Am Mikrofon begrüßt Sie Norbert Ely. Wenn ein Pianist so anfängt, dann weiß man, daß er rund eine halbe Stunde sehr schwieriger Musik vor sich hat. * Musikbeispiel: Franz Liszt - aus: Sonate h-moll So beginnt die Sonate h-moll von Franz Liszt, und so beginnt sie der russische Pianist und Dirigent Mikhail Pletnev auf einer CD, die bei der Deutschen Grammophon erschienen ist. Man soll Interpretationen nicht mit der Stoppuhr beurteilen. Aber wenn ein Pianist fast 34 Minuten für Liszts große Sonate veranschlagt, dann muß er seine Gründe dafür haben. Die Kollegen und Konkurrenten bewegen sich durch die verschlungene Welt dieses Werks durchschnittlich in 29 bis 30 Minuten. Horowitz war bei einer seiner Einspielungen noch wesentlich schneller, und Weissenberg durcheilte die Sonate sogar in weniger als 26 Minuten. Bei einem so außerordentlich reflektierten Musiker wie Pletnev darf man indes zu Recht annehmen, daß er seine Gründe hatte, sich so viel Zeit zu nehmen. Denn daß ihm das pianistische Vermögen zur Hand ist, die technischen Schwierigkeiten der Liszt-Sonate zu bewältigen, steht außer Zweifel, und er belegt dies auch in dieser Einspielung verschiedentlich. * Musikbeispiel: Franz Liszt - aus: Sonate h-moll Soweit bewegt sich Mikhail Pletnev durchaus im Rahmen der Konventionen. Er nimmt das Tempo geringfügig breiter, formuliert prägnanter, läßt sich nicht unbedingt fortreißen. Hier, im zweiten Satz, überschrieben mit "Grandioso" und "Recitativo" beginnt sein Versuch, die Sonate als eine groß angelegte Improvisation vorzuführen. Und dabei verliert er zunehmend den architektonischen Zusammenhang aus dem Blickfeld. Nun ist auch noch Liszts h-moll-Sonate ein Reflex auf das Beethovensche Sonatenwerk. Beethovens "Sonata quasi una fantasia - Sonate nach Art einer Fantasie" wurde von der Romantik mit der Fantasie nach Art einer Sonate beantwortet. Schumann ist da zu nennen, und Liszt widmete seine h-moll-Sonate dem Kollegen Robert Schumann. Der wiederum analysierte zum Beispiel einmal vier Impromptus von Franz Schubert dahingehend, daß er sie als imaginäre Sonate darstellte, womit Schumann vom Standpunkt der Romantik recht haben mochte, vom Standpunkt Schuberts unrecht. Nun zu Mikhail Pletnev und seiner Liszt-Interpretation. Tatsächlich spürt er in der h-moll-Sonate, vor allem in den beiden Mittelsätzen, quasi das Moment von Impromptu auf und geht ihm mit bisweilen quälendem Insistieren nach. Nun ist der Bestand an musikalischen Grundgedanken in diesem Werk eher bescheiden; es gibt eben keine Überfülle von Impromptus, von Einfällen. Vielmehr werden die Grundthemen immer wieder neu beleuchtet. Wenn dann ein Musikdenker wie Pletnev beinahe jedes Mal einen inzwischen alten Gedanken sich wie neu entwickeln läßt, ihn mit Bedeutung auflädt und dann die Phrase retardierend abschließt, verliert die Musik zunehmend ihren Zusammenhang. Der heiße Atem geht verloren, und Pletnev läßt sich auch an beinahe keiner Stelle vom rein Pianistischen, von der Lust am Davonstürmen, vom Feuer des Virtuosen fortreißen. Die Sonate geht eigentlich nie richtig los. Und dieses Moment von Lodern, von explosiver Energie gehört zu den formbildenden Momenten des Werks. Bei Liszt ist auch immer der Gestus Form; die Struktur allein trägt nicht ausreichend.
Hinzu kommt, daß der Flügel eher weich intoniert wurde, was die Grundtönigkeit des modernen Konzertinstruments verstärkt und die irisierenden Obertöne härter intonierter Klaviere erst gar nicht möglich werden läßt. Alles klingt dunkel, grüblerisch, bedenkend und bedenklich. Das Fugato beginnt Pletnev sehr dezidiert, fast ein wenig akademisch, und den berüchtigten Oktavpassagen fehlt die execution transcendente, wie Liszt das bei Gelegenheit seiner Etüden nannte, das Transzendieren der Virtuosität ins Poetische hinein, hier ins wild Poetische. Sogar in solchen Augenblicken sieht Pletnev - und zwar pianistisch souverän - auf die Solidität der Struktur. Dieser grandiose russische Musiker irrt bei dieser Einspielung mit bewunderswerter Konsequenz und auf allerhöchstem Niveau.
Da wundert es wenig, daß er bei der Dante-Sonate ähnlich vorgeht. Diese Sonate findet sich im zweiten Teil der Pilgerjahre, im Italien-Band, und sie ist nun tatsächlich "Fantasia quasi Sonata" überschrieben, als Antwort auf Beethovens Vorstoß mit der Sonate in Richtung Fantasie. Sie ist freilich in sich stärker geschlossen, lädt nicht so sehr zum Verweilen ein und wird in Pletnevs Deutung plötzlich ein gewichtiges Votum in der Auseinandersetzung um die Form der Klaviersonate.
Noch stärker zwingen einen die Funérailles aus den "Harmonies poétiques et religieuses" in den Bann. Sie entstanden unter dem Eindruck der Terrorprozesse gegen die ungarischen Revolutionäre von 1848. Hier schärft die dunkle Grundfarbe der Flügels die kühnen Harmonien des einleitenden Adagio. Dazu könnte durchaus der Graf Dracula auftreten. Und das "Lagrimoso" wird von Pletnev mit einer Andacht und Schönheit des Anschlags entwickelt, daß man über diese Einspielung wirklich glücklich sein kann. Und beim Siegesmarsch entdeckt Pletnev plötzlich sein großes Herz. Na also. * Musikbeispiel: Franz Liszt - aus: Funérailles Als Encore gibt's den Gnomenreigen, und hier tanzt Pletnev nach bester russischer Virtuosentradition wie ein Puck über die Tasten. Das war's dann auch schon heute in der Neuen Platte im Deutschlandfunk. Diesmal ging es um eine CD der Deutschen Grammophon - "Pletnev - Liszt". Am Mikrophon wünscht Ihnen Norbert Ely noch viel Vergnügen mit einigen Takten aus dem Gnomenreigen. * Musikbeispiel: Franz Liszt - aus: Gnomenreigen