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Poesie des Prosameisters

Es war Abschiedswunsch des vor zwei Jahren verstorbenen Schriftstellers Walter Kempowski: Zu seinem 80. Geburtstag am 29. April 2009 wollte er seinen Gedichtzyklus "Langmut" veröffentlicht sehen. Posthum sind damit erstmals Gedichte von Kempowski zu lesen, der vor allem durch seine Prosa bekannt wurde.

Von Klaus Modick | 29.04.2009
    "Sieben Stäbe am Fenster,
    an der Wand die Ziffern von eins bis zwölf.
    Zehn Finger.
    Schritte ohne Zahl."

    So lautet eins der lakonischen, notizartigen Kurzgedichte aus dem Zyklus "Langmut", der, wie Walter Kempowski kurz vor seinem Tod verfügt hat, zu seinem 80. Geburtstag erscheinen soll, also am 29. April 2009.

    Das zitierte Gedicht evoziert in äußerster Kürze die Erfahrung seiner achtjährigen Haft. 1948 war der damals 19-jährige Walter Kempowski aus Rostock vom sowjetischen NKWD verhaftet, wegen Spionage zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt und ins Zuchthaus Bautzen eingewiesen worden. Nach acht Jahren wurde er 1956 vorzeitig entlassen, reiste nach Westdeutschland aus und wurde Lehrer. Parallel zu seiner pädagogischen Arbeit begann er zu schreiben und debütierte 1969 mit dem Buch "Im Block", einem Versuch, die Traumata der Bautzener Jahre zu bewältigen. Dem Debüt folgte sukzessive ein gewaltiges Prosawerk aus zahlreichen, beim Publikum meist sehr erfolgreichen Romanen, Tagebüchern, kleineren Schriften und schließlich der elfbändigen Großcollage "Das Echolot" - aber keine Lyrik.

    "Ich glaubte immer", hat Kempowski einmal gesagt, "dass ich nie ein Gedicht schreiben werde, und doch stieß mir die Stimme, wie Rilke sagt, eines Tages den Mund auf. Da wusste ich auf einmal, dass mit meinem Buch 'Im Block' noch nicht das letzte gesagt worden war über meine Haftzeit in Bautzen." Kempowskis "Langmut"-Gedichte, allesamt ohne Titel, umkreisen den denkwürdigen Widerspruch, ja die Paradoxie, dass die furchtbaren acht Bautzener Jahre für Kempowski nicht nur traumatisch waren, nicht nur ein Fluch: "Bautzen", hat er einmal gesagt, "war ein Segen für mich." In einem der Gedichte klingt das so:

    "Stille drängt in die Ohren!
    Schwingt in dich ein.
    Im Schlaf weckt es dich
    stark und streng.
    Und es hält an!
    Das ist der Ton,
    der dich fesselt.
    Er bleibt dir,
    wohin du auch gehst."

    Nach Bautzen kam Kempowski als ein ziemlich leichtfertiger Jüngling aus gut bürgerlichen Verhältnissen, deren Werte zu Floskeln und Fassade geronnen waren und in der kahlen und brutalen Realität des Zuchthauses endgültig pulverisiert wurden. Der Ton, den er auf diesem Nullpunkt seiner Existenz hörte, sollte zum Grundton seines späteren Schaffens werden, in dem er immer wieder versuchte, die verlorene Sicherheit eines bürgerlichen Lebens und bürgerlichen Selbstverständnisses zu erinnern und romanhaft zu rekonstruieren.

    Da Kempowskis Verhaftung auch die Inhaftierung seiner Mutter und seines Bruders nach sich gezogen hatte, wurde er von Schuldkomplexen gequält, und sein schriftstellerisches werk kann auch als Versuch verstanden werden, Abbitte zu leisten, Schuld abzutragen, das durch eigenes Zutun Zerstörte wiederherzustellen. In diesem Prozess, den Kempowski sich gewissermaßen selber machte, transzendierte er jedoch den persönlichen Rahmen und wurde zu einem der großen Romanciers, die nach der von Deutschen zu verantwortenden historischen Schuld im 20. Jahrhundert fragten. Das Ergebnis waren seine Romane der so genannten Deutschen Chronik und schließlich die Konstruktion einer Art Kollektivgedächtnis' im "Echolot".

    Insofern ist Kempowskis ganzes Werk ohne die Bautzen-Erfahrung nicht denkbar. Die siebenundsiebzig Gedichte, die "Langmut" versammelt, können als eine Art lyrische Coda dieses Werks gelten, als ein Ausklingen, in dem dieser Autor in knappen Impressionen noch einmal seine Schlüsselerlebnisse beschwört.

    "In der Nacht wird der Schemel tanzen
    und die Bettstatt stampfen.
    Mit dem Löffel spielt einer
    auf den Stäben ein Lied.
    Du klopfst, du pochst,
    aber niemand vernimmt es.
    Aber es bleibt."