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"Pisa für alle"

Fischer:Zuerst aber zu einem Thema, auf das die einen mit herablassendem Lächeln, die anderen mit einem gequälten Aufschrei reagieren. PISA für alle, lautet es. Es geht um ein nahezu aberwitziges Projekt. Nach den Schülern soll nun die gesamte Bevölkerung einem noch auszuarbeitendem Kompetenztest unterzogen werden. Die Evaluierung des Wissenstands von heute zeigt uns den Weg in die bessere Welt von morgen, so könnte man vielleicht auch sagen. Gestern und heute hat die OECD, das ist der Zusammenschluss der dreißig stärksten Industrienationen, seinen Mitgliedsländern in Paris dieses Projekt vorgestellt. Frage an meinen Kollegen und Bildungsexperten Reinhard Kahl:!Mit was für einem Ergebnis, was genau ist dort heute beschlossen worden?

    Kahl: Dort ist beschlossen worden, mit wie man hören kann sehr großer Zustimmung der Mitgliedsländer, diese Studie in Angriff zu nehmen. In Angriff zu nehmen heißt zunächst einmal auszuarbeiten, wie die Studie gemacht werden soll. Das Konzept der Studie liegt noch in keiner Schublade. Das Thema der Studie ist eigentlich: Worauf, auf welche Kompetenzen wird es in einer aufziehenden Wissensgesellschaft im Gegensatz zu der eher abschüssig verschwindenden Industriegesellschaft ankommen? Was muss man können, was muss man wissen? Das soll im Grunde in einer doppelten Weise untersucht werden, nämlich erstens: Wie sehr kommen die Menschen in den verschiedenen Ländern an die Maßstäbe, die die OECD setzen will, heran? Das andere ist, herauszufinden, was wo eigentlich erfolgreich ist, um dann von den erfolgreichen Strategien lernen zu können.

    Fischer:Letztendlich geht es also darum, das etwas schwammige Wort vom lebenslangen Lernen etwas genauer zu definieren, um mit den Ergebnissen dieses Test eventuell auch die Schwachstellen in den Erziehungs- beziehungsweise Weiterbildungssystemen der einzelnen Länder auszumachen. Wie soll das denn genau funktionieren?

    Kahl: Es geht im Grunde darum, dem Lernen für alle Menschen wieder zu der Würde zu verhelfen, die es mal hatte und die es überall dort verloren hat, wo es einem – man muss ja sagen häufig in der Schule – verleidet wurde und wo die Menschen dann eher ein Leben lang fragen: Mutti, welches Bild soll ich jetzt malen und nicht selbst etwas wollen, Lernen nicht als Vorfreude auf sich selbst ansehen. Man muss vielleicht kurz sagen: Vier so genannte Kompetenzen sollen untersucht werden: Erstens, wie kann man kreativ mit Information umgehen, sie also nicht nur aufnehmen, sondern etwas daraus machen? Der zweite Punkt ist: Wie kann man Probleme lösen? Der dritte Punkt, und das ist wirklich interessant, sind die so genannten interpersonellen Kompetenzen, also Zusammenarbeit. Der vierte heißt etwas theoretisch intrapersonale Kompetenzen, und das ist, ob man auch etwas will, ob man sozusagen einen Antrieb hat. Das ist sozusagen nicht dasjenige, was einem als erstes zu Schule und Lernen einfällt.

    Fischer:In Deutschland ist dieses Ansinnen zumindest unter den KultusministerInnen auf keine große Gegenliebe gestoßen. Monika Hohlmeier, Bayerns CSU-Ministerin, findet das Projekt abwegig und aberwitzig. Die Frage stellt sich, Herr Kahl: Wenn man denn nun schon die europäische Überregulierungswut in allen Bereichen beklagt, warum sollte PISA für alle denn überhaupt notwendig sein, wenn jetzt schon absehbar ist, dass, zumindest in Bezug auf Deutschland, genau das Gleiche herauskommt wie in der PISA-Studie?

    Kahl: Man weiß ja gar nicht, was dabei herauskommt. Das weiß niemand. Es geht auch nicht darum, Normbücher fürs Lernen zu verfassen, sondern es geht – das sagen die OECD-Leute – eigentlich um zweierlei: Erstens über dieses Projekt eine Debatte in den verschiedenen Ländern darüber in Gang zu bringen, was eigentlich die Qualitäten sind, auf die es ankommt, um das Blei, das wir noch in den Bildungsinstitutionen haben, ein Stück abzubauen. Das andere ist, zu wissen, woran man ist. Es geht nicht um Regulierung, sondern es geht um einen Spiegel. Es geht darum, ein Selbstgespräch der Gesellschaft über das, was Fähigkeiten in der Zukunft sein werden, in Gang zu bringen. Das ist vielleicht eine Sache, und nebenher: Die deutschen Vertreter oder einige deutsche Vertreter waren heute in Paris die einzigen, die dagegengesprochen haben. Alle anderen Länder haben das sehr freudig begrüßt als eine Möglichkeit, weiterzukommen.

    Fischer:Könnte es aber nicht sein, dass man damit den ganzen Humboldtschen Bildungskanon, der ja sowieso schon in der Diskussion steht, wegschmeißen muss zu Gunsten einer gemeinsamen Aktion des gegenseitigen sozialen Lernens, wie Sie es propagieren?

    Kahl: Lernen, nicht soziales Lernen. Jedes Lernen ist aber natürlich auch immer ein Lernen mit anderen. Ich glaube das nicht. Ich würde eher sagen, das ist der Durchbruch für Humboldt. Und zwar nicht des Sonntagsreden-Humboldts, sondern des Humboldts, der gesagt hat, dass jeder Mensch, der Schreiner wie der Professor, gebildet sein soll. Er hat nicht gesagt: die eine Bildung für jenen, die andere für einen anderen, sondern sich als Weltbürger fühlen, nicht Untermieter in der Welt sein, sondern sagen: Ich will etwas, wir wollen etwas, wir machen etwas.

    Fischer:Vielen Dank, Reinhard Kahl, für diese Einschätzung in Sachen PISA für alle. Das neue Lieblingskind der OECD will demnächst den Wissensstand von Erwachsenen evaluieren.