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"Pinocchio" mit morbiden Songs

Aus dem Kinderbuch des ausgehenden 19. Jahrhunderts inszeniert Jochen Schölch ein Musical-Märchen für Erwachsene, Kritik an unserer Konsumwelt und dem Zwang zur Verhaltensnorm inklusive.

Von Rosemarie Bölts |
    Eine Holzpuppe wird lebendig. So wird es musikalisch erzählt. Und so sieht das in dem kleinen Münchner Metropol Theater aus: Analog zu den an Strippen hängenden Hölzchen, die das profane Puppensymbol ergeben, erwacht mit im Stakkato-Rhythmus "Pinocchio", frei übersetzt, das "Dummköpfchen". Gespielt von der sehr jungen, fabelhaften Denise Matthey, die mit ihren groß geschminkten Kulleraugen und dem luftigen Matrosenanzug so unschuldig wie neugierig in die große weite Welt blickt und gleich in drei Sprachen angekündigt wird. Italienisch, weil der Autor Italiener war. Deutsch, weil es auf einer deutschen Bühne stattfindet. Englisch, weil alle Songtexte auf englisch sind. Eine Reminiszenz an Martyn Jacques von den "Tiger Lillies", der zwar nicht - wie angekündigt -die Musik komponiert, aber die Texte geschrieben hat.

    Es ist die Geschichte vom Erwachsenwerden und dem Zwiespalt zwischen pädagogisch verlangter Anpassung und selbstbestimmter Freiheit. So jedenfalls interpretiert es Regisseur Jochen Schölch und macht aus dem Kinderbuch des ausgehenden 19. Jahrhunderts ein Musical-Märchen für Erwachsene, Kritik an unserer Konsumwelt und dem Zwang zur Verhaltensnorm inklusive.

    Wehe, wenn man nicht dem Vater gehorcht, der seine warme Jacke verkauft, damit der Sohn zur Schule gehen kann. Schlimm, wenn man stattdessen naiv auf alle Versprechungen und Verlockungen hereinfällt. Spaß statt Schule, Spiel statt Drill, das klingt verführerisch. Und Pinocchio fällt auf seiner Reise in die Erwachsenenwelt auch buchstäblich auf seine neuen "Freunde" herein:

    "- "Keine Schule? Keine Lehrer?
    – "Nein, komm mit! Du hast doch Schule in Spielzeugland!"
    – "Na, wie ist es, kommst du mit?"
    – "Ja, klar."
    – "Und der da?"
    – "Ich kann nicht, ich will in die Schule wie alle braven Jungen."
    - "Hahaha.""

    Und alles spielt sich, wie gehabt, im ehemaligen Vorstadtkino Metropol auf kleinstem Raum mit minimalistischer Ausstattung ab. Ironisch gebrochene Theatermagie, wie man sie von Regisseur Jochen Schölch kennt und wie er sie nun auch mit Bravour in dieses Musicalexperiment gesetzt hat. Weiße Striche auf schwarzem Boden markieren die Bühne. Zur Linken ist das fünfköpfige Orchester mit Kontrabass, Klarinette, Violoncello, Banjo und Klavier aufgebaut, zur Rechten die Masken, die die nur vermeintliche Vielfalt der Menschen symbolisieren. Dafür trägt die Rollenvielfalt der – bis auf Pinocchio – maskierten Schauspieler und Schauspielerinnen.

    Sie agieren als Märchenfiguren, Conférenciers, Sänger und bedienen die Handkurbel des "Wandelpanoramas", das auf die riesige Kulissenleinwand Naturlandschaft, Gefängnis und Walgerippe projiziert. So altmodisch, wie das extra für diese Aufführung gebaute "Wandel- oder Wickelpanorama", so anrührend erinnert "Pinocchio" an originäres Geschichtenerzähltheater.

    Typisch Schölch eben. Aber auf keinen Fall schräg und schrill wie die "Tiger Lillies".

    Eine lange Nase muss dem Regisseur trotzdem nicht wachsen.