Freitag, 29. März 2024

Archiv


Poet mit feuchtem Auge

Die Kalendergeschichten, die von Johann Peter Hebel im Buch "Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes" zusammengetragen wurden, gehören zur berühmtesten Anekdotensammlung der deutschen Literatur. Heute vor 250 Jahren wurde der Schriftsteller geboren.

Von Christian Linder | 10.05.2010
    "Was ist das Leben ohne Täuschung, oder wie es andere nennen ohne Poesie?"

    Nach diesem Motto hat Johann Peter Hebel seine berühmten Kalendergeschichten geschrieben. "Lehrreiche Nachrichten und lustige Geschichten", wie er selber meinte, geschrieben aber auch mit einem feuchten Auge, denn nur das "feuchte Auge" eines Schriftstellers, meinte einer der späteren Bewunderer Hebels, Heinrich Böll, könne die Dinge durchsichtig und durchschaubar machen, und Böll erinnerte in diesem Zusammenhang daran, dass das lateinische Wort für Feuchtigkeit "humor" sei. Ein feiner Humor, der nie auftrumpfen will, sondern von den Schwierigkeiten weiß, sich in einer Welt, deren Zweck ihre Veränderbarkeit ist, zurecht zu finden.

    "Der Mensch hat wohl täglich Gelegenheit, in Emmendingen und Gundelfingen so gut als in Amsterdam Betrachtungen über den Unbestand aller irdischen Dinge anzustellen, wenn er will, und zufrieden zu werden mit seinem Schicksal, wenn auch nicht viel gebratene Tauben für ihn in der Luft herumfliegen."

    So beginnt eine der berühmtesten Geschichten Hebels, "Kannitverstan." Sie erzählt von einem deutschen Handwerksburschen, der nach Amsterdam kommt und sich über die Pracht der Häuser und Schiffe und Blumen wundert und herumfragt, wem das alles gehöre. "Kannitverstan", lautet jedes Mal die Antwort, und dieses "Ich kann Sie nicht verstehen" hält der Besucher für den Namen des Mannes, dem das alles angeblich gehört. Dann wird er Zeuge eines Leichenzugs. Wer denn da gestorben sei, will er wissen. Und wieder hört er "Kannitverstan" und denkt:

    "Armer Kannitverstan, was hast Du nun von all Deinem Reichtum … Mit diesem Gedanken begleitete er die Leiche, als wenn er dazu gehöre, bis ans Grab … Wenn es ihm (später) wieder einmal schwer fallen wollte, dass so viele Leute in der Welt so reich seien und er so arm, so dachte er nur an den Herrn Kannitverstan in Amsterdam, an sein großes Haus, an sein reiches Schiff und an sein enges Grab."

    Schon früh zeichnete sich der Erfolg Hebels bei einem großen Publikum ab. Geboren am 10. Mai 1760 in Basel, wuchs er dort und in dem Geburtsort der Mutter, dem Dorf Hausen im Wiesenthal auf. Das Dorf hat er immer als Heimat verstanden und seiner Sehnsucht nach ihr in seinen "Alemannischen Gedichten" einen, wie Goethe empfand, "anmutigen" Ausdruck verliehen.

    Als das Buch – zunächst anonym – 1803 erschien, hatte Hebel die Wiesenthaler Heimat längst verlassen: Nach dem frühen Tod der Eltern ging er in Karlsruhe zur Schule und wurde – nach einem Theologiestudium in Erlangen – Hauslehrer und Vikar bis er der Berufung an ein Gymnasium folgte; während einer Dienstreise als Prälat der evangelischen Kirche starb er 1826 in Schwetzingen - als hochgeachteter Autor. Denn nach den im Wiesenthaler Dialekt geschriebenen "Alemannischen Gedichten" hatte er sehr schnell die kristallklare Sprache der Kalendergeschichten entwickelt, an der viele Schriftsteller später Maß genommen haben.

    Circa 30 Geschichten verfasste er pro Jahr für den "Rheinländischen Hausfreund", kurze, prägnante Parabeln, in denen er vom Aufenthalt der Menschen in der Welt erzählte, davon, welche Irrtümer sie produzieren, aber auch zu welchen Erkenntnissen sie vordringen können. Die Geschichten wurden bald so populär, dass Hebel sie 1811 in dem Band "Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes" sammeln konnte. Ein fleißiger Schreiber – und als Schriftsteller auch ein großer Pädagoge, der zum Beispiel, "für die Jugend bearbeitet", biblische Geschichten erzählte. Den Blick für Geheimnisse der Welt und des Lebens und für die göttliche Herkunft des Menschen zu schärfen, ist ihm vielleicht am schönsten gelungen in der Geschichte "Unverhofftes Wiedersehen." In Falun, in Schweden, versprechen sich zwei junge Liebende die Ehe. Doch der Mann, ein Bergarbeiter, kommt kurz vor der Hochzeit unter Tage zu Tode, sein Leichnam wird erst fünfzig Jahre später gefunden – überraschenderweise völlig konserviert, weil der Körper von Eisenvitriol durchdrungen ist. Niemand erinnert sich an den Jüngling, bis seine Verlobte, inzwischen eine alte, gebrechliche Frau, ihn erkennt. Als der Tote beerdigt wird, begleitet ihn die Frau in ihrem Sonntagsgewand,

    "als wenn es ihr Hochzeitstag und nicht der Tag seiner Beerdigung wäre. Denn als man ihn … ins Grab legte, sagte sie: ‚Schlafe nun wohl, noch einen Tag oder zehnen im kühlen Hochzeitsbett. Ich habe nur noch wenig zu tun und komme bald, und bald wird’s wieder Tag. Was die Erde einmal wiedergegeben hat, wird sie zum zweiten Mal auch nicht behalten.’"