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PISA FÜR ALLE oder die Chance für eine politische Währungsreform

Mit dem 4. Dezember 2001, dem Tag als Pisa kam, hat sich Deutschland verändert. Zunächst bloß in der Stimmung. Aber der saure Zustand ist eine unvermeidbare Phase im Gärungsprozess. Pisa ist inzwischen die Metapher für eine alte, einst erfolgreiche Welt, in der wir verharren. Die Schulen liefern dafür Anschauung: Zu viel Belehrung, Missmut, Angestrengtheit und vor allem zu viele Vorschriften. Zu wenig Freude an Leistung, an den anderen, an der Freiheit und vor allem an sich selbst. Die Vorfreude von Menschen auf sich selbst ist die Seele des Lernens, im Großen wie im Kleinen.

    Man muss auch von Stolz sprechen. Dass er eine Produktivkraft ist, gehört zu den ersten starken Eindrücken, wenn man in Skandinavien oder Kanada den erfolgreichen Schulen auf der Spur ist. Stolz kann frei machen, weil er Zugehörigkeit schafft. Der seit einem Jahr am häufigsten zitierten Satz über die finnischen Schulen heißt: "Jeder gehört dazu. Wir können es uns nicht leisten auch nur auf einen zu verzichten. Jeder wird gebraucht." Das sagt Jukka Sarjala, Chef der finnischen Unterrichtsbehörde. Er kommt übrigens aus der konservativen Partei, aber das, sagt er, sei egal, weil es in Bildungsfragen Konsens gibt. Dass in Deutschland Bildung ein Hackbrett und kein Gemeinschaftsfeld ist, kann er nicht verstehen. Sein Unverständnis betrifft sowohl den latenten Religionskrieg in unserer Bildungspolitik, als auch den häufig gar nicht mehr latenten Bürgerkrieg in den Schulen. "Warum nur sind die Lehrer eure Feinde" fragten kürzlich Austauschüler aus den glücklicheren Ländern. Ihre deutschen Mitschüler waren sprachlos, denn den Kleinkrieg halten sie für den menschlichen Naturzustand.

    Neben Stolz fehlt uns Zutrauen in die Leistungsfähigkeit und erst recht in die Leistungslust der Kinder und Jugendlichen. Wer mit deutschen Schülern spricht, die für ein Jahr in England waren, hört durchweg Staunen über eine Schule, die Stil und das Einhalten von Regeln verlangt, die aber das, was sie fordert, verschwenderisch gibt. Auch dort heißt die unausgesprochene Botschaft: Respekt und Zutrauen: "Ihr könnt doch noch viel mehr". Und abermals, "jeder gehört dazu". Zugehörigkeit ist dort anders definiert als im egalitären Finnland. Nicht jeder findet überall Einlass. Aber wer drin ist, muss um seine Anerkennung nicht mehr bangen. Wer in diesen Wochen als Erstsemester eine deutsche Hochschule betritt, erlebt noch eine Steigerung des neurotisierenden Geizes mit Anerkennung und Zutrauen, den er aus der Schule kennt "Die Hälfte von ihnen," hören die Erstsemester, zumal in Naturwissenschaften, aber auch in Jura "gehört nicht hierher, und die meisten werden beim Examen nicht mehr dabei sein."

    Kürzlich veröffentlicht das Gallup Institut ein in 47 Ländern durchgeführtes Vertrauensranking. Von 17 Institutionen genießt das Bildungssystem weltweit am meisten Vertrauen. In Deutschland indessen führen Polizei und Streitkräfte die Liste an, also Einrichtungen, denen man vertrauen muss, wenn Misstrauen herrscht. Bildung rangiert bei uns auf Platz 11.

    Der Pisa-Schock galt zunächst der Leistungsschwäche. Aber die lang anhaltende Irritation kommt aus der Ahnung, dass es bei uns nicht nur an Gelegenheiten zum Lernen fehlt, sondern dass das soziale und kulturelle Kapital knapp wird, das sich unter anderem in Lernbereitschaft verzinst. Eine Dämmerung hinter Pisa heißt Verwahrlosung.

    Mit der Veröffentlichung der Studie begann aber auch ein hoffnungsvoller Sog: Inventur machen. Immer noch sind Pisa Veranstaltungen überfüllt. Das Interesse reißt ein Jahr danach nicht ab. Das ist ohne Beispiel. Das Bildungsthema ist eben ein Selbstgespräch der Gesellschaft darüber, wer wir sind, wo wir herkommen und wohin wir wollen. Es ist in Gang gekommen.

    Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), die Pisa durchführt, verlangt von Schulen den Paradigmenwechsel "von der Input- zur Output-Kontrolle". Auch hier könnte an der Bildung wie in der Nussschale deutlich werden, was für die ganze Gesellschaft gilt. Inputorientierung bedeutet, der Staat wacht über den finanziellen und geistigen Zufluss. Er will alles steuern und versteuern, er will möglichst viele Werte in Abgaben umwandeln und zu Aufgaben definieren. In der deutschen Schule ist das extrem. Der Staat kontrolliert Geld und Lehrpläne, er lässt den Schulen kaum Spielraum. Zugleich wurde auf die Beobachtung ihrer Ergebnisse bisher weitgehend verzichtet. Wozu auch, wenn eh schon alle und alles an den Marionettenfäden des Staates hängen? Pisa war die Quittung für diese etatistische Ahnungslosigkeit. Das Umschalten von der In- zur Output-Kontrolle fällt Ländern mit demokratischer Tradition und mehr Selbstvertrauen weniger schwer.

    Pisa wird nun im Dreijahresabstand erhoben. Die nächste Staffel schon im kommenden Frühjahr. Bis Pisa 2009 will die OECD so weit sein, nicht nur die Kompetenzen der Schüler, sondern auch die Art der Interaktionen in den Schulen zu messen. Schon jetzt weiß die Wirtschaftsorganisation: die Ökonomie einer Wissensgesellschaft hängt davon an, wie Menschen miteinander umgehen. Das Wie konstituiert das Was.

    Der Volksmund weiß das auch. Längst ist in der Umgangssprache Pisa ein Synonym für "Evaluation" geworden. Man verlangt Pisa für Lehrer, Pisa für Politiker, Pisa für das ganze Land.

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