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Plädoyer für die Moderne

Sieben Kurzvorträge von Maurice Merleau-Ponty aus dem Jahr 1948 sind erstmals auf Deutsch erschienen. Sie führen den Leser zu den Sachen selbst, das heißt zu den Quellen seiner lebendigen Welterfahrung, und erschließen mit frischem Blick und einer leichtgängigen Weise Schritt für Schritt die dafür grundlegenden Themen wie Raum, Sinnendinge, Animalität und Menschenwelt.

Von Astrid Nettling | 12.02.2007
    Causerie nennt man im Französischen eine unterhaltsame Plauderei, wobei nicht bloß ein nettes Zwiegespräch über dies und das gemeint sein muss, causerie kann ebenso einen zwanglosen Vortrag bezeichnen. Zugleich steckt das lateinische causa, die Ursache, der Grund, darin. Die Causerie wäre somit auch die Kunst, zwanglos einer Sache auf den Grund zu gehen.

    Für eine solche Kunst war Maurice Merleau-Ponty, als Phänomenologe dem bekannten Leitsatz der Phänomenologie "Zu den Sachen selbst" verpflichtet, bestens gerüstet. Sieben solcher Causerien aus dem Jahr 1948, die als zusammenhängende Radiovorträge verfasst und vorgetragen wurden, sind jetzt erstmalig auf Deutsch erschienen. Sieben Kurzvorträge, die den Hörer beziehungsweise den Leser zu den Sachen selbst, das heißt zu den Quellen seiner lebendigen Welterfahrung führen, und mit frischem Blick und einer leichtgängigen Weise Schritt für Schritt die dafür grundlegenden Themen wie Raum, Sinnendinge, Animalität, Menschenwelt erschließen. Wie also gelangen wir zu den Quellen unserer Welterfahrung?

    Die Vorträge beginnen jeweils damit, gängige Vorstellungen unseres Zugangs zur Welt zu hinterfragen. Etwa die, wonach die Welt wie ein Raum aufzufassen sei, in dem uns die Dinge als Gegenstände mit bestimmten Eigenschaften und Funktionen gegenübertreten, oder die, wonach der menschliche Körper zwar draußen in der Welt agiere, der Geist und die Seele aber im Inneren des Menschen eingeschlossen seien. Nach Merleau-Ponty sind derartige Ansichten irreführend, denn sie machen vergessen, dass wir im wahrsten Sinne weltoffene Wesen sind. Lebendige Welterfahrung fängt mit dieser Offenheit zur Welt an, und sie besagt, dass weder die Welt noch wir selbst als abgeschlossene Einheiten zu betrachten sind, sondern als etwas füreinander Durchlässiges, Poröses.

    Denn unsere Welterfahrung ist ein offenes Geschehen, ein Abenteuer gegenseitigen Befragens und Antwortens und immer wieder neu im Entstehen. Davon, so Merleau-Ponty, zeugen beispielsweise die moderne Malerei und Dichtung. Anders als ihre klassischen Vorgänger gehen sie nicht von einer fertigen Welt aus, die sie abbilden oder beschreiben, sondern sie lassen wie Cézanne, Picasso, wie Mallarmé, Proust mit ihren Farben oder ihren Wörtern die Welt und die Dinge erst entstehen. So zeigt etwa eine Landschaft von Cézanne "die Geburt der Landschaft selbst" und ist nicht bloß ein Gemälde, das eine reale Landschaft abbildet. Was für die Welt der Dinge gilt, gilt ebenso für die Menschenwelt. Die Vorträge über Animalität, über den Menschen und seine Welt hinterfragen gleichfalls herkömmliche Vorstellungen über das vermeintlich genuin Menschliche des Menschen. Dort wird das Menschliche zumeist in Abgrenzung zu etwas anderem verstanden - sei es in Abgrenzung zum Animalischen, sei es in Abgrenzung zur Erfahrung des Wahnsinns oder zur Erfahrungswelt so genannter Primitiver.

    Merleau-Ponty verweist auch hier auf unsere eigentliche Porösität gegenüber diesem anderen. Denn lebendige Erfahrung ist nicht zu haben ohne Offenheit für derartige Fremderfahrung. Auch dafür hat uns die Moderne aufgeschlossen. Die Kunst etwa mit ihrer Entdeckung afrikanischer Masken und Skulpturen, die Psychoanalyse mit der Erforschung des Unbewussten und ebenso die Tierforschung, die dem ureigenen "Schauspiel der Animalität" ihre Aufmerksamkeit widmet. Die letzte Causerie kommt erneut auf den Unterschied von klassischer und moderner Welt zu sprechen, von klassischer Vollendung und einem durch Brüche und Unabgeschlossenheit geprägten modernen Erfahrungsraum - und ist ein Plädoyer für die Moderne, die zwar verunsichernd sei, aber dem Menschen und seiner Weltoffenheit eigentlich entspricht. So wendet sich Merleau-Ponty gegen restaurative Tendenzen, sei es im Denken, sei es in der Kunst oder der Politik, gegen rückwärtsgewandte Antworten, die wieder geschlossene Weltbilder anbieten, was nicht nur im Nachkriegsfrankreich seiner Zeit virulent war, sondern die moderne Welt stets erneut bedroht.

    Nicht zuletzt deshalb braucht es die geduldige Freilegung der Quellen unserer Welterfahrung, ein "zu den Sachen selbst", bei dem Fragelust und Neugier angesichts des Erstaunlichen und Vieldeutigen der Welt obsiegen. Auf diesen Weg des Fragens und Schauens bringt Maurice Merleau-Ponty den Leser nicht bloß in einer zwanglos lebendigen Weise, seine Causerien machen zudem Lust auf eigene Erkundungen, die sich für die Welt aufgeschlossen zeigen, offen für Erfahrungen, die niemals abgeschlossen sind.