Archiv


Poetischer Zauberer und Abenteurer

Für den tschechischen Dissidenten und späteren Präsidenten Václav Havel war er der "große poetische Zauberer". Sein Freund Jaroslav Seifert nannte ihn einen "schwarzen Engel", einen "Abenteurer, selbst wenn er sich nicht von seinem Schreibtisch erhob".

Von Simone Hamm |
    Vladimír Holan war tatsächlich ein sesshafter Mann, sein ganzes Leben verbrachte er in seiner Heimatstadt Prag. Von "Holanesien" aus, wie Zeitgenossen sein Haus an der Moldau nannten, eroberte der Dichter die Kontinente der Poesie und stieß dabei in die Gefahrenzone des politischen Widerstands vor - Expeditionen im Alleingang, risikoreich und kompromisslos.

    Sein Debüt gab Vladimír Holan in den zwanziger Jahren unter der Flagge des Poetismus, einer Strömung der tschechischen Avantgarde, die mit ihrer verspielten, optimistischen Kunst "aus dem Leben ein großes Unterhaltungsunternehmen" machen wollte, wie ihr Theoretiker Karel Teige verkündete. Doch Anfang der dreißiger Jahre stieg Holan aus dem poetistischen Amüsierbetrieb aus und annullierte seine beiden ersten Gedichtbände. Ein radikaler Kurswechsel führte ihn ausgerechnet zu den Symbolisten, gegen die sich zu Beginn des Jahrhunderts die Avantgarde formiert hatte.

    Vladimír Holan kehrte zur Formstrenge Mallarmés, Rilkes und Valérys zurück. Umso kühner und irritierender wirkten die Verstöße gegen die Grammatik und die neu erfundenen Wörter, die er in den klassischen Bau seiner Gedichte einschleuste.

    Er übernahm nicht nur das poetische Inventar der Symbolisten, sondern auch deren hohen Dichterbegriff: der Poet als Priester und Seher, der mithilfe der Sprachmagie den Sinn und die Zusammenhänge hinter den Phänomen der realen Welt erschließt. In Holans - nach neuer Zählung - erstem Gedichtband "Das Wehen" finden sich noch Anklänge an Rilke, den der Dichter auch ins Tschechische übersetzte. Doch seine eigene Stimme ist bereits stark und unüberhörbar.

    "Kranke Liebe
    Die Wolke schmiedet auf dem Wasseramboß heut
    Sandalen sich aus Licht, sie hat vom Stehn genug.
    O Frühling, der im Hammer pocht! Den Funkenflug
    siehst du im Juni erst - zu Seerosen verstreut.

    Und dieser Hammer, der von irgendwo noch schwingt,
    er schlägt dein Herz und meines an.
    Die Blüte mag wohl aufgehn, die aus Funken springt,
    wir wissen nur nicht, wann.

    Die Wolke schmiedet auf dem Wasseramboß heut
    Sandalen sich aus Licht, sie hat vom Stehn genug.
    O Frühling, der im Hammer pocht! Den Funkenflug
    siehst du im Juni schon - zu Seerosen verstreut."

    Urs Heftrich, Mitherausgeber und Übersetzer des Bands, lässt die Ausrede von der Unübersetzbarkeit gereimter Lyrik nicht gelten - seine Übertragungen erreichen die Qualität von Nachdichtungen, ohne sich deren Freiheiten herauszunehmen. Wer das Tschechische beherrscht, wird besondere Freude an der deutschen Ausgabe haben - denn sie liefert das tschechische Original jeweils auf der linken Seite mit.

    Der zu Vladimír Holans 100. Geburtstag erscheinende Band Lyrik I vereint die ersten drei Gedichtbände, die er nach der Hinwendung zur "reinen Poesie" in den dreißiger Jahren publizierte. Auch im zweiten und dritten Gedichtband ist das symbolistische Erbe präsent - aber schon benetzt der Dichter das "Blütenohr" mit "Wörtertau", Sprache und Poesie werden zum lebendigen Gegenstand seiner Gedichte: "Willst du, entsetzter Vers, als Täubchen dich beschweren?"

    Vladimír Holan nimmt einen weiteren poetischen Horizont in den Blick: die Kommunikation des Dichters mit der Dichtung selbst. In seinem schönen und hilfreichen Nachwort verwendet Urs Heftrich das Bild des Schneckenhauses, "in dem sich die Dichtung in sich selbst einrollt".

    "Doch wir, mein Buch? Ein Sturz von Ausrufzeichen,
    ein Rabenfraß, der facht die längste Nacht
    dir an, im Wortjahr ohnegleichen."

    Zusammen mit Wort, Vers und Buch zieht die eigentliche Hauptdarstellerin in Holans Kosmos ein: die Nacht. Sie vertritt das Dunkle und Unergründliche, das der Dichter als Konstante menschlichen Seins und Daseins erkennt:

    "Es gibt da etwas zwischen Leib und Seele, das bleibt immer
    so dunkel wie die Teerschicht zwischen Boot und Welle."

    Mitte der dreißiger Jahre quittiert Vladimír Holan seinen Dienst bei einer Prager Behörde. Der bürgerliche Brotberuf verträgt sich nicht mit dem Dichteramt, wie er es versteht. Doch die Tage seines reinen Poetentums sind ebenso gezählt wie die der ersten tschechischen Republik - die faschistische Bedrohung Europas macht aus Vladimír Holan einen hellsichtigen Kommentator: "Das Blut ist angezapft, das Fass des Trauerspiels erdröhnt", schreibt er 1937 in seinem Gedichtband "Stein, kommst du …".

    Während Holans Diktion knapper und schroffer wird, bleiben seine poetischen Gespinste subtil und schwer entschlüsselbar. So gelingt es ihm während der deutschen Okkupation der Tschechoslowakei immer wieder, die Zensur zu unterlaufen.

    Seine Landsleute verstanden - und liebten ihn dafür. Vladimír Holan wurde zur heimlichen Kultfigur. Aber nicht immer chiffrierte er seine Botschaften: Verse wie die folgenden mussten die deutschen Machthaber als offene Drohung verstehen. Sie wurden natürlich nicht gedruckt, und der Dichter setzte mit ihnen sein Leben aufs Spiel:

    "Es gibt Parks. Es gibt Nächte. Die Nacht schwillt an.
    Es gibt die Aufschrift: Verbot!
    Macht nichts … Wir warten dann
    eben aufs Morgenrot."

    Wie durch ein Wunder überstand Vladimír Holan die Naziherrschaft und fand sich, nach anfänglichem Jubel über die sowjetischen Befreier, in einer neuen Diktatur unter kommunistischem Vorzeichen wieder. 1949 fiel er in Ungnade, zur Angst gesellte sich die materielle Not.

    In diesen "grausamsten Jahren seines Lebens", wie er sie nannte, akkumulierte er den Stoff und die Wut für sein größtes und bekanntestes Werk: den 1000 Verse umfassenden vielstimmigen Gesang "Nacht mit Hamlet", ein großes episches Gedicht, an dem er sieben Jahre, von 1949 bis 1956, schrieb: eine Abrechnung mit seinem Jahrhundert, ein bitteres Resümee seines Lebens.

    Reiner Kunze hat das Poem ins Deutsche gebracht, vor zwei Jahren bildete es den Auftakt zur tschechisch-deutschen Ausgabe der Gesammelten Werke. Seine "Nacht mit Hamlet" hat Vladimír Holan 1964 auf Band gesprochen:

    "Noch immer suche ich ein kleines gratisrestaurant,
    dessen fensterchen kein guckloch wäre
    in der tür der zuchthauszelle, das
    den sträfling wärterblicken aussetzt, das
    spion heißt …
    ‚Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen!’ Ja,
    aber was ist arbeit? Treu sein seinem uneigennützigen los -
    oder ablaßhändler sein
    beziehungsweise beflissener heizer im krematorium,
    das thermometer einführn in den mastdarm des krieges
    oder singen müssen bei der weinlese
    zum zeichen, daß du keine beeren ißt,
    den pferden ins maul schaun oder als henker
    den wesen vor der hinrichtung die nüstern reißen."

    Ab 1963 durfte Vladimír Holan wieder publizieren. Seine "Die Nacht mit Hamlet" erlebte in einer szenischen Lesung über 150 Aufführungen auf einer kleinen Prager Bühne. 1969 wurde der Dichter zwar für den Nobelpreis vorgeschlagen, doch in seiner Heimat brach für ihn nach 1970 wieder eine lange "Zeit des Schweigens" an. Ihr Ende hat Vladimír Holan nicht mehr erlebt - er ist 1980 in Prag gestorben.