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''Plattform''

Ein bisschen Staunen und Naivität ist wohl immer noch erlaubt vor den Phänomenen des Marktes – der sich, unübersehbar angesichts speziell dieses Textes von Michel Houellebecq, immer wieder schier verzweifelt sehnt nach der mindestens vorletzten Entgrenzung; nach dem Wort, das auch nach dem Bruch anscheinend aller Tabus vielleicht doch noch einmal das Unsagbare les- und hör- und vielleicht sogar spürbar werden lässt: zu welchem Preis auch immer. Nicht aus übertriebener Scham und Prüderie, eher aus aufsteigender Langeweile davon hier nur so viel – "Plattform" berichtet von derart überbordender sexueller Aktivität, dass der gute alte Henry Miller als milder Klosterschüler aus vorvergangener Zeit verblassen muss und all die bienenfleißigen Erotomanien von John Updike bis Philip Roth nur mehr Bienenstich zum Kaffeeklatsch bei Tante Lieschen sind. Der Ich-Erzähler Michel jedenfalls und jenes Mädchen Valerie, das ihm auch dann nicht aus dem Kopf und von den Lenden weg will, als islamistische Terroristen sie ihm beim Angriff auf ein Touristenzentrum wie unlängst auf den Philippinen von der Seite weggebombt haben, vollziehen Akt um Akt in ziemlich atemloser Unterbrechungslosigkeit; und dazwischen beobachtet das Paar sich selbst und die vorzugsweise touristische Umwelt bei der unverstellten Gier, die dem zu Hause doch so braven Herrn Jedermann spätestens beim "check in" für den Bums-Bomber nach Bangkok aus den Augen zu leuchten beginnt.

Von Michael Laages | 02.06.2003
    Und gegen Ende, nach allerlei Erguss, entwirft Michel die Vision für die "Neue Welt" des ökonomischen Zusammenhangs – da die Menschen in der dritten bis vierten Welt im Grunde doch nichts mehr zu verkaufen hätten als sich selber und umgekehrt die Leistungsträger südlich-westlicher Zivilisation unter fortschreitendem Verlust sexueller Bindungsmöglichkeiten litten wie unter keiner anderen Seuche, müssten doch nur mehr Anbieter und Nachfrager zusammen gebracht werden auf diesem Markt der letzten Lüste.

    Derweil aber Michel so von den goldenen Aussichten für den weltumspannenden "Club Aphrodite" zu schwärmen begonnen hat, hockt die fatale Geliebte nur mehr apathisch hinter Plastikscheiben und berichtet vom Ausbruch allgegenwärtiger Gewalt in den Vorstädten der Metropolen, in unser aller Nachbarschaft; auch der Ausgleich des hormonellen Ungleichgewichts in der Welt mit den Mitteln des sexuellen Tourismus wird uns den Krieg der Kulturen wohl nicht mehr vom Halse halten können. Das nämlich schwärt und schwelt durchaus unter Houellebecqs Dauergefummel, das schwärt und brodelt hinter all der geifernden Maulhurerei: blanke Angst, tiefes Entsetzen, das Wissen vom Untergang. Im Splitterbomben- und MG-Angriff auf den Club in Pattaya geht nicht nur Valerie zu Grunde.

    Was für Phantasien hat auf dieser "Plattform" nun Andreas Kriegenburg entwickelt - dieser Regisseur, der mit Handwerk und Methoden der trendstiftenden Ost-Berliner Volksbühne seit nicht ganz zehn Jahren Inseln der Beunruhigung stiftet im westdeutschen Stadttheater; sich dabei allerdings neuerdings, speziell mit der gerade zum Berliner Theatertreffen eingeladenen "Orestie" an den Münchner Kammerspielen, nicht selten in quälender Beliebigkeit zu erschöpfen beginnt? Jedenfalls nicht gibt’s keine Peepshow im hannoverschen Ballhof – obwohl Harald Thors Bühne mit den auf zwei Etagen verteilten Apartment-Zimmern mit Gängen und Treppen dazwischen wie über einen Dachgarten durchaus genau an das erinnert; und zumal Michel und Valerie vorzugsweise hinter den Plastikscheiben dieser Wohnanlage agieren, hörbar nur über das Zimmer-Mikrophon: im Lauschangriff des Theaters sozusagen. Fünf Michels und zwei Valeries übrigens schauen wir zu beim Liebes- und Verzweiflungsspiel zu; und zu Beginn lässt Kriegenburg den Text noch zwischen den Figuren überlappen – kein Ich also, nirgends; der moderne Mensch –so will es die moderne Soziologie von Baudrillard bis Derrida, wie sie das Theater seit auch schon wieder zehn Jahren dem Publikum in die Hirne prügelt- ist nur mehr denkbar als Schemen wie als Abziehbild; noch im Bemühen um Erfüllung in höchster Lust.

    Na ja. Manchmal mag sich das Publikum, leicht ermattet unter derlei Dauerbeschuss, auch schon ächzend Luft machen – Probleme haben die da oben auf der Bühne ... In dieser Erschöpfung verliert sich auch Kriegenburgs "Plattform" zuweilen – weil immer auch alles ganz anders laufen könnte im Spiel der Akteure. Oft verharrt der zähe Abend (mit real und netto gut über zwei, gefühlt aber mindestens drei Stunden) im Zustand scheinbar völliger Beliebigkeit; Kenner mögen dann Spaß daran haben, die Verabredungen zu entdecken, durch die Kriegenburg Strukturen stiften lässt. Und das hannoversche Ensemble folgt denen mit unerschütterlicher, wenn auch gegen Ende ziemlich verbrauchter Energie. Doch was nun daran zwingend wäre, was diesen Text für das Theater unverzichtbar machen könnte: keine, wirklich keine Ahnung; tut mir leid.

    Aber halt: ein Detail von großer Schönheit und Intensität bleibt – ein Dutzend Chansons, von Kriegenburgs Dauer-Begleiter Laurent Simonetti komponiert nach Texten von Serge Gainsbourg. Auch die allein wären einen Abend wert.

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