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"Pinocchio" im Krematorium
Gegen Disneys Diktatur des Zuckerglücks

Von Jürgen Stratmann |
    Oberirdisch wirkt der Ort auf schauerromantisch-düstere Art und Weise schon kinderbuchtauglich märchenhaft. Denn die inmitten parkartigen Friedhofsgrüns thronende, achteckig- wuchtige Kapelle im neoklassizistischen Pomp wirkt spukschlossartig. Doch der Weg zur "Pinocchio-im-Krematorium"-Inszenierung führt in die Unterwelt - über eine breite Rampe, bedeckt mit totem Herbstlaub, begleitet von einer seltsamen Geräuschkulisse.
    Unten angekommen, steht man dann erst mal vor einer Pforte zum Jenseits. "Das ist die Eingangstür zum Ofen", so Robin Detje von "Bösediva". "Davor bauen wir unsere Bar auf."
    Dann geht´s noch eine Treppe tiefer - in einen lang gezogenen, Schlachthof-artig funktional gehaltenen Riesenkeller. "1.300 Quadratmeter, 61 Meter lang, gebaut für den Kriegs- und Seuchenfall - zur Lagerung versuchter Leichen, mangels Krieg und Seuchen - kurz nach dem Bau wieder verkauft."
    "Pinocchio im Krematorium" - für Bösediva der ideale Gegen-Entwurf zu Walt Disneys bunter Bilderbuch-Idylle. "Die Geschichte von Pinocchio ist die Geschichte einer Holzpuppe, die ein richtiger Junge werden will." Ein Kind aus Fleisch und Blut eben, erklärt Elisa Duca, zweiter Kopf der Künstlergruppe: "Ein Krematorium ist ein Ort, wo Fleisch zu Asche wird - darum geht´s in unserer Installation: um dieses Processing, um dieses Verwandeln, Verarbeiten - Holz zu Fleisch und umgekehrt."
    Der Titel dieser Installation ist allerdings: Zucker, Doppelpunkt: Pinocchio! - wobei in Walt Disneys Zeichentrickversion Zucker gar nicht vorkommt - eigentlich! Allerdings: "In dem Disney-Film ist jeder Blick und jeder Augenaufschlag ist Zucker, jeder Blick und jeder Augenaufschlag sagt mir ganz diktatorisch, was ich fühlen soll - genau wie mir der Zuckerguss auf der Torte sagt, dass ich jetzt glücklich sein soll."
    Der süßliche Sound der Zeichentrickversion passe auch gar nicht zur literarischen Vorlage: "Der Ur-Pinocchio ist ein Buch, dass ein ganz schlecht gelaunter, viel saufender Journalist geschrieben hat, fast linksradikal mit satirischem Anspruch, der keine Lust hatte, der aber Geld brauchte, das war ein reiner Geldjob."
    Und so hat der Autor sein Geschöpf auch behandelt: Im Buch wird der kleine Hampelmann verbrannt, gelyncht, ins Meer geworfen. - Dieser bösartige Kern der Geschichte sollte wieder freigelegt werden - für die:
    "Freiheit des Blicks! Und wir glauben so ein bisschen, dass unsere Freiheit immer mehr eingeengt und vorgegeben wird, wobei wir Glück empfinden sollen - aber wir versuchen immer, unseren Blick ein wenig zu öffnen - das finden wir befreiend - aber die Leute müssen dann allerdings in Kauf nehmen, dass Freiheit nicht immer nur angenehm ist."
    Dieses Konzept von der Freiheit des Blicks macht es allerdings auch dem Zuschauer nicht leicht: Denn: "Der Zuschauer ist ein Co-Produzent, weil man steht vor einem Performer, vor einem Video, vor einer Nase und denkt: was ist das? So kommt der Zuschauer auch in Bezug zu dem Kunstwerk - also wir wollen ihm nicht sagen, was es ist!"
    Apropos Nase: Pinocchios lügen-sensibles Riechorgan ragt als Skulptur - groß wie der Rumpf eines Düsenjets - aus dem Boden der Leichenhalle quer durch den Raum. "Die ist verkleidet mit essbarem Material - von unserer wunderbaren Lebensmittelkünstlerin Sonja Ahljäuser und daran kann man knabbern - und soll man auch."
    Wo man hinschaut - Attraktionen! "Das ist auch ein Vergnügungspark - ein dysfunktionaler Vergnügungspark! Es gibt ganz viele Sachen, die angefaßt, angeguckt, gefressen werden können, aber natürlich, wir performen auch."
    Fünf Tage lang soll im Keller des Alten Krematoriums ab heute verarbeitet, verändert, gefressen werden - und wenn dann noch was übrig ist?
    "Am letzten Tag wollen wir vielleicht die Nase sprengen!" Für den Hauptdarsteller des Projekts - keine gute Aussicht!
    O-Ton aus dem Film "Pinocchio": "Nein! Nein, warte, laß mich hieraus, ich sag es meinem Vater!" (Explosion)