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Poesie für Augen und Ohren

Eine neue Kunstform auf DVD. Poetry Clips sind so etwas ähnliches wie Pop-Songs als Musikvideos - allerdings ohne Musik. Sie sind flott und eingängig und maximal fünf Minuten lang. Es handelt sich dabei um den Versuch, Literatur in ein audiovisuelles Medium zu übertragen und den Vorgang des Lesens durch Vortragskunst zu ersetzen.

Von Jörg Magenau | 21.07.2005
    "Man riecht es. Man riecht es. Man kann es riechen, wenn man riechen kann. Im Einstein riecht die Mädchenhaut, so stell ich mir das vor, seit ich dort nicht mehr hingehen kann, nach schwarzem Kaffee, mit der Wirkung, die mit voller Wucht aufs Herz und auf die Sinne haut. So riecht sie dort, die Mädchenhaut. Im Kranzler aber riecht sie ganz vertraut nach Sahne und Baiser, die ganze Kuchentheke lang bis runter, wo in kleinen, feinen Bechern weißer Zucker ruht. Das Mädchen, das den Zucker in die Becher tut, riecht ach so gut an ihren Händen zuckersüß und grüßt und plauscht und tauscht mir meinen großen Schein in tausend Stückchen Zucker ein, die ich mir in den Nabel klebe dann und wann.
    Hier, riecht mal dran! Denn man riecht das, wenn man riechen kann. Man riecht ja dann: Bei H & M, bei H & M riecht jedes Girl nach ihrer Jeans."

    So beginnt Stephan Porombkas dramatisches Gedicht "Die Haut der Mädchen".
    Auf dem Bildschirm erscheint das Gesicht des Autors in Großaufnahme. Die Augen hält er anfangs geschlossen. Erst beim Wort "Mädchenhaut" öffnet er sie und schaut dem Betrachter direkt in die Augen, als suche er sein nächstes Opfer. In den Händen hält er - das sieht man erst, wenn die Kamera zur zweiten Strophe in größere Distanz geht - ein Messer und einen Schleifstein. Mit diesen Geräten erzeugt er ein rhythmisches Geräusch. Bald ist ein ganzes Arsenal an Messern zu sehen und sogar eine Bohrmaschine, und der Sprecher hantiert bedrohlich mit einem abgehäuteten Kaninchen. Kein Zweifel: Hier ist ein Wahnsinniger mit der Vorbereitung einer schrecklichen Tat befasst. Man riecht es, wenn man riechen kann.

    Stephan Porompka ist einer von achtzehn jungen Autoren, die auf DVD eine neue Kunstform erproben: die Poetry Clips. Poetry Clips sind so etwas ähnliches wie Pop-Songs als Musikvideos - allerdings ohne Musik. Sie sind flott und eingängig und maximal fünf Minuten lang. Es handelt sich dabei um den Versuch, Literatur in ein audiovisuelles Medium zu übertragen und den Vorgang des Lesens durch Vortragskunst zu ersetzen.
    Die Audio-CD hat sich in den vergangenen Jahren mehr und mehr als Ergänzung zum Buch etabliert. Das Hören besitzt gegenüber dem Lesen den grundsätzlichen Vorteil, dass man die Augen frei hat, um sich nebenbei auf den Autoverkehr oder aufs Bügeln zu konzentrieren. Für Poetry Clips braucht man aber Ohren und Augen, ist also ganz und gar gebannt. Poetry Clips sind eine offensive, ja aggressive Kunstform, die ihre Rezipienten direkt anspringt. An die Stelle des Lesers tritt der Zuschauer. An die Stelle des Buches der Bildschirm. Der Text wird zum Auftritt und der Dichter zum Darsteller. Im schlechten Fall entsteht eine vordergründige Aufdringlichkeit, im besten Fall aber etwas Lebendiges, das Schrift als geronnene Sprache nicht entfalten könnte. Von "Literatur im neuen Format"spricht der Spoken Word-Aktivist Bas Böttcher, einer der Herausgeber und Initiatoren der Poetry Clips auf DVD:
    "Als Bühnenautor bin ich sehr viel unterwegs und habe gesehen, dass es viele Missverständnisse gibt gegenüber der Bühnenliteratur. Viele Leute haben noch keine Gelegenheit gehabt, einen Poetry Slam zu sehen oder eine Lesebühne zu besuchen, und dann ist es eine schöne Gelegenheit, durch so eine DVD diese Texte audiovisuell zu vermitteln. Es kommt noch dazu, dass diese Texte der Lesebühnen oft auch auf Rhythmus, Klang und Dynamik basieren, und das ist natürlich eine Dimension, die dann im Buch oft verloren geht. Deswegen haben wir gesagt, wir wollen ein audiovisuelles Medium schaffen, um die Texte der Bühnenliteratur zu transportieren."

    Doch das war nur der Ausgangspunkt. Tatsächlich sind Poetry Clips etwas Eigenständiges, da es sich dabei weder um traditionelle Lesungen, noch um Live-Auftritte handelt. Keiner der Beteiligten sitzt vor seinem Buch. Der Clip ist das Medium. Der Text ist frei zu sprechen. Die stilistische Bandbreite ist enorm. Sie reicht von Kurzgeschichten über komödiantische Szenen bis zum Rap und anderen lyrischen Formen. Doch alle Autoren - Frauen sind nur eine Minderheit - müssen sich überlegen, wie sie ihre Texte inszenieren und an welchem Ort ihr Auftritt stattfinden soll. Je nachdem, ob sie sich für einen S-Bahnhof, eine Straßenkreuzung, den Balkon in einer Plattenbausiedlung, ein Rapsfeld oder ein Zimmer mit Blümchentapete entscheiden, verändert der Text seinen Charakter. Gemeinsam ist ihnen allen aber die direkte Ansprache ans Publikum. Die Autoren schauen genau in die Kamera, als müsse ihr Publikum regelrecht festgenagelt werden:

    "Wir haben uns vier Jahre damit beschäftigt, wie man diese Bühnentexte inszenieren kann, und es sind auch einige Fehlversuche dabei herausgekommen, die mussten dann leider aus der Auswahl herausfallen. Aber festgestellt haben wir, dass der Blickkontakt zum Autor und die Atmung und die Rhythmik ganz zentrale Elemente sind. (...) Man muss wieder bei Null anfangen und überlegen, was kann ich machen, was kann ich schaffen, was eben fürs Wohnzimmer adäquat ist. Und ich denke, der Poetry Clip transportiert das, der hat ja auch nicht diese Livesituation im Sinne von Mikrophon und Publikum und Buch, sondern der transportiert ein viel persönlicheres Moment. Der ist intimer als die Bühnensituation beim Poetry Slam, wo dann auch viel getrunken wird, dazwischen gegrölt wird, viel geraucht wird. Da ist es eng, ein bisschen stickig, das Licht ist gedämpft. All das findet im Clip nicht statt, sondern man ist mit dem Autor alleine und kann sich diesen Text persönlich, direkt ins Gesicht sagen lassen. Und in die Augen schauen und sich eben die Geschichten anhören, die von ganz unterschiedlichen Themen handeln.

    Poetry Clips zielen auf "das Jetzt, den lyrischen Augenblick". Dieser Augenblick kann - so bei Tanja Dückers - in eher brav aufgesagten Versen bestehen oder - so bei Timo Brunke - in einer kunstvollen Rezitation.

    Brunkes Beitrag ist tatsächlich nur als Sprechakt und nicht als geschriebener Text möglich. Er wehrt sich gegen den Vorwurf eines Freundes, "eine Meise" zu haben, verfällt aber während seines Dementis allmählich ins Zwitschern. Das heißt: Natürlich nicht er selbst, der Autor, sondern die Rolle, in die er schlüpft. Viele Poetry Clips sind in Ich-Form gehalten und wecken ganz gezielt den Anschein der Authentizität - ganz so, als ginge es wirklich darum, eine persönliche Botschaft zu verbreiten. Das verleitet dazu, Autor und Ich-Erzähler noch leichter miteinander zu verwechseln als in geschriebenen Texten.

    Eine echte Entdeckung ist Sebastian Krämer, der überzeugend einen durchgeknallten Spießbürger mimt. Während er mit Schwämmchen und Bügeleisen seinen Haushalt in Ordnung bringt, überlegt er, wer wohl am Montag, wenn er auf Arbeit ist, sein Paket annehmen könnte. Er hat nämlich bei E-Bay eine rustikale Atombombe, Baujahr 1940 ersteigert, um endlich Rache zu nehmen an allen, die es verdient haben.

    Sehr schön wird von Wolf Hogekamp und Felix Römer die Möglichkeit der Ich-Verdoppelung genutzt. Da sieht man den Autor im problembewussten Zwiegespräch mit sich selbst - Schnitt und Gegenschnitt machen es möglich.

    Ansonsten: Viel Sex & Drugs & Rock'n'Roll. Mit-Herausgeber Wolf Hogekamp, der bei vielen Clips auch Regie führte, ironisiert diese thematische Erwartung aber auch gleich wieder. Dabei steht er, bewehrt mit einer spiegelnden Sonnenbrille, auf einem S-Bahnsteig:

    "Morgens kann man unmöglich in Ruhe Drogen nehmen, weil, dann klingelt's an der Tür, und da stehn dann Leute, die behaupten, sie beschäftigen sich mit deinen Schulden. Abends kann man unmöglich in Ruhe Drogen nehmen, dann klingelt's wieder an der Tür, und dann stehn da deine Freunde, und die sind wie immer maßlos. Nachts kann man unmöglich in Ruhe Drogen nehmen, weil, wenn du nachts in Bars in Ruhe Drogen nehmen willst, dann giltst du als unzuverlässig und sprunghaft.

    Mit den Poetry Clips verändert sich das Anforderungsprofil an den Schriftstellerberuf grundsätzlich. Gefragt ist nicht der schüchterne Poet aus der Dachkammer, sondern der extrovertierte Performer, der sich zu inszenieren weiß. Das ist auch auf einer anderen DVD zu beobachten, die vom Literarischen Colloquium Berlin herausgegeben wurde. Unter dem Titel "Entdeckungen" präsentiert das LCB 18 junge Autorinnen und Autoren in einem digitalen Literatur-Magazin. In der 2. Ausgabe sind da unter anderem Kristof Magnusson und Sandra Niermeyer zu finden, die im Herbst ihre ersten Prosabände veröffentlichen. Dem LCB geht es darum, junge Schriftsteller schon vor der ersten Publikation vorzustellen und ihnen die Möglichkeit zu bieten, sich selbst darzustellen - in Schrift, Wort und Bild. Dabei wird allerdings - im Unterschied zu den Poetry Clips - zwischen Text und Selbstinszenierung scharf getrennt. Auf einer CD-ROM kann man die Texte lesen und - von den Autoren gesprochen - als Tondokumente hören. Auf DVD gibt es dazu kurze Filmporträts, die in den meisten Fällen direkt im Literarischen Colloquium oder im zugehörigen Garten am Wannsee entstanden sind: Jungautoren sprechen über sich selbst und ihr Schreiben und sitzen dabei auf einer Parkbank oder auch direkt am Schreibtisch. Die Peinlichkeit dieser Übungen ist den meisten bewusst. Erträglich werden sie nur dann, wenn sie ironisch gebrochen sind und wenn da nicht jemand ernsthaft zu erklären beginnt, warum und worüber er schreibt. Der Gebrauchswert dieser Porträts ist begrenzt, denn es ist ja nicht unbedingt erforderlich zu wissen, wie jemand aussieht, um beurteilen zu können, wie er schreibt.

    Bei Poetry Clips ist das anders, weil die Autoren hier zu Schauspielern werden, die etwas anderes darstellen als bloß sich selbst. Doch wenn der Performer über den Autor triumphiert und es wichtiger wird, wie einer etwas sagt, als was er sagt, dann muss die Frage erlaubt sein, warum für Poetry Clips nicht gleich Schauspieler engagiert werden, die das noch besser können. Dann könnten sich auch schüchterne Dachkammerpoeten am Schreiben vom Poetry Clips versuchen.

    Wolf Hogekamp und Bas Böttcher (Hg):Poetry Clips [Vol. 1] DVD, Verlag Voland & Quist
    15,- Euro

    Literarisches Colloquium Berlin (Hg): Entdeckungen 2. Neue Autoren stellen sich vor
    CD-Rom und DVD
    19,90 Euro.