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Playlists beim Musikstreaming
Hat der Algorithmus ausgedient?

Lange haben Musikstreaming-Anbieter auf Algorithmen gesetzt, um den Geschmack ihrer Nutzer zu scannen und zu bedienen. Inzwischen werden Playlisten aber immer häufiger von echten Musikkennern aus Fleisch und Blut erstellt. Dahinter steckt viel Kalkül.

Von Christoph Möller | 18.06.2016
    Musik aus dem Internet
    Streamingdienste setzen auf Menschen bei der Zusammenstellung von Playlists. (picture alliance / dpa / Daniel Bockwoldt)
    Eine Schlüsselszene im Film "High Fidelity". Plattenladenbesitzer Rob sitzt auf einem Ledersessel vor seiner Musikanlage und erklärt:
    "Ein gutes Mixtape zu machen, ist eine heikle Sache. Es gibt viele Sachen, die man falsch machen kann. Man benutzt ja schließlich die Kunst eines anderen, um seine eigenen Gefühle auszudrücken."
    Gefühle ausdrücken, das will Richard Wernicke mit seinen Playlists nicht unbedingt. Er will vor allem, dass sie von möglichst vielen Leuten abgerufen werden. Dafür muss er täglich neu überlegen: Welche Musik ist heute wichtig? Wie kann ich die Nutzer überraschen? Wernicke pflegt beim Streamingdienst Deezer den virtuellen Musikgarten.
    "Das Playlisting muss man sich so vorstellen wie so eine Art Kleingarten, da wird ein Beet angelegt und da wird dann ein Titel gesät, deswegen nennt sich das Ganze auch Playlist-Seeding. Ein Samenkorn wird ausgesät in der Hoffnung, dass es irgendwann aufgeht und Früchte trägt. Und so muss man sich das vorstellen auch bei Playlisten. Die müssen regelmäßig gepflegt werden, auf dass das dann auch wirklich sehr, sehr gut funktioniert."
    Deezer hat 40 Millionen Songs im Angebot, jeden Tag kommen 20.000 dazu. Bei anderen Streaminganbietern sieht es ähnlich aus. Kein Mensch kann das alles hören. Deshalb versuchen immer öfter sogenannte Editoren, den Nutzer an die Hand zu nehmen.
    Playlists für jeden Geschmack
    "Der Editor ist dazu da, die Perlen rauszufischen und dann in die einzelnen Genre-Playlisten zu überführen. Also jemand, der da beispielsweise Metal hört, bekommt dann auch die für ihn relevante Playlist mit dazu."
    Und wer Hip-Hop aus Deutschland mag, hört die Deutschrap-Playlist, wer entspannen will, die Calm-Down-Classical-Playlist. Und wer wissen will, was gerade angesagt ist, hört die Neue-Hits-DE-Playlist – zusammen mit 5,4 Millionen anderen. So viele Nutzer haben die Playlist bei Deezer abonniert und werden benachrichtigt, wenn ein neuer Song dazukommt. Aber warum braucht man für die Zusammenstellung plötzlich Menschen? Das Heilsversprechen der Streaminganbieter war doch: Unser Algorithmus ist so gut, er zeigt dir, was dir garantiert gefällt. Der Algorithmus kann aber nicht alles und da ist es wichtig, sagt Wernicke, ...
    "... dass der Human Touch reinkommt und gerade interessante Neuerscheinungen, die vom Algorithmus noch nicht aufgegriffen werden können, dann durch den Editor danach bearbeitet werden können."
    Der Algorithmus bei Deezer heißt Flow. Der Flow weiß, zu welcher Uhrzeit Nutzer eher schnelle oder langsame Musik hören, ob sie morgens eher Jazz oder Indie-Pop bevorzugen. Der Flow ist der virtuelle Schneider für popmusikalische Maßanzüge. Er weiß aber nicht, was draußen in der Welt passiert:
    "Jetzt mal als Beispiel: Bei VW gibt es den Abgasskandal. Dann habe ich mich hingesetzt und habe eine Playlist zu diesem Thema erstellt, die beginnt mit dem Käfer-Geräusch von Kraftwerks Single "Autobahn" und endet mit "Mercedes Benz" von Janis Joplin. Das heißt also, es gehört eine gewisse redaktionelle Komponente, aber auch ein gewisses Storytelling dazu, um diese Playlist interessant zu machen."
    Skip-Rate als Kriterium
    Wernicke arbeitet also ähnlich wie ein Musikkritiker oder ein Radio-DJ. Nur fehlt beim Streaminganbieter die persönliche Ansprache. Warum Wernicke einen Song auswählt, oder warum ein Song aus einer Playlist verschwindet, weiß der Nutzer nicht. Häufig ist der Grund banal: Der Titel kommt nicht so gut an wie gedacht.
    "Uns stehen Tools zur Verfügung, die sehr tief in die Daten reinschauen können. Also, wir sehen die sogenannte Skiprate, sprich: Wann springt ein Nutzer weiter oder auch wann bricht er ab?"
    So seelenlos das klingt, Musik mit Skiprate, so angesagt sind die Playlists. Mehr als die Hälfte aller Songs spielen die Nutzer über Playlists ab. Auch die Plattenfirmen umgarnen die Editoren: Wernicke hat jede Woche zehn sogenannte Calls: Labels rufen an und zeigen neue Musik, die er listen soll. Er hat Einfluss. Und weiß das auch.
    "Ich vermute mal, dass mittlerweile das Thema Musikentdeckung eher bei Streamingservices stattfindet als beim Radio."
    Den Radio-DJ, der die Hörer persönlich anspricht, ersetzen die Redakteure aber nicht. Trotzdem geht es darum, den Nutzer noch enger zu binden. Denn: Je mehr Songs abgerufen werden, desto höher sind die Werbeeinnahmen für den Streaminganbieter. Regelmäßig wird die Playlist durch kurze Werbespots unterbrochen, wenn man kein Abo abgeschlossen hat. Außerdem liefern sich die Streaminganbieter einen harten Konkurrenzkampf. Ihre Songkataloge sind nahezu gleich. Wer die besseren Playlists hat, kann sich womöglich gegenüber den anderen durchsetzen.
    "Einen guten Sampler zusammenzustellen, ist schwer, so schwer wie eine Beziehung zu beenden. Und dauert viel länger als man denkt. Ich habe schon wieder ein Tape im Kopf, ein besonderes, für Laura. "
    Sagt Rob, der Plattenladenverkäufer aus "High Fidelity". Letztlich steckt hinter Playlists eben immer ein Kalkül. Bei Streamingdiensten ein finanzielles. Bei der Liebes-Playlist ein amouröses. Nur sind persönliche Playlists – da hat Rob ja ganz Recht –, viel mehr Arbeit und haben einen höheren ideellen Wert.