"Ja, dann würde ich sagen: Thorge und Maria einmal auf die Bühne mit einem großen Applaus!"
Die erste Slam-Runde hat sie gewonnen. Jetzt folgt das Finale: Maria gegen Thorge - den Zweitplatzierten.
"Heute ist der Tag der schriftlichen Mathe-Abiturprüfung, ich schlafe seit Wochen nicht mehr. Ich habe nichts gelernt und bin perfekt vorbereitet."
Klein, zierlich, mit schwarzem T-Shirt und Batman-Leggings steht sie auf der Bühne und spuckt im Stakkato Sätze ins Mikrofon. Ein Rhythmus, der unaufhörlich nach vorn treibt. Die schwarz geschminkten Augenlider klappern im Takt.
"JA, ICH WILL dieses Gebäude verlassen und nie wieder betreten, ich will Stroboskoplicht statt Energiesparlampen, denn ich habe mir alles anders überlegt! Ich will ein externes Gehirn mit Touchscreen, das ich an der Garderobe abgeben kann, damit ich keine Angst haben muss, wenn jemand Bier darüber auskippt, ich will tanzen tanzen tanzen zum Remix vom Remix von „One Day (Reckoning Song)“, schon wieder und immer noch, weil 2012 gerade vorbei genug ist, ich will auf Glasscherben kauen und weiterlächeln mit Zahnlücken und all die Leute küssen, deren Hass auf mich immer schon ein gegenseitiges Einverständnis war, 'cause one day, baby, we’ll be old, oh baby, we’ll be old."
Maria schildert - wie in vielen ihrer Texte - emotionale Grenzerfahrungen. Zustände kurz vorm Kollaps. Ihre Figuren rebellieren gegen den Druck, sich anzupassen, resignieren vor Erwartungen, quälen sich mit Selbstzerstörungsfantasien, Angst und Einsamkeit. Autobiografisch - versichert sie - sind ihre Geschichten nicht.
"Ich hab natürlich einen persönlichen Bezug zu meinen Texten, ich fühle mich einfach sehr stark darin ein und versuche. mich selbst beim Schreiben und während des Schreibens in die Zustände zu bringen, die meine Figuren da durchleben, aber ich könnte nicht wirklich einen biografischen Text so schreiben, dass ich zufrieden damit bin, weil mir die Distanz dazu fehlt."
Ihre ersten Texte waren Reflexionen über Musik. Fasziniert von düsteren Gitarren- und Metalklängen schrieb die Elfjährige auf, was sie fühlte.
"Und hab mich auf der Suche nach Worten, die meine Ideen, meine Zustände am allerbesten, am allergenauesten beschreiben, eben immer weiterentwickelt. Und irgendwann haben die Ideen sich verselbstständigt und dann hab ich eben angefangen, Kurzgeschichten zu schreiben."
Seit einem Jahr liest sie ihre Texte auch vor Publikum. Erst bei der U-20-Gruppe im Lübecker Jugendliteraturhaus Bücherpiraten, inzwischen bei Poetry Slams in der ganzen Republik. Ihr Ehrgeiz - gesteht sie - ist so ausgeprägt wie ihr Hang zur Selbstkritik. Ein Grund, warum sie Videos von eigenen Auftritten schwer erträglich findet:
"Wenn gleich am Anfang irgendetwas kommt, was ziemlich schrecklich klingt, wie zum Beispiel „ich hab euch einen Text mitgebrrrrracht“, da hab ich erstmal ein Video ausgeschaltet, wo ich drauf war."
Das gerollte R ist ein Überbleibsel aus ihrer früheren Heimat. Maria Odoevskaja wurde in Moskau geboren und verbrachte einige Jahre in der Nähe von Minsk. Mit sieben zog sie mit ihrer Mutter nach Lübeck. Ausreisen durften die beiden im Rahmen eines Hilfsprogramms für jüdische Emigranten aus den GUS-Staaten. Marias Großvater war Jude. In Deutschland angekommen, brauchte die Erstklässlerin nur wenige Monate, um sich die Sprache anzueignen.
"Um ehrlich zu sein, glaube ich, dass dieser veränderte Zugang zur Sprache das ist, was mich zum Schreiben und zum Interesse für Literatur gebracht hat. Und auch eigentlich eher ein Vorteil, den ich gegenüber Muttersprachlern hab, als ein Nachteil."
Vielleicht, weil sie analytischer mit der Sprache umgeht, als jemand, für den es selbstverständlich ist, Deutsch zu sprechen. Obwohl Lehrer und Förderer sie als "Ausnahmetalent“ bezeichnen, will Maria nach dem Abi erstmal Biologie studieren. Um sich - wie sie es nennt - „verwendbar zu machen“. Weiterschreiben wird sie sowieso: Das ist ihr ein inneres Bedürfnis ...
"Wir haben ein M, wir haben zwei M, drei M, vier für M und ein T. Damit heißt der Gewinner …: Maria."
…Und eine Begabung, die ihr noch mehr Preise einbringen wird als den Blumentopf, den sie heute als Trophäe mit nach Hause nimmt.