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Plädoyer für ein ehrlicheres Zusammenleben

Seyran Ates begründet in ihrem Buch, warum sie die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen hat. Ihre Ausführungen zu Heimat, Identität, Demokratie und Verfassung sind sowohl von rationalen als auch von emotionalen Aspekten geleitet. Ihr Fazit: Die multikulturelle Gesellschaft braucht ein Mindestmaß an gemeinsamen Regeln.

Von Matthias Bertsch | 17.06.2013
    Man muss nicht blind-patriotisch, kritiklos und geschichtsvergessen sein, um Deutschland zu lieben, vieles an diesem Land liebens- und lebenswert zu finden. Das können die Urdeutschen von Menschen wie mir lernen, jenen Menschen mit Migrationshintergrund, die gerne hier leben, denen Deutschland viel ermöglicht hat, die ihm viel zu verdanken haben und die es als ihre Heimat empfinden.

    Seyran Ates hat mit "Wahlheimat" ein persönliches wie politisches Buch geschrieben. Es beginnt mit der Erklärung, warum sie ihre türkische Staatsangehörigkeit aufgegeben hat: Als sie vor zwei Jahren auf einer Konferenz in Istanbul zum Thema "Islam und Sexualität" sprechen wollte, hatte ihr das zuständige Landeskriminalamt angeboten, dass bewaffnete Personenschützer mitreisen würden. Grund waren Morddrohungen. Doch die Türkei lehnte ab: Schließlich sei Ates auch Türkin und damit der türkische Staat für die Sicherheit zuständig. Der Rechtsanwältin und Publizistin war das zu riskant. Sie hat 1984 in Berlin den Anschlag eines türkischen Nationalisten nur knapp überlebt und seitdem immer wieder Morddrohungen erhalten.

    "Im Konfliktfall will ich dann lieber von Deutschland geschützt werden als von der Türkei, und so habe ich dann einen Essay geschrieben für die ZEIT, und daraus ist dann das Buch entstanden, weil ich mir natürlich in diesem Zusammenhang mit doppelter Staatsangehörigkeit Gedanken gemacht habe über Heimat, Identität, Demokratie, Verfassung."

    In jedem dieser Begriffe verbinden sich rationale Aspekte mit emotionalen Anteilen. Ates macht in ihrem Buch deutlich, dass Denken und Fühlen gerade bei politischen Fragen eng zusammengehören, auch was ihre Liebe zu Deutschland angeht - und Ates scheut sich nicht, diese Worte in den Mund zu nehmen. Den Untertitel ihres Buches hat sie dennoch bewusst anders gewählt: "Warum ich Deutschland lieben möchte."
    "Ich möchte Deutschland lieben, bedeutet: Lasst mich das tun, gönnt es mir, dass ich es tu. Menschen, die mich kennen, die mich erleben, wissen, dass ich eine Leidenschaft habe sowohl für die Türkei als auch für Deutschland und diese Leidenschaften sehr vergleichbar sind."

    Vergleichbar und doch anders. Denn wenn Ates von ihrer Kindheit in der Türkei erzählt, dann klingt darin eine melancholische Erinnerung an die heile Welt der Großfamilie an, ihre Leidenschaft für Deutschland dagegen hat viel mit dem Kampf des Individuums für Freiheit und Selbstbestimmung zu tun. Für Ates ist das kein Widerspruch, sondern eine Entwicklung.

    "Ich habe als Kind ein Wir-Bewusstsein gehabt, ich habe ein Wir-Bewusstsein gehabt, als ich mein Elternhaus verlassen habe, ich habe dann, das war nicht einfach, ein Ich-Bewusstsein gelernt, aber dadurch, dass ich das Ich-Bewusstsein gelernt habe, ich zu sagen und Ja zu mir zu sagen, habe ich nicht automatisch Nein zum Wir gesagt und auch nicht Nein zu meiner Familie und zu meinem sozialen Umfeld."

    Letztlich allerdings ist das Ich für die Autorin meist stärker als das Wir. Nirgends wird das so deutlich wie im Kapitel über die Religion. Ates bezeichnet sich selbst als gläubige Muslimin, doch in ihrer Kritik an religiösen Vorschriften und Traditionen stellt sie sich klar auf die Seite des Individuums. Das Kopftuch im Islam ist für sie ein Symbol für Geschlechterapartheid und die Beschneidung von Jungen hält sie - obwohl sie um ihre identitätsstiftende Bedeutung für Juden wie Muslime weiß - für derart gravierend, dass sie sie ohne die Zustimmung der Betroffenen nicht gutheißen kann.

    Mit diesen Positionen liegt Ates auf einer Linie mit den Einstellungen der Mehrheitsgesellschaft in Deutschland, und doch ist sie alles andere als eine Verfechterin von Anpassung an den Mainstream. Assimilation müsse sein, aber nur in Maßen.

    "Ein Teil Assimilation findet immer von alleine auch statt, wenn man eine längere Zeit in einer andern Kultur in einem anderen Land lebt. Das ist automatisch. Assimilation ist dann schlecht, wenn einem gesagt wird: Du hörst auf, deine Ursprungssprache zu sprechen oder eine andere Sprache zu sprechen, du hörst auf, andere Mahlzeiten zu dir zu nehmen, und wirst jetzt nur noch in dieser einen Kultur, in der du dich befindest, also wenn man jemandem aufzwingt und mit Verboten arbeitet, dann ist Assimilation schlecht, ansonsten ist Assimilation überhaupt nicht schlecht, sondern im Gegenteil. Selbstverständlich bin ich teilassimiliert, und das ist auch gut so."

    Eine Teilassimiliation sei auch deswegen wichtig, um ein Auseinanderdriften der ethnisch, kulturell und religiös zunehmend heterogenen Gesellschaft zu verhindern. Ohne ein Mindestmaß an gemeinsamen Regeln seien kein Staat und keine Demokratie zu machen.

    Ziel ist keine homogene Gesellschaft, sondern das unverzichtbare Maß an Gemeinsamkeit, an Einheit, der kleinste aber entscheidende gemeinsame Nenner. Und dieser kleinste gemeinsame Nenner ist die wirkliche Zustimmung zu der Rechtsordnung, auf der ein Staat ruht, im Falle Deutschlands die Zustimmung zu der an den universellen Menschenrechten orientierten freiheitlich-demokratischen Grundordnung mitsamt ihren Gesetzen.

    Der Verfassungspatriotismus ist das einigende Band, das Alteingesessene und Zuwanderer miteinander verbinden soll. Dabei ist Ates bewusst, dass das auf Dolf Sternberger und Jürgen Habermas zurückgehende Konzept für die Mehrheit der Deutschen eher eine Kopf- denn eine Herzensangelegenheit ist. Der Nation und dem Nationalismus erteilt Ates dagegen eine klare Absage. Das ist insofern erstaunlich, als sie sich durchaus wohlwollend auf Ernest Renan bezieht. Dieser hatte in seiner berühmten Rede "Was ist eine Nation?" an der Pariser Sorbonne die Nation als eine Solidargemeinschaft von Menschen beschrieben,

    die gemeinsame Erinnerungen an die Vergangenheit besitzen, gemeinsame Erfahrungen in der Gegenwart machen und den Wunsch teilen, gegenwärtig und künftig zusammenzuleben. Diese Bestimmung finde ich auch für eine multikulturelle Gesellschaft passend.

    Aber teilen "Urdeutsche" und Migranten diesen Wunsch wirklich? Ates nennt das Zusammenleben - vor allem zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen - an anderer Stelle eine desaströse Zwangsehe und fordert eine Paartherapie. Nur: Was wäre - um im Bild zu bleiben -, wenn der Therapeut eine Trennung empfiehlt? Für Seyran Ates ist das keine Option. Ihr Buch ist ein fulminantes Plädoyer für ein besseres und ehrlicheres Zusammenleben.

    Seyran Ates: "Wahlheimat. Warum ich Deutschland lieben möchte"
    Ullstein Verlag, 176 Seiten
    16,99 Euro