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Plötzliches Weltvokabular

Stalingrad, Darfur, Fukushima. Auf der Weltkarte gibt es viele Orte, die nicht für ihre Jahrtausende alte glorreiche Kultur oder ähnliche langfristige Leistungen im kollektiven Gedächtnis sind, sondern für das kurzzeitig Schreckliche, das sich mit ihnen verbindet.

Von Burkhard Müller-Ullrich |
    Waterloo ist der Name einer kleinen und unbedeutenden Ortschaft im Süden von Brüssel. Vor dem 18. Juni 1815 war Waterloo noch sehr viel unbedeutender. Es gab ein paar Gasthöfe und ein paar Felder, nichts deutete darauf hin, dass Waterloo einmal der Inbegriff einer vernichtenden Niederlage werden sollte. Doch seit diesem Datum bezeichnet Waterloo nicht nur einen Ort, sondern eine Schlacht, einen Epochenbruch, ein Kapitel der Weltgeschichte. Orte und Daten sind eben immer verbunden, jedes Ereignis findet im Raum statt, und große Ereignisse werden nach Plätzen benannt.

    Traditionell gelten als große Ereignisse vor allem die schlimmen, das heißt: Kriege und Katastrophen, und die können irgendwo ausbrechen oder eintreten. Die Erdkarte ist gesprenkelt mit historischen Schlachtfeldern, deren Namen gleichsam aus dem Nichts in ewige Erinnerung gehoben werden: Marathon, Marignano, Gettysburg, von Stalingrad gar nicht zu reden ... Auch Erdbeben, Bergstürze und Überschwemmungen treffen wahllos unbescholtene Dörfer, deren Leid in ihrer Benennung erhalten bleibt. Pompeji ist dafür ein klassisches Beispiel. Das Gleiche gilt für technische Katastrophen, weil gerade Anlagen mit hohem Gefahrenpotenzial fernab von den Zentren und Metropolen errichtet werden, aber auch für Bergwerks- und Eisenbahnunglücke: Lengede und Eschede haben sich als Dramen und Tragödien in unser kollektives Gedächtnis eingeschrieben.

    Es gibt Orte, an denen klebt eine Grässlichkeit, die nicht vergeht; sie können es nicht ändern, dass mit ihrer Nennung immer wieder eine ungute Vergangenheit aufblinkt: Hoyerswerda und Lichtenhagen beispielsweise, wo die ersten fernsehtauglichen Pogrome der Nachwendezeit stattfanden, oder Gladbeck, wo eine Geiselnahme begann, die zum Medienereignis wurde und mit Mord endete.

    Es gibt Orte, die werden zum Synonym eines großen Verbrechens, mit dem sie absolut nichts zu tun haben: Etwa das schottische Städtchen Lockerbie mit seinen 4000 Einwohnern, über dem vor 22 Jahren ein amerikanisches Flugzeug in 9000 Metern Höhe von einer Bombe des libyschen Geheimdienstes zerrissen wurde.

    So kommt es, dass nie gehörte Namen plötzlich zum Weltvokabular gehören. Geschichte hat immer eine geografische Seite. Nicht nur in Deutschland, wo provinzielle Flecken wie Bonn oder Weimar problemlos in die Sphäre der Staatspolitik tauchen. Sondern überhaupt: Den Zustand der Welt überliefert ja schon die Bibel in Gestalt zweier Städtenamen: sie lauten Sodom und Gomorrha.