Sicher: Arlacchi hat ein enorm wichtiges Anliegen. Er präsentiert einen öffentlich bislang nur recht teilweise beleuchteten Gegenstand: zeitgenössische Formen der Sklaverei, wie die Schuldknechtschaft oder der Verkauf von Kindersoldaten. Über sie hat bisher keinerlei gesellschaftliche Auseinandersetzung stattgefunden. Überdies befindet sich der Menschenhandel gerade wieder im Aufschwung und wurde in der Praxis im Grunde genommen nie ganz abgeschafft. Heute sind es vorwiegend Kinder und Frauen, die als Arbeiter, Soldaten und Prostituierte weltweit eingesetzt werden. Dabei unterscheiden sich allerdings die modernen Ausprägungen der Sklaverei kategorisch von ihren historischen Erscheinungsformen, denn seit der formal-rechtlichen Abschaffung der Sklaverei kann der Handel mit Menschen und ihre Versklavung nur mehr im illegalen Abseits betrieben werden. "Niemand darf in Sklaverei oder Leibeigenschaft gehalten werden; Sklaverei und Sklavenhandel sind in allen Formen verboten", heißt es in einer 1948 von der UN-Vollversammlung ohne Gegenstimme verabschiedeten Erklärung. Diese internationale Übereinkunft hat jedoch einen paradoxen Effekt: Weil die Opfer von Menschenhandel und Leibeigenschaft über keinerlei rechtlichen Status mehr verfügen, sind sie ihren Nutznießern gänzlich ausgeliefert. Und es ist eben diese Entrechtlichung, die sich die modernen Sklavenhalter und -händler auf vielfältige Weise zunutze machen.
Diese grundlegende Erkenntnis, die sich irgendwo in Arlacchis eher unsystematischer Ansammlung empirischer Daten, Zahlen und historischer Informationen findet, hätte Anlass für praktische Überlegungen sein können. Der Frage nämlich, auf welche Weise die demokratischen Industrie-Staaten ihre unheilvolle Mitwirkung am Geschäft mit Menschen unterbinden könnten. Denn die im Westen meistens in Bordellen arbeitenden ausländischen Prostituierten können auch deshalb als Sklavinnen gehalten werden, weil sie als illegale Immigrantinnen keinerlei gesetzlichen Schutz genießen. Erst auf der letzten Seite seines Buches unter den sonst recht allgemein gehaltenen Schlussfolgerungen weist Arlacchi auf ein sogenanntes "Experiment" des italienischen Gesetzgebers hin, der ausländischen Frauen, die ihren Zuhälter anzeigen, wenigstens vorübergehend ein Aufenthaltsrecht zuspricht. Man hätte gern über diese und andere praktischen Maßnahmen mehr gewusst, nicht zuletzt um das für den oberflächlichen Blick so abseitig scheinende Thema "Sklaverei" stärker an die politische Handlungssphäre hier zu binden. Dabei könnte beispielsweise die Mobilisierung einer europäischen Diskussion über die "moderne Sklaverei" der Auseinandersetzung mit dem Thema "Einwanderung" ganz neue Impulse geben und die Gesetzgeber mit bislang noch gar nicht formulierten Aufgaben konfrontieren.
Pino Arlacchi berichtet, dass Prostituierte aus Russland, die ohne Aufenthaltsgenehmigung in Deutschland zur Arbeit gezwungen werden, im Monat durchschnittlich 13.500 DM erwirtschaften; etwa 12.600 DM gehen an den Bordellbesitzer. Weitere 880 DM werden den Mädchen für den Lebensunterhalt abgezogen. Es bleiben ihnen also nur 20 DM im Monat. Die detaillierte Beschreibung solcher Ausbeutungsverhältnisse ist sicher die erste Voraussetzung, um die Öffentlichkeit aufzurütteln. Doch um mehr als nur moralische Empörung zu bewirken, hätte Arlacchi gut daran getan, sich systematisch auch mit Möglichkeiten der Bekämpfung dieser Kriminalität zu beschäftigen. Immerhin ist ja sein UNO-Ressort dazu da, dem internationalen Verbrechen das Handwerk zu legen.
Arlacchis Ausführungen bleiben insgesamt sehr abstrakt. Wenn er beispielsweise im Kapitel zur sexuellen Versklavung auf eine "Marktstruktur" hinweist, die auf einem Verbund von Hotelketten, Fluggesellschaften, Massenmedien und Banken fußt, dann hätte man sich auch hier wieder genauere Informationen über die Vernetzungen in einer der blühenden Branchen, der Tourismusindustrie, gewünscht. Sicher ist eine Feldforschung, deren Gegenstand "Menschenhandel" heißt, eine qua definitionem nur unter erschwerten Bedingungen zu leistende Aufgabe. Arlacchi erwähnt zwar im Vorwort sein eigenes, in den 80-er Jahren "großangelegtes Untersuchungsvorhaben zu den illegalen Märkten dieser Welt", über die methodischen Probleme einer derartigen Forschung, über Vorgehensweisen und Ergebnisse erfährt man jedoch nichts. Arlacchis Buch liest sich dann auch eher wie ein zerdehntes erstes Kapitel, wie ein Überblick über die Forschungsliteratur zum Thema "Sklaverei und ihre historischen und zeitgenössischen Erscheinungsformen". Denn neben geschichtlichen Fakten, die sich anderswo systematischer nachlesen lassen, erhält man nur eine Vielzahl deskriptiver Informationen zu den heute üblichen Versklavungsformen - zu deren furchtbarster sicher die vererbte Schuldknechtschaft gehört - , zu Ausbeutungsgebieten und -branchen und zu den globalen Kapital- und Produktströmen, denen mittlerweile auch die internationalen Handelsrouten der Ware "Mensch" folgen. Eine Datensammlung ist sicher ein erster Schritt, einen Gegenstand von allerhöchster politischer Brisanz im öffentlichen Bewusstsein überhaupt erst einmal zu verankern.
Über 200 Millionen Menschen leben der britischen Organisation Anti-Slavery International zufolge heute in Formen moderner Sklaverei. "Angesichts dieser Dimensionen verblassen die Zahlen der Vergangenheit", schreibt Arlacchi. Sicher wird sein Buch dazu beitragen, das Phänomen des Menschenhandels und der Sklaverei überhaupt als ein drängendes Probleme der Gegenwart zu erkennen.
Das deutsche Verteidigungsministerium wollte die im "Weltspiegel" veröffentlichte Geschichte einer 15-jährigen Bulgarin, die an ein Bordell in Tetovo verkauft wurde und zu deren Freiern auch deutsche Soldaten gehört haben sollen, nicht bestätigen. Der Sprecher des KFOR-Hauptquartiers in Skopje ließ allerdings wissen, dass jedem Interessenten bekannt sei, dass Kinder zur Prostitution gezwungen würden. Die KFOR versuche, Aufklärungsarbeit zu leisten. Eine umfassende Kontrolle sei jedoch nicht möglich.
Barbara Eisenmann besprach: "Ware Mensch. Der Skandal des modernen Sklavenhandels" von Pino Arlacchi. Es ist im Piper Verlag erschienen, hat 215 Seiten und kostet 38 Mark.