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Plädoyer für die Notwendigkeit des Erzählens

Es gibt wenige Bücher, die allein aufgrund ihrer kompositorischen Form eine beglückende Lektüre erlauben. Der in Südtirol geborenen, heute in Wien lebenden Autorin Sabine Gruber ist mit ihrem neuen Roman "Über Nacht" ein solches Buch gelungen.

Von Jan Koneffke | 26.03.2007
    Das erzählt in jeweils alternierenden Kapiteln zwei parallel verlaufende Geschichten, die zunächst nichts miteinander zu tun zu haben scheinen. Die eine Heldin lebt in Rom, die andere in Wien. Die römische Mira ist gesund, arbeitet in einem Pflegeheim und erlebt eine immer trauriger werdende Ehegeschichte. Während sie auf ein Drama zusteuert, das dem Leser erst nach und nach aufgeht, hat die Wiener Heldin mit Namen Irma ihr Drama bereits am Anfang überstanden: Sie, die Kranke, erhält endlich die Niere eines gerade verstorbenen Menschen und kann sich auf ein neues Leben freuen. Während Mira ihren Mann verliert, findet die alleinerziehende Mutter Irma, die von dem Vater ihres Kindes verlassen wurde, einen neuen Lebenspartner.

    Zunächst deutet nur das Anagramm der Namen auf einen geheimen Zusammenhang dieser beiden Figuren. Am Anfang springen vor allem ihre gegensätzlichen Leben und Lebensvorstellungen ins Auge, etwa in Bezug auf das Alter:

    "Mira ist natürlich im Gegensatz zu Irma die gesunde junge Frau, die mitten im Leben steht, und für sie ist der Blick auf das Alter, dann, wenn es um sie selber geht, schwierig. Solange sie in der Männerabteilung arbeitet, kann sie davon absehen, tritt ihr das Alter nicht zu nahe, aber in dem Moment, wo sie ihre Nachtdienste verrichtet und mit weiblichen Körpern konfrontiert wird, spiegelt sie sich in diesen alten Körpern selbst, das macht ihr Angst. Mira ist im Unterschied zu Irma eine Art Analphabetin des Körpers, wenn man das so sagen kann, weil sie Krankheit nicht am eigenen Leib erfahren hat, also ist Alter für sie, im Gegensatz zu Irma, angstbesetzt, während Irma, die bereits fähig ist, die Zeichen der Krankheit an ihrem Körper zu lesen, anders mit dem Alter umgeht und den Körper auch anders sieht als Mira, dadurch also auch das Alter als Utopie wahrnimmt und keine Angst hat vor Altersflecken oder vor faltigen Gesichtern, sondern sich das geradezu herbeiwünscht, weil sie möglicherweise das Alter gar nicht erleben wird."

    Gerade Miras Schilderungen aus dem römischen Pflegeheim sind von einer beeindruckenden, ungeschönten Präzision, mitunter von verstörender und zugleich zutiefst humaner Eindringlichkeit. Miras Geschichte ist in der Liebe wie im Beruf eine des Zerfalls. Ihre obsessive Beobachtung der Starenschwärme, die über der Ewigen Stadt kreisen, wird von einem der pflegebedürftigen alten Männer in eine anrührende Todesmetapher übersetzt.

    "‘Rundlich waren die Schwärme‘, sagte Mancini, 'bauchige Wolken‘. 'Das ist so, weil jeder in die Mitte will‘, sagte ich, 'keiner der Stare will am Rand bleiben. Wegen der Habichte, die ihnen nachstellen.‘ 'Deswegen müßt ihr das Bett in die Mitte stellen, das ist es. In die Mitte. Dann kommt er nicht ran‘, rief er mir hinterher."

    Mancini meint den Tod - und Mira meint die Mitte eines gesunden Lebens, aus der sie herauszubrechen droht.

    Man kann bei Sabine Grubers Roman durchaus von einem Schicksalsbuch sprechen, das ganz klassische Fragen behandelt: Wer sind wir? Wo kommen wir her? Wo gehen wir hin? Doch werden diese Fragen in einem modernen, ja geradezu brisant-aktuellen Zusammenhang reformuliert. Nicht nur die in den Vordergrund rückende Körperlichkeit weist auf die Modernität der hier geschilderten Erfahrungen hin. Den aktuellen Zusammenhang stiftet vor allem die Transplantationserfahrung der Irma.

    "Ich denke, dass durch die medizinische Entwicklung der Identitätsbegriff ein anderer wird oder ein anderer geworden ist, dadurch, dass Medizin nicht mehr die Nachbildung der Natur ist, sondern sich darüber hinaus sehr stark mit der Technik befasst, haben wir heute die Möglichkeit, mit Versatzstücken aus Leichen anderen Menschen zu helfen. Und Identität ist also nicht mehr nur die eigene Körperidentität, sondern sie wird ergänzt durch Versatzstücke anderer Menschen."

    Trotz dieser im Romankontext aufscheinenden Aktualität einer bioethischen Debatte, bleibt Sabine Gruber ganz dicht am Lebensschicksal ihrer Figuren. Denn auch, wenn die Autorin, zusammen mit ihrer Figur, der kranken Irma, mit den heutigen Möglichkeiten der Transplantationsmedizin sympathisiert, teilt sie nicht die hybride Vorstellung moderner Wissenschaft, sie könne den Menschen von seinem Schicksal befreien. Die transplantierte Irma empfindet sich stattdessen als "Flickwerk des Schicksals" und sieht sich vor ein ganz neues Problem gestellt: nichts von dem toten Menschen zu wissen, dem sie ihr neues Leben verdankt.

    "Ja, ein bisschen hat ja die moderne Medizin die Theologie abgelöst oder den Glauben an Gott. Man glaubt jetzt, alles das, was Gott nicht machen kann, das kann die Medizin realisieren, was natürlich falsch ist, die Mittel sind auch begrenzt, und dieser Fortschrittsglaube ist eine Illusion.

    Ich glaube, dass die Literatur hier etwas gut machen kann, was in der Medizin nicht mehr möglich ist. Wenn man jetzt zurückgeht: Ursprünglich war der iatros, der Arzt, ja gedacht als jemand, der auch die rhetorische Kunst beherrscht und das Gespräch über die Einzelschicksale miteinfließen lässt in die Therapie. Die Medizin kommt jetzt sehr weit von dieser Gesprächsbereitschaft ab, und hier kann die Literatur etwas wieder gut machen, die Literatur in diese rhetorische Kunst eingreifen und eine vakante Stelle neu besetzen."

    Wenn Miras Geschichte die des Zerfalls ist, ist Irmas Geschichte die einer neuen Zusammensetzung der eigenen Identität. Im Laufe des Romangeschehens ergeben sich immer mehr Bezugspunkte zwischen den beiden Heldinnen, etwa wenn Rino, der Vater von Irmas Kind, die von ihrem Mann betrogene Mira mit einem erotischen Abenteuer lockt. Etwa wenn Davide, der homosexuelle Freund von Irmas Bruder Richard, Irma zu einem Aufenthalt in Rom überredet, um jenen Rino zu finden, damit der kleine Sohn seinen Vater kennen lernt. In Rom kreuzen sich beinahe die Schicksale der beiden Protagonistinnen - aber eben nur beinahe, denn ihre Schicksalsgemeinschaft lässt sich nicht auf einen billigen Romannenner bringen, sonder reicht viel tiefer.

    Auch die Homosexualität von Irmas Bruder und die seines Freundes Davide bilden eine Parallele zur anderen, "abnormalen" Perspektive der kranken Irma auf das Leben.

    "Die Empathiefähigkeit ist bei denen stärker ausgebildet, die am eigenen Leib bereits erlebt haben, ausgegrenzt zu werden durch Krankheit oder eine andere Art von Sexualität oder Lebenshaltung."

    Eine weitere Parallele, die zum Spannungsaufbau des Romans nicht unwesentlich beiträgt, soll hier verschwiegen werden. Doch bleibt festzuhalten, dass der kompositorische Aufbau des bei aller Komplexität lakonisch und leicht erzählten Buches, die Klugheit und Feinfühligkeit der Erzählerin Sabine Gruber belegt. Denn am Ende - einem Ende, das zu verraten, die beglückende Lektüre dann doch nicht beeinträchtigt - erkennt der Leser den tiefen Zusammenhang der beiden Schicksale. Es ist nämlich Miras Niere, die Irma ein neues Leben ermöglicht. Genauer gesagt: Irma hat die Geschichte der Mira erfunden, um ihrem unbekannten Spender oder ihrer unbekannten Spenderin, ein Gesicht zu geben, eine Stimme zu verleihen. Erzählen bedeutet für Irma, "der Toten das Leben zurückzugeben".

    Und so wird "Über Nacht" fast beiläufig zu einem schönen Plädoyer für die Notwendigkeit des Erzählens im Allgemeinen: um den Toten das Leben zurückzugeben.

    Sabine Gruber: Über Nacht. Roman
    C.H. Beck Verlag, München 2007
    238 Seiten.