten verwenden die Autoren auf die Klassifizierung der Lager, weitere 650 Seiten sind der Schilderung vorbehalten. Es ist eine schaurige Jahrhundert-Revue. Die Geschichte der Lager beginnt für Kotek und Rigoulot 1896 auf Kuba mit der Konzentrierung der rebellischen Landbevölkerung durch die Spanier. Nächste Station sind die Lager der Briten im Burenkrieg; es folgen die Lager der Hereros und die, die dem Völkermord an den Armeniern dienen. Naturgemäß nimmt die Schilderung des GULag und der Nazi-Lager den breitesten Raum ein. Aber damit ist die Chronologie der Jahrhundert-Lager noch keineswegs zu Ende. Unter die Lupe genommen wird die Rolle, die die Lager im Reiche Maos spielen, werden aber auch die Internierungslager für französische Kollaborateure, die Lager Castros und die der chilenischen und argentinischen Generäle. Den Archipel des Schreckens runden die Konzentrationslager in Ex-Jugoslawien ab.
Man möchte das "Jahrhundert der Lager" nicht gerade ein lesenswertes Buch nennen. Das verbietet der finstere Gegenstand. Aber es ist ein wichtiges Buch. Die Schwächen, die es aufweist, sind Schwächen der Quellenlage, die eigentlich nur hinsichtlich des NS-Lagersystems befriedigend ist. Trotzdem gelingt eine alles in allem überzeugende Gesamtschau, die notwendige Differenzierung eingeschlossen. Die Autoren erbringen den Beweis, dass die Methodik des Vergleichs Unterschiede nicht sachwidrig nivelliert, sondern erst sichtbar macht. Überzeugend ist auch der nüchterne, fast buchhalterische Stil. Nur am Ende, als es um den "Grundwahnsinn der Vernichtungszentren" geht, lassen sich die Autoren für einen Moment ins Herz schauen.
"Den Historiker schwindelt, weniger wegen des Grauens selbst, als vielmehr wegen der Fähigkeit, solches Grauen hervorzubringen... Auch gibt es Grund zum Weinen. Aus Mitleid über das Schicksal derer, die Martyrien erlitten und umkamen. Aus Wut und Scham beim Gedanken an die Täter. Denn alle sind Menschen, so wie wir. Und die Verantwortlichkeit der einen trifft bis ans Ende der Zeiten alle anderen im tiefsten Innern."
Günter Müchler über Pierre Rigoulot, Joel Kotek: Das Jahrhundert der Lager. Gefangenschaft, Zwangsarbeit, Vernichtung. Das Buch ist veröffentlicht im Propyläen Verlag Berlin, umfasst 768 Seiten und kostet EUR 35.
Ein wütender Anti-Antikommunismus verhinderte jahrzehntelang, dass Kommunismus und Nationalsozialismus in einem Atemzug genannt wurden. Wer es trotzdem tat, sah sich rasch als Revisionist abgestempelt. Günstigstenfalls bescheinigt man ihm, nicht auf der Höhe der Zeit zu sein.
Diese Abwehrhaltung hatte zwei Gründe: Erstens sollte jeder Versuch unterbunden werden, die NS-Verbrechen dadurch zu verharmlosen, dass sie gegen andere, ähnlich monströse Verbrechen aufgerechnet wurden. Zum anderen ging es darum, die im Namen des Kommunismus begangenen Menschheitsverbrechen als etwas Vergangenes, als eine Verirrung hinzustellen, die die Utopie nicht wirklich diskreditierte.
Nach dem ruhmlosen Untergang des kommunistischen Weltsystems ist diese hermetische Verriegelung mehr und mehr durchbrochen worden, unter anderem durch aufklärende Werke wie Francois Furets "Das Ende der Illusion" oder das von französischen Forschern 1997 publizierte "Schwarzbuch des Kommunismus". Dennoch begegneten Furet und den Autoren des Schwarzbuchs heftigen Anfeindungen, wobei auch der tumbe Vorwurf, die Befassung mit Verbrechen kommunistischer Provenienz werde das rechte Lager stärken und müsse daher unterbleiben, nicht fehlen durfte.
In wissenschaftlicher Hinsicht war dieser Einwand niemals ernst zu nehmen. Schon gar nicht taugt er, die Wiedereinsetzung einer Theorie zu unterbinden, die zur Entschlüsselung des 20. Jahrhunderts außerordentlich ertragreich ist, der Totalitarismustheorie. Sie war im letzten halben Jahrhundert wechselnden Konjunkturen unterworfen. Nach dem Krieg wusste man, nicht zuletzt in Deutschland, dass man es in Gestalt von Faschismus/Nationalsozialismus einerseits, dem sowjetischen Kommunismus andererseits, mit zwei spezifisch neuen Herrschaftsformen zu tun hatte.
Bis dann die 68er kamen. Entgegen einer geschönten Rücksicht waren sie keineswegs bedingungslose Aufklärer. Sie waren im Gegenteil höchst effektive Tabuaufrichter, die alle, die es unternahmen, die großen Totalitarismen miteinander zu vergleichen, ob Hannah Arendt, C.J. Friedrich oder Talmon, mit dem Bann des Unzeitgemäßen und Reaktionären belegten. Es bedurfte erst der französischen Neuen Philosophen und schließlich des Falles der Mauer, um den Totalitarismusbegriff als Schlüssel zur Dechiffrierung des Jahrhunderträtsels wieder hoffähig zu machen.
Das ist der Grund, weshalb ein Buch wie "Das Jahrhundert der Lager" wohl erst jetzt geschrieben werden konnte. Es ist noch nicht lange her, dass respektable Nachschlagwerke wie die "Britannica" oder der "Larousse" des 20. Jahrhunderts von der Existenz des GULag kaum Notiz nahmen. Ebenso ist noch gut in Erinnerung, welch kühler Ablehnung Alexander Solschenizyn begegnete, als er den Westen mit der Topographie des Gulag vertraut machte. Gerade in der auf Konvergenz gestimmten Bundesrepublik, die sich um jeden Preis gewaltige Reformfortschritte in den Staaten des Realsozialismus einreden wollte, erschienen Solschenizyns Gulag-Berichte wie Störmanöver eines verbitterten Rückschrittlers.
Dabei war das sowjetische Lagersystem keineswegs etwas Unbekanntes. Bekannt war auch, dass es beileibe keine Erfindung Stalins war. Im August 1918 verlangte Lenin, "zwielichtige Personen" in Konzentrationslagern außerhalb der großen Städte unterzubringen. Zu Zeiten Lenins waren in derartigen Lagern gleichzeitig etwa 150.000 Personen untergebracht. Auf dem Höhepunkt des stalinistischen Terrors stieg die Zahl auf etwa 2,5 Millionen an.
Das sind Schätzungen von Joel Kotek und Pierre Rigoulot, den Verfassern des "Jahrhunderts der Lager". Die Autoren, der eine Zeithistoriker aus Brüssel, der andere aus Paris, verfahren bei allen Zahlenangaben eher zurückhaltend. Sie setzten sich, wo es ihnen angebracht erscheint, von stärker extrapolierenden Angaben eines Robert Conquest oder auch entsprechenden Passagen im Schwarzbuch ab, obgleich Rigoulot an letztem mitgearbeitet hat.
Überhaupt geht es dem Autorenteam vorrangig um Systematisierung. Hier liegt auch der eigentliche Wert des Buches. Kotek und Rigoulot beginnen mit der Unterscheidung zwischen Gefängnis und Lager. Während sich in der Regel in Gefängnissen Menschen befinden, die von der Justiz verurteilt sind, zeichnen sich die Lager gerade dadurch aus, dass die Insassen Verdächtige oder "Schädlinge" im Sprachgebrauch der Herrschenden sind. Geführt werden die Lager nicht von der Justiz, sondern von Sonderpolizeien, der Tscheka, später GPU und NKWD im Falle der Sowjetunion, in Nazi-Deutschland der Gestapo.
Doch es gibt andere, weniger formale Besonderheiten der Lager.
"Als Willkürherrschaft zielt das Konzentrationslager auf die Massen, auf das kollektive Individuum. Seine Funktion besteht darin, weniger Individuen als vielmehr Mitglieder 'nationaler?, 'rassischer? oder 'gesellschaftlicher? Gruppen, die per Definition Verdächtige oder Schädlinge sind, massenhaft zu konzentrieren."
Kotek und Rigoulot unterscheiden drei Typen von Lagern: Isolierungslager, Konzentrationslager und Zentren der Vernichtung oder sofortigen Tötung. Aufgabe der Internierungslager ist die vorübergehende Isolierung Verdächtiger. Zu dieser Kategorie zählen laut Kotek und Rigoulot Lager, in denen in Kriegszeiten Angehörige feindlicher Nationen gefangen gehalten werden. Oft ist ihr Hintergrund ein Kolonialkrieg; die Autoren erwähnen in diesem Zusammenhang die Unterdrückung und weitgehende Vernichtung des Hererostammes durch die deutsche Kolonialmacht nach dem Aufstand des Jahres 1904. Die Konzentrationslager bilden nach Ansicht der Autoren...
"die zentrale Kategorie, den Kern des Phänomens totalitärer Lager, seien es die NS-Lager, der GULag oder die kommunistischen Konzentrationslager Asiens unter anderem der Laogai. Sie zeichnen sich durch Erniedrigung, Umerziehung, Zwangsarbeit und Vernichtung aus. Und sie spielen für das jeweilige Regime, das sie hervorgebracht hat, eine substantielle Rolle. Als Instrument des Terrors und der Umgestaltung der Gesellschaft sind sie auf Dauer angelegt."
In autoritären Staaten, in Diktaturen, stellen die Lager Provisorien dar. Denn das Trachten von Diktatoren ist auf Unterwerfung der Massen gerichtet, nicht auf Veränderung des Menschen. Hingegen sind die Lager in totalitären Staaten eine Dauereinrichtung mit einer Ideologie als Grundlage.
"Das Ziel, die menschliche Natur zu verändern und einen neuen Homo sapiens zu schaffen, unterscheidet den Totalitarismus von klassischen autoritären Systemen. Dazu werden alle verfügbaren politischen und wirtschaftlichen Zwangsmittel eingesetzt. Um dieses Ziel zu erreichen, fungiert als einziges Instrument eine aus einer Minderheit bestehende Partei, eine Elite, die sich dank eines angeblich überlegenen Bewusstseins zur Führung der Massen berufen fühlt."
Umerziehungslager nach dieser Definition gibt es von Beginn an in der Sowjetunion. Auch in den frühen Nazi-Konzentrationslagern findet sich der Gedanke der Umerziehung. Die berüchtigte Dachau-Parole "Arbeit macht frei" lässt nach Auffassung der Autoren die Wahl, so genannte Volksfeinde auszuschalten oder sie auf den rechten Weg zu bringen. Ähnlich ist die Aufgabenstellung der Laogai, der chinesischen Straflager. Kotek und Rigoulot zitieren Mao Zedong aus seiner Schrift "Von der richtigen Behandlung der Widersprüche im Volke":
"Wir werden sie zwingen, sich den Gesetzen der Volksregierung zu unterwerfen, wir werden sie zur Arbeit zwingen, damit sie sich durch Arbeit in neue Menschen verwandeln."
Den dritten Typus der Lager bilden die Zentren zur Vernichtung und zur sofortigen Tötung. Als solche führen die Autoren Belzec, Chelmno, Sobibor und Treblinka auf sowie Auschwitz-Birkenau und Majdanek. Die Nazis selbst sahen in diesen Todesfabriken nicht Konzentrationslager (KL oder KZ), sie bezeichneten sie vielmehr als Sonderkommandos (SK). So kommen Kotek und Rigoulot zu dem Schluss, dass sich die Shoah paradoxerweise außerhalb des eigentlichen KZ-Systems vollzogen habe.
"Als Endstationen der Eisenbahnen dienten diese Stätten, die wir als Vernichtungszentren oder mit Raoul Hilberg als Zentren zur sofortigen Tötung bezeichnen werden, nicht zur Aufnahme von Internierten, sondern zur Vernichtung durch Gas nach der Ankunft. In Treblinka, wo nicht selten täglich 9000 Juden ankamen, gab es keine Infrastruktur, die ihre Unterbringung oder Ernährung über 24 Stunden hinaus ermöglicht hätte. Treblinka diente einer einzigen Aufgabe: der Vernichtung der Juden Europas."
Die Autoren lassen keinen Zweifel daran, dass die genannten sechs Todesfabriken historisch ohne Beispiel sind. Vor diesem Hintergrund nennen sie die These des deutschen Geschichtsphilosophen Ernst Nolte, der GULag sei vor den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten da gewesen, unsinnig.
"Der Hinweis, wonach der GULag vor Auschwitz existiert habe, ist nicht falsch, aber aus mindestens zwei prinzipiellen Gründen überflüssig: Zunächst einmal, weil sich die Shoah, die Vernichtung der Juden, strictu sensu außerhalb des nationalsozialistischen KZ-Systems vollzog, und vor allem deshalb, weil es im GULag für die nationalsozialistischen Vernichtungszentren keine Entsprechung gab."
Hannah Ahrendt stufte die Konzentrationslager je nach dem Grad des Schreckens und der Tortur in drei Kategorien ein, Hades, Fegefeuer und Hölle. Kotek und Rigoulot fügen eine weitere Kategorie ein, die Gehenna, als Bezeichnung für die Vernichtungszentren. Dreißig Seiten verwenden die Autoren auf die Klassifizierung der Lager, weitere 650 Seiten sind der Schilderung vorbehalten. Es ist eine schaurige Jahrhundert-Revue. Die Geschichte der Lager beginnt für Kotek und Rigoulot 1896 auf Kuba mit der Konzentrierung der rebellischen Landbevölkerung durch die Spanier. Nächste Station sind die Lager der Briten im Burenkrieg; es folgen die Lager der Hereros und die, die dem Völkermord an den Armeniern dienen. Naturgemäß nimmt die Schilderung des GULag und der Nazi-Lager den breitesten Raum ein. Aber damit ist die Chronologie der Jahrhundert-Lager noch keineswegs zu Ende. Unter die Lupe genommen wird die Rolle, die die Lager im Reiche Maos spielen, werden aber auch die Internierungslager für französische Kollaborateure, die Lager Castros und die der chilenischen und argentinischen Generäle. Den Archipel des Schreckens runden die Konzentrationslager in Ex-Jugoslawien ab.
Man möchte das "Jahrhundert der Lager" nicht gerade ein lesenswertes Buch nennen. Das verbietet der finstere Gegenstand. Aber es ist ein wichtiges Buch. Die Schwächen, die es aufweist, sind Schwächen der Quellenlage, die eigentlich nur hinsichtlich des NS-Lagersystems befriedigend ist. Trotzdem gelingt eine alles in allem überzeugende Gesamtschau, die notwendige Differenzierung eingeschlossen. Die Autoren erbringen den Beweis, dass die Methodik des Vergleichs Unterschiede nicht sachwidrig nivelliert, sondern erst sichtbar macht. Überzeugend ist auch der nüchterne, fast buchhalterische Stil. Nur am Ende, als es um den "Grundwahnsinn der Vernichtungszentren" geht, lassen sich die Autoren für einen Moment ins Herz schauen.
"Den Historiker schwindelt, weniger wegen des Grauens selbst, als vielmehr wegen der Fähigkeit, solches Grauen hervorzubringen... Auch gibt es Grund zum Weinen. Aus Mitleid über das Schicksal derer, die Martyrien erlitten und umkamen. Aus Wut und Scham beim Gedanken an die Täter. Denn alle sind Menschen, so wie wir. Und die Verantwortlichkeit der einen trifft bis ans Ende der Zeiten alle anderen im tiefsten Innern."
Günter Müchler über Pierre Rigoulot, Joel Kotek: Das Jahrhundert der Lager. Gefangenschaft, Zwangsarbeit, Vernichtung. Das Buch ist veröffentlicht im Propyläen Verlag Berlin, umfasst 768 Seiten und kostet EUR 35.