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Poesie und Porno

Im kalifornischen San Fernando Valley ist Larry Sultan aufgewachsen, und als er groß war, begann er diese Welt neu zu erkunden und zu vermessen - mit der Kamera. Einer seiner drei Werkzyklen, die jetzt in Hannover gezeigt werden, vertieft die Erkenntnis: Pornografie und Suburb sind keine Gegensätze.

Von Carsten Probst | 19.06.2010
    "Katherine Avenue 4800. Geh die Straße hinunter, und du kommst direkt hin. Für mich war es der Mittelpunkt der Erde. Es war die Straße meiner Kindheit, und dort war das einzige Zuhause, das je für mich Bedeutung hatte."

    Larry Sultans auch unter literarischen Gesichtspunkten bemerkenswerte Texte, die er seinen Bildern und Ausstellungen beifügt, geben den Ton vor, einen auffallend ruhigen, klaren, ja geradezu epischen Ton. Text und Bild entsprechen sich weniger durch die vielfältigen theoretischen Grundierungen, die es ebenfalls in Sultans Werk gibt, als vielmehr durch die wundersame wechselseitige Ergänzung von Sprache und Bildaufbau.

    In der zwischen Mitte der 80er- und Anfang der 90er-Jahre entstandenen Serie "Pictures From Home" hat Sultan - wie schon in früheren Arbeiten - vorgefundenes Fotomaterial zum Ausgangspunkt genommen. Eigentlich war "Pictures From Home" als Künstlerbuch konzipiert. Sultan versammelte Schnappschüsse aus dem Familienalbum seiner Eltern, Filmstills von Super8-Aufnahmen und eigene Fotografien, die er, als Absolvent der Politologie wie der Fotografie, zu einer ironisch-gespenstischen Dokumentation des Familienlebens der Reagan-Ära zusammenstellen wollte.

    Doch das ganze Vorhaben verwandelte sich im Verlauf seiner Ausführung. Der Blick verlor die Distanz, wie Sultan schreibt, er hatte plötzlich "weniger mit Soziologie als mit Liebe" zu tun. Die Fotografien entlarven nun nicht mehr, sie entziehen sich nicht, sondern tauchen ein in die staffagenhafte Welt des künstlichen Bürgerparadieses in den Vorstädten von San Fernando, Kalifornien. Wasserfontänen aus Rasensprengen legen ihren schillernden, von Sonnenstrahlen durchtränkten Schleier über die akkurate Garten- und Wiesenlandschaft mit ihren Palmen und Bungalows.

    Das naturschöne Grün der Gärten setzt sich in den künstlichen Grüns von Tapeten und Teppichen des häuslichen Bereichs fort, und die melancholisch sinnende Figur des Vaters gibt sich der Feierabendstimmung auf der Veranda hin.

    Bilder werden zu Bühnen einer widersprüchlichen Intimität, die die Regeln dieses Lebens in einem fast kafkaesken Balanceakt adaptieren und den Wirklichkeitscharakter der Bilder auf eine harte Probe stellen. In seiner folgenden Serie "The Valley" (1998-2004) treibt Larry Sultan seine Heimatrecherchen an den unweit seines Elternhauses gelegenen Produktionsorten für die kalifornische Pornoindustrie voran. Zwar hat gerade diese Serie Sultan wegen ihres anrüchigen Inhalts in den USA berühmt gemacht, aber ihm geht es dabei weniger um die Entlarvung der Pornoindustrie selbst. Diese erscheint bei Sultan eher als konsequente Fortsetzung der Heimatwelt. Die betuchten Hausbesitzer vermieten ihre Bungalows samt Mobiliar an die Pornoproduzenten. Die in den Sexstreifen umgesetzten Sehnsüchte nach Begehren und Intimität fügen sich bruchlos in die Interieurs der bürgerlichen Behaglichkeit ein. Die expliziten Sexszenen streift Sultan dabei nur am Rand seiner Bilder. Sein Augenmerk gilt den Häusern, Möbeln, Zimmerpflanzen und Swimmingpools, die dem, was es im Haus seiner Eltern auch gab, so sehr ähneln.

    Ebenso doppelbödig Sultans dritte Serie zum Thema, "Homeland", an der Sultan bis zu seinem Tod im Dezember 2009 gearbeitet hat. In ihr verdichtet er den Begriff der Heimat auf die Rückzugsorte seiner Kindheit:

    "Ein kleines und langsam verschwindendes Stück Paradies, das außerhalb der Grenzen von Besitz und Eigentum existierte."

    Sultan heuert mittelamerikanische Tagelöhner an, die als Darsteller bei seinen Aufnahmen der kindlichen Rückzugsorte dienen sollen. Sie verkörpern für ihn "jenes Leben in Randgebieten und Übergangszonen, die für die meisten von uns unsichtbar bleiben." Sie haben nichts mit den biografisch besetzen Orten zu tun, an die Sultan sie für die Aufnahmen dirigiert, sie bleiben Fremdkörper. Doch zugleich teilt er mit ihnen diese Ambivalenz, in der Heimat nichts anderes bedeutet als eine spezifische Form von Einsamkeit. Sie ist unteilbar.

    Es ist das erste Mal, dass Larry Sultans herausragendes Werk in einer führenden deutschen Kunstinstitution wie der Kestnergesellschaft mit einer Einzelausstellung gezeigt wird. Besonders bemerkenswert daran aber ist, wie lange es hierzulande ignoriert worden ist. Denn in den USA und weiten Teilen Europas zählt Larry Sultan seit Jahrzehnten zu den Klassikern der konzeptuellen Fotografie.