Pohl: Also, beides spielt da eine Rolle. Auf der einen Seite muss man ja sagen: Durch die Globalisierung werden die Märkte größer, die Unternehmen denken heute mehr als je zuvor in internationalen Kategorien. Und da muss ich natürlich sagen: Ein Betrieb mit 500 Leuten, der in einem Bundesland aktiv ist, der ist dort auch groß. Und wenn man das dann auf der globalen Ebene sieht, dann müssen eben größere Einheiten her. Trotzdem habe ich doch den Eindruck, dass hier auch ein Nachahmeffekt – so etwas wie eine Welle – losgelöst ist. Die einen fangen an zu fusionieren, und in allen Vorständen wird jetzt gefragt: ‚Können wir das nicht auch machen?‘ Es ist also auch ein Stück Mode, denn letzten Endes muss ich es immer betriebswirtschaftlich rechnen und es ist im Einzelfall zu entscheiden.
DLF: Führt diese Entwicklung, die ja auch unter dem Stichwort ‚Globalisierung‘ geführt wird, zu einer Stabilisierung des Wirtschaftssystems, oder wird die Weltwirtschaft dadurch krisenanfälliger?
Pohl: Ich glaube nicht, dass sie krisenanfälliger wird, bloß wir kriegen gewisse Disharmonien. Schauen Sie - nehmen wir mal eine nationale Volkswirtschaft. Dort gibt es die Unternehmen, die dort tätig sind, dort gibt es die Rechtsordnung, die dort herrscht, dort gibt es die Institutionen, Gewerkschaften, Regierung – und dieses alles sozusagen auf den Raum bezogen. Wenn jetzt die Unternehmen sich über die Grenzen hinaus internationalisieren, zusammenschließen, die Regierungen aber weiterhin nationale Politik machen und die Institutionen weiterhin national bleiben, dann kriegen wir Spannungsverhältnisse. Und ich glaube, das Problem ist, dass man - zumindest in Europa - auch dann sehen muss, dass sozusagen diesen Zusammenschlüssen der Unternehmen dann natürlich auch gemeinsame Antworten von Politik und institutionellem Rahmen gefunden werden müssen.
DLF: Man kann also sagen: Die Macht der Konzernleitungen wird gestärkt, die Macht der Gewerkschaften, der Arbeitnehmervertretung, wird eher zurückgedrängt. Welche Konsequenzen würden sich daraus für die Politik denn ergeben?
Pohl: Ich denke, dass auf jeden Fall verhindert werden muss, dass transnationale Konzerne es leicht haben, Regierungen und Länder gegeneinander auszuspielen, denn dann würde das ja bedeuten, dass diese Konzerne zum Beispiel bei Ansiedlungen sehr leicht Subventionen holen können, was andere Unternehmen nicht können. Das würde also diese Unternehmen bevorzugen. Hier muss man also sehen, dass die internationalen Unternehmen nicht in eine Position kommen können, in denen sie der Regierung sozusagen den Kurs vorgeben.
DLF: Kann sich hieraus vielleicht eine neue Form des Kapitalismus entwickeln, eine neue industrielle Revolution, denn das Ganze hängt ja auch zusammen mit der Entwicklung der Kommunikation in der Welt. Der Siegeszug des Computers – weist er nicht Ähnlichkeiten auf mit dem Siegeszug der Dampfmaschine vor 150 Jahren?
Pohl: Das kann man so sagen. Ich würde nur nicht von einer neuen industriellen Revolution reden, weil ja diese Globalisierungseffekte alles umschließen, auch den Dienstleistungssektor inzwischen, der ja eine viel größere Dynamik hat, so dass man also sagen muss: Was sich jetzt abspielt, ist sozusagen das, was wir vor hundert Jahren oder vor 50 Jahren gehabt haben in Europa und in Deutschland. Konzentrations- und Zusammenschlusseffekte werden nun auf die Weltbühne gehoben und laufen weltweit ab.
DLF: Wenn man, Herr Professor Pohl, an die Krisenherde des vergangenen Jahres denkt, dann kann man den Eindruck gewinnen, als sei die Weltwirtschaft doch viel robuster als viele glauben. Noch vor einem Jahr wurde ja ernsthaft die Frage diskutiert, ob die Krisen in Südostasien, in Lateinamerika, in Russland – ob sie nicht zu einer Krise der gesamten Weltwirtschaft führen können. Das ist aber nun nicht eingetreten. Warum nicht? War alles nur halb so schlimm?
Pohl: Also, man muss ja sehen, dass diese Krisen zwei Aspekte gehabt haben. Zum einen waren es Finanzmarktkrisen, zum anderen waren es dann aber auch realwirtschaftliche Krisen. Nur: Diese Finanzmarktkrisen, die dann mit dem Zusammenbruch von Wechselkurssystemen zustande gekommen sind, die sind ganz gut verkraftet worden. Wir haben ja gesehen, dass diese Krisen mehr an der Peripherie der Weltwirtschaft waren, also eigentlich keine Krisen der Industrieländer, also Europas und Amerikas. Die erwiesen sich als robust genug. Man muss auch sehen, dass in diesen Ländern aber doch realwirtschaftliche Effekte laufen. Kapital ist da im massiven Umfange falsch eingesetzt worden. Und das ist die Sache, die noch nachhängt. Ich gehörte nicht zu denen im letzten Jahr, die gesagt haben: ‚Aus dieser Asienkrise oder Russlandkrise wird eine Weltwirtschaftskrise‘, als alle Welt so ein bisschen nervös war. Aber jetzt – muss ich ehrlich sagen – sind mir die Leute wieder zu ruhig geworden, denn die realwirtschaftlichen Verwerfungen, die hinter diesen Dingen ja stehen und die aufgedeckt worden sind, sind ja noch nicht beseitigt. Und das kann immer wieder vorbrechen.
DLF: Auch in Russland sind die Schwächen ja noch längst nicht ausgestanden. Was kann man denn tun, um dafür zu sorgen, dass Russland die ökonomischen Fragen in den Griff bekommt?
Pohl: Also wissen Sie: Wenn Sie mich jetzt fragen, was müsste da ökonomisch geschehen, dann könnte ich Ihnen eine lange Liste von Maßnahmen nennen. Das fängt an bei der Etablierung eines vernünftigen Steuersystems über Wettbewerbs-Systeme, Anreizsysteme. Mein Punkt ist nur: Gibt es da nicht andere Hemmnisse. Also, wenn ich bedenke, wie wir in Deutschland uns schwer tun mit Steuerreform, und von den Russen verlangen wir, dass die ein nicht vorhandenes Steuersystem erst einmal einführen – dann ist man da vielleicht überfordert. Und ich glaube, die Probleme liegen fast eigentlich im Außerökonomischen, in Mentalitätsfragen, in Tradition, in historischen Abläufen, die es schwer machen, in einem so großen Land sozusagen über Nacht marktwirtschaftliche Bedingungen stabil herzustellen.
DLF: Die weltwirtschaftlichen Einflüsse hatten ja auch zu Beginn dieses Jahres die Stimmung hier in Deutschland stark eingetrübt, die Prognosen wurden immer weiter nach unten korrigiert. Nun aber kommt so eine Gegenbewegung in Gang. Die Prognosen werden eher wieder etwas nach oben aufgestuft. Wie stark werden die konjunkturellen Impulse sein?
Pohl: Wir rechnen in der Tat jetzt damit, dass die gegenwärtige Konjunkturschwäche überwunden wird, und – wenn ich das in Wachstumsraten mal ausdrücke und für Deutschland mich insgesamt in einer Größenordnung von 2 ½ Prozent bewege – dann kann ich sagen: Das ist natürlich schon mal ein Aufstieg. Aber man muss eben sehen: Das sind alles keine Werte, bei denen man jubilieren kann. Das sind ja relativ schwache Werte, und worauf es hier ankommt ist, dass wir Wachstumsraten haben, die höher sind und die länger anhalten. Und das ist das, was man jetzt im Moment noch nicht versprechen kann.
DLF: Und die Wachstumsraten unterscheiden sich auch noch zwischen Westdeutschland und Ostdeutschland?
Pohl: Interessanterweise haben wir beim Bruttoinlandsprodukt, also bei der gesamtwirtschaftlichen Produktion, im Osten und im Westen vergleichbare Wachstumsraten. Trotzdem sind der Osten und der Westen noch ganz unterschiedlich, weil in Ostdeutschland sehr ausgeprägt wir noch eine gespaltene Bewegung haben. Wenn ich sage, wir haben eine Wachstumsrate von um die zwei Prozent, dann heißt das: Die Industrie liegt nach wie vor deutlich drüber, aber der Baubereich schrumpft noch. Und dieses Auseinanderentwickeln, diese Divergenz, das ist, was typisch ostdeutsch ist. Und das ist eigentlich der Strukturwandel, der hier noch nicht abgeschlossen ist und der hier zu beobachten ist.
DLF: Die konjunkturelle Entwicklung birgt ja auch noch einige Risiken. Gerade in diesen Tagen, Herr Professor Pohl, schaut die Finanzwelt ja geradezu wie gebannt nach Amerika und wartet auf die Beantwortung der Frage: Wird der Offenmarktausschuss der US-Notenbank die Leitzinsen erhöhen oder wird er es nicht tun. Hätte denn eine solche Maßnahme, wenn sie denn käme, für die deutsche Wirtschaft positive oder negative Folgen oder überhaupt keine?
Pohl: Na ja, es ist eine Frage des Ausmaßes. Man muss eines sehen: Die amerikanischen Zinsen sind ja schon einmal angehoben worden. Aber die langfristigen Zinsen, auf die es bei der Konjunktur ja eher ankommt, sind ja doch seit Jahresbeginn in Amerika relativ kräftig gestiegen; das entspricht auch der konjunkturellen Dynamik in Amerika. Und was wir beobachten können, ist, dass Europa trotz Euro – möchte ich mal sagen – im Schlepptau dieser Entwicklung ist. Bei uns sind ja die Zinsen auch deutlich angestiegen. Nun ist das alles nicht von einem sehr hohen Zinsniveau geschehen, also insofern würde ich noch keine Alarmsignale aussenden. Man muss also sehen, dass die Finanzierungsbedingungen immer noch gut sind. Aber die Richtung steigender Zinsen ist natürlich eigentlich für die labile Entwicklung in Europa und auch in Deutschland nicht positiv.
DLF: Also es wäre denkbar, dass sich der Trend zu höheren Zinsen, der ja hierzulande auch schon sichtbar ist, den beginnenden Konjunkturaufschwung eher lähmt?
Pohl: Ja, aber nun muss man sagen: Wo kommt der Trend zu höheren Zinsen her? Was wir ja nicht haben, ist sozusagen jetzt eine Inflationserwartung, die die Zinsen jetzt überraschend in die Höhe treibt, sondern es ist mehr eine realwirtschaftliche Korrektur außerordentlich niedriger Zinsen – muss man sagen. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Zinsen ja noch vor einem Jahr sehr niedrig waren. Aber eine Zinserhöhung passt eigentlich nicht in den konjunkturellen Rahmen, den wir brauchen.
DLF: Brauchen denn die Amerikaner höhere Zinsen, um ihr Leistungsbilanzdefizit zu finanzieren?
Pohl: Da sprechen Sie einen Punkt an, den ich sehr interessant finde. Wir sind ja alle so begeistert von Amerika im Moment von dem langanhaltenden Konjunkturaufschwung, von der Stärke des Dollar. Und dahinter tickt meiner Ansicht nach eine Zeitbombe: Das ist dieses Leistungsbilanzdefizit, was ja Milliarden Dollar ausmacht und was also finanziert werden muss. Nun ist es so, dass in den letzten Monaten eigentlich internationale Anleger wenig Auswahl hatten. Die Amerikaner waren immer noch das Beste. So hatten sie also kein Problem. Aber nehmen wir mal an, die japanische Wirtschaft zieht jetzt doch an und Europa kommt auch in Tritt: Dann haben die Amerikaner sich mit der Finanzierung ihres Leistungsbilanzdefizits zu beschäftigen, und dann kann es durchaus sein, dass das in den Zinsen sich widerspiegelt.
DLF: Wir schauen ja mitunter wie gebannt auf den starken Dollar. Und das ist ja eigentlich nur das Zinsgefälle zwischen den USA und Westeuropa, was die Stärke des Dollar und vielleicht auch die Schwäche des Euro ausmacht. Ist dieses Zinsgefälle denn der alleinige Grund, oder kommt noch hinzu, dass der Euro für die internationale Finanzwelt noch nicht ausreichend an Ansehen, an Image, gewonnen hat?
Pohl: Sicherlich ist eine Währung, die jetzt gerade mal etwas über ein halbes Jahr in Verkehr ist, nicht mit einem Dollar zu vergleichen, der seit vielen Jahrzehnten die Weltwirtschaft beherrscht. Ich bin aber überhaupt nicht pessimistisch an dieser Stelle, denn ich muss Ihnen sagen: Die Kursentwicklung des Euro, also die Abwertung gegenüber dem Dollar, sehe ich als überhaupt völlig undramatisch in dem Kontext, in dem es läuft. Es sind die Zinsunterschiede zugunsten der Amerikaner, die das erklären. Es gibt aber auch immer wieder an den Währungsmärkten, an den Devisenmärkten Spekulationen, die sozusagen einen Trend verstärken. Dann rechnen eben alle damit, dass es weiter abgewertet wird, und dann springen sie alle auf den Zug, und dann kommt die Abwertung. Also insofern haben wir hier – glaube ich – auch Übertreibungen erlebt, die sich ja zum Teil auch schon korrigiert haben.
DLF: Kommen wir noch einmal zur konjunkturellen Situation zurück, Herr Professor Pohl. Woran liegt es denn, dass der Erholungsprozess doch vergleichsweise schleppend vorankommt? Fehlt es an Kaufkraft, fehlt es an Investitionsbereitschaft?
Pohl: Also, man muss natürlich sehen: Wir haben eine ganze Reihe von positiven Entwicklungen oder positiven Hintergründen, wie niedrige Finanzierungskosten; die sind also wirklich da. Aber was uns die Konjunktur vermasselt hat und auch unsere vor eineinhalb Jahren zum Teil ja noch optimistischen Sichtweisen vermasselt hat, das war in der Tat das Abbrechen der internationalen Dynamik, die ja zum Teil zu tun hatte mit diesen Krisen, die wir dort gehabt haben. Und von daher - glaube ich – kommt der Impuls wieder von einer sich belebenden Weltwirtschaft, denn die anderen Rahmenbedingungen für konjunkturellen Aufstieg – Finanzierungskosten – sind nach wie vor günstig.
DLF: Sind mit der Tarifpolitik auch falsche Signale gesetzt worden?
Pohl: Die Tarifpolitik muss man jetzt mal im längerfristigen Kontext sehen, und da muss man ja eigentlich sagen: Wir haben in den letzten Jahren eine Lohnentwicklung gehabt, die eher zur Verbesserung der Ertragslage beigetragen hat. Man muss nicht den letzten Tarifabschluss für sich nehmen, sondern man muss es im Kontext sehen. Allerdings muss man natürlich sehen, dass diese moderate Tarifpolitik in den letzten Jahren eigentlich – wenn man so will – nicht selbst gewollt war, sondern zum Teil ja auch einfach erzwungen war durch die vorherige Rezession und die hohe Arbeitslosigkeit. Insofern hat die Tarifpolitik nur Fehler korrigiert, die man vorher gemacht hat. Aber sie hat – glaube ich – zur Stabilisierung der Entwicklung im Großen und Ganzen beigetragen.
DLF: Inwieweit gibt es denn politische Ursachen? Es wird ja häufig – gerade aus Kreisen der Unternehmen – gesagt, die Verunsicherung komme aus dem politischen Raum; die Wirtschafts- und Finanzpolitik der Regierung, vor allem die Steuerpolitik, habe doch sehr zur Verunsicherung beigetragen. Teilen Sie diese Meinung?
Pohl: Also ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, dass dies die Lage begünstigt. Ich meine: Kein Mensch kann sich ausrechnen, was er am Ende dieser ganzen Aktivitäten, die jetzt da sind, zuzahlen muss oder ob er entlastet wird. Insofern ist das natürlich eine Belastung ersten Ranges, und wir müssen ja sehen, wenn wir reden: Wer fühlt sich denn da belastet? Das sind ja nicht die großen Unternehmen mit ihren weltweiten Connections letzten Endes, sondern es sind die kleinen und mittleren Betriebe, die von Unsicherheit besonders getroffen werden. Insofern wünsche ich mir natürlich auch, dass schnell Klarheit kommt. Es geht einfach darum, dass wieder eine sichere Kalkulationsgrundlage da ist. Aber – ehrlich gesagt -: Nur weil die Steuerpolitik unsicher ist, wird ein Unternehmer eine Investition, die wirklich notwendig ist, wahrscheinlich doch nicht unterlassen.
DLF: Wie müsste denn eine Steuerpolitik aussehen, die das Wachstum fördert und Arbeitsplätze schafft?
Pohl: Um es ganz kurz zu sagen: Niedrige Sätze – breite Bemessungsgrundlage. Also wenig Ausnahmetatbestände, damit nicht dauernd diese Diskreditierungen und Diskriminierungen im Steuerrecht geschehen - aber niedrige Grenzsteuersätze, so dass man also sagen kann: Die zusätzliche Aktivität lohnt sich für die Wirtschaft. Man kann noch tiefer reingehen und kann sagen: Ein Steuersystem, was mehr den Konsum belastet als die Entstehung von Einkommen, ist auch vorzuziehen. Also, wenn sie mich dann fragen, ob ich lieber 10 Milliarden über die Mehrwertsteuer reinhole oder über die Einkommensteuer, würde ich lieber das über die Mehrwertsteuer reinholen. Das sind im Grunde genommen die Eckdaten.
DLF: Man hat allerdings den Eindruck, dass mehr über Steuererhöhung als über Steuersenkung gesprochen wird, also Wiedereinführung der Vermögenssteuer oder Erhöhung der Erbschaftssteuer, Mineralölsteuererhöhung usw. Sind Steuer- Erhöhungen grundsätzlich Gift für den Wachstumsprozess, oder sind sie sogar nützlich, wenn dafür an anderer Stelle Steuersenkungen vorgenommen werden?
Pohl: Sicherlich ist eine Umverteilung von Steuerlasten zu diskutieren. Und ich sage ja: Eine Umverteilung, die beispielsweise die Einkommensentstehung entlastet, aber die Einkommensverwendung – sprich den privaten Verbrauch – belastet, die hielte ich für günstig. Nur was wir jetzt natürlich haben, ist eine Diskussion, wo ich noch keine Konzeption erkenne. Das ist ja nicht so, dass in einer Konzeption jetzt auf einmal die Mehrwertsteuer erhöht werden soll oder dass da jetzt die Dieselkraftstoffe belastet werden. Es sind sozusagen Tagesseifenblasen, die da an die Öffentlichkeit kommen. Und keiner kann sich ein Bild machen, was nachher rauskommt. Insofern glaube ich, ist das Problem, dass keine Konzeption hinter der Diskussion im Ganzen zu erkennen ist. Und das verunsichert die Leute gewaltig.
DLF: Was vorliegt, ist ja das Sparpaket des Bundesfinanzministers. Wie würden Sie das bewerten?
Pohl: Da würde ich sagen: Es geht in die richtige Richtung, denn was wird gemacht? Es wird gespart, das heißt also, es wird die Nettokreditaufnahme reduziert. Das hält der Bundesfinanzminister für ganz besonders wichtig, denn seine Zinslasten sind schon gewaltig. Nur – es gibt ein paar Schönheitsfehler in dem Paket. Zum Teil werden Lasten eigentlich nur auf andere Ebenen verlagert, etwa beim Wohngeld auf die Gemeinden. Und das ist dann natürlich eine Umverteilung, die im Ganzen nichts bringt.
DLF: Ist der Solidaritätszuschlag auch noch ein Schönheitsfehler, denn man könnte ja sagen: Wenn man die Einkommenssteuer senken will, dann sollte man erst mal den Zuschlag auf die Einkommenssteuer beseitigen?
Pohl: Das würde ich ja auch sagen, denn der Solidaritätszuschlag erhöht ja den Spitzensteuersatz über die 53 Prozent hinaus. Und 53 Prozent Spitzensteuersatz ist ja schon eine ganze Masse. Das gehört für mich mit dazu zur Senkung der Grenzsteuersätze, die dringend notwendig ist.
DLF: Hat denn der Solidaritätszuschlag ausreichend einen Beitrag dafür geleistet, dass der Aufbau in den neuen Bundesländern bewältigt wird?
Pohl: Ich persönlich habe den Solidaritätszuschlag nie mit dem Aufbau so direkt in Verbindung gebracht. Für mich war die Soli eigentlich nur ein Instrument, um dem Staat Geld in die Kasse zu bringen – wofür dieses Geld auch immer verwendet wird. Es gibt auch kein Junktim, dass man sagt: Der Soli wird gesenkt und die Förderung im Osten wird dann auch gesenkt, sondern es ist ein reines Finanzierungsinstrument für den Staatshaushalt. Der Staat holt eben aus allen Quellen seine Mittel. Ich würde also die Frage der Weiterführung der Förderung Ostdeutschlands völlig losgelöst von der Art der Finanzierung des Staatshaushaltes diskutieren.
DLF: Aus den Statistiken ist abzulesen, dass die Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland gerade in den Sommermonaten noch zugenommen hat im Vergleich zu den alten Bundesländern, obwohl es ja nach wie vor im Osten niedrigere Arbeitskosten gibt. Gibt es in Ostdeutschland immer noch eine Investitions- und Produktivitätslücke?
Pohl: Eine ganz erhebliche auf der gesamtwirtschaftlichen Ebene. Nur: Es gibt natürlich auch sektorale Bewegungen, die ich unter Strukturwandel aufliste. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Die Industrie hat in den letzten Jahren ein beachtliches Wirtschaftswachstum vollzogen in Ostdeutschland und hat das aber bewältigt mit steigender Produktivität, das heißt, Leute abgebaut. Und jetzt – praktisch seit dem letzten Jahr – ist die Industrie dabei, ihre Beschäftigung auszuweiten. Aber auf der anderen Seite haben wir seit mehreren Jahren – auch noch in diesem auch noch im nächsten Jahr – einen Abbau von Bauproduktion. Und das belastet den Arbeitsmarkt. Hier werden Leute entlassen. Und es gibt eine andere Quelle, die auch den Arbeitsmarkt belastet, das ist Abbau von Beschäftigung im öffentlichen Dienst. Da muss man eben sehen, dass im öffentlichen Bereich – bei den Kommunen und bei den Ländern – eigentlich zu viele Arbeitskräfte beschäftigt waren in der Wende, und das baut man jetzt ab, so dass also eigentlich diese Entwicklung in Ostdeutschland zum guten Teil auch strukturelle Bereinigung beinhaltet – sage ich jetzt als Ökonom. Die Leute, die es betrifft, sehen das natürlich immer als ein persönliches Desaster. Das verstehe ich auch. Aber das hat eine strukturelle Komponente.
DLF: Sieht das im verarbeitenden Gewerbe besser aus? Es gibt ja durchaus modernisierte Betriebe, es gibt neu aufgebaute Betriebe in den neuen Bundesländern, die im Vergleich mit Westdeutschland oder Westeuropa eigentlich mithalten können müssten.
Pohl: Das kann man so sagen. Also, das verarbeitende Gewerbe ist – wenn Sie so wollen – der Träger des ostdeutschen Wachstumsprozesses in den letzten Jahren gewesen. Jetzt ist so etwas wie eine Wachstumsverlangsamung eingesetzt. Das liegt daran, dass das verarbeitende Gewerbe seine Hauptdynamik nicht aus Ostdeutschland bezieht, sondern von Märkten außerhalb Ostdeutschlands, einschließlich der Welt. Und die Abschwächung der Konjunktur außerhalb hat natürlich jetzt auch auf das verarbeitende Gewerbe durchgeschlagen. Insgesamt -muss ich aber sagen - bin ich, was die Industrie, also das verarbeitende Gewerbe angeht, durchaus optimistisch. Aber innerhalb des verarbeitenden Gewerbes gibt es natürlich auch eine starke Differenzierung. Nicht jede Branche boomt; einige tun das - und das sind nach wie vor im internationalen Vergleich relativ kleine Unternehmen.
DLF: Muss die Lohnangleichung noch weiter hinausgeschoben werden?
Pohl: Die Frage ist, was Sie wollen. Sie können natürlich die Löhne morgen auf westdeutsches Niveau anheben, nur – dann haben Sie kaum noch Arbeitsplätze, wo die gezahlt werden. Man muss ja bei der Lohnangleichung immer die Frage mit stellen: Wie viel Arbeitsplätze brauchen wir? Ich will es so ausdrücken: Ich glaube nicht mehr, dass wir im wesentlichen über das Lohnniveau diskutieren müssen, sondern wir müssen über Lohndifferenzierung stärker diskutieren. Ich will Ihnen ein Beispiel geben. Wenn wir Wirtschaftszweige haben, wo die Produktion binnen Jahresfrist um 50 Prozent ausgeweitet wird, wo es also wirklich boomt, dann ist ja nicht einsichtig, warum in diesen Wirtschaftszweigen nicht auch die Löhne mit der Ertragskraft mithalten können. In anderen Wirtschaftszweigen sieht das anders aus. Und wir kriegen natürlich noch ein anderes Problem: Bei insgesamt niedrigen Löhnen brauchen wir natürlich auch für Spitzenarbeitskräfte Löhne, die vergleichbar sind mit Westdeutschland, denn sonst wandern uns die Leute ab. Wir haben eher – glaube ich – ein Problem der Lohnstruktur inzwischen als ein Problem des Lohnniveaus.
DLF: Wie lange wird es noch dauern, bis sich der Arbeitsmarkt im Osten an dem im Westen angeglichen hat?
Pohl: Das dauert – wenn ich so sagen darf – Jahre. Aber ich zögere ein bisschen mit der Antwort, weil man natürlich sehen muss: Was heißt eigentlich Angleichung? Also, wir haben eine hohe Arbeitslosigkeit. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein nennenswerter Teil dieser – wenn Sie so wollen, insgesamt fast zwei Millionen Unterbeschäftigten, also versteckter Arbeitslosigkeit mit der offenen zusammengezählt – dass dies alles in Beschäftigung umgesetzt wird. Dafür – glaube ich – stehen die Chancen schlecht. Das heißt: Ein Großteil des Abbaus der Arbeitslosigkeit wird auf dem Wege stattfinden, wie er auch in den letzten Jahren schon stattgefunden hat: Dass sich immer mehr Menschen aus dem Erwerbsleben auch zurückziehen. Und das ist ein Prozess, der in den letzten Jahren sich vollzogen hat. Noch immer ist die Erwerbsneigung, also der Wille, an den Arbeitsmarkt zu gehen, im Osten höher, aber das nimmt ab. In fünf Jahren, in zehn Jahren wird das Verhalten sich dem westdeutschen Muster angeglichen haben.
DLF: Nun scheint es einen Punkt zu geben, Herr Professor Pohl, in dem von den neuen Bundesländern Impulse ausgehen an die alten Bundesländer. Und da Ihr Institut ja den Sitz in Halle hat, muss diese Frage einfach gestellt werden: Die Sonntagsöffnung vieler Geschäfte hat die Diskussion um das Ladenschlussgesetz angeheizt. Ist dieses Gesetz noch zeitgemäß?
Pohl: Also nein, ich würde es abschaffen. Warum sollen wir denn reglementieren, wann ich mir einen Anzug kaufen darf oder wann ich ihn mir nicht kaufen darf, und wann ein Laden aufmachen darf. Also, ich würde es abschaffen und würde es den Unternehmen überlassen. Ich bin sicher, es haben nicht alle Geschäfte sieben Tage Tag und Nacht auf, sondern die werden sich ihre optimalen Zeiten suchen und die Arbeitnehmer werden sich darauf einstellen können. Den Kunden wird es von Nutzen sein.
DLF: Führt diese Entwicklung, die ja auch unter dem Stichwort ‚Globalisierung‘ geführt wird, zu einer Stabilisierung des Wirtschaftssystems, oder wird die Weltwirtschaft dadurch krisenanfälliger?
Pohl: Ich glaube nicht, dass sie krisenanfälliger wird, bloß wir kriegen gewisse Disharmonien. Schauen Sie - nehmen wir mal eine nationale Volkswirtschaft. Dort gibt es die Unternehmen, die dort tätig sind, dort gibt es die Rechtsordnung, die dort herrscht, dort gibt es die Institutionen, Gewerkschaften, Regierung – und dieses alles sozusagen auf den Raum bezogen. Wenn jetzt die Unternehmen sich über die Grenzen hinaus internationalisieren, zusammenschließen, die Regierungen aber weiterhin nationale Politik machen und die Institutionen weiterhin national bleiben, dann kriegen wir Spannungsverhältnisse. Und ich glaube, das Problem ist, dass man - zumindest in Europa - auch dann sehen muss, dass sozusagen diesen Zusammenschlüssen der Unternehmen dann natürlich auch gemeinsame Antworten von Politik und institutionellem Rahmen gefunden werden müssen.
DLF: Man kann also sagen: Die Macht der Konzernleitungen wird gestärkt, die Macht der Gewerkschaften, der Arbeitnehmervertretung, wird eher zurückgedrängt. Welche Konsequenzen würden sich daraus für die Politik denn ergeben?
Pohl: Ich denke, dass auf jeden Fall verhindert werden muss, dass transnationale Konzerne es leicht haben, Regierungen und Länder gegeneinander auszuspielen, denn dann würde das ja bedeuten, dass diese Konzerne zum Beispiel bei Ansiedlungen sehr leicht Subventionen holen können, was andere Unternehmen nicht können. Das würde also diese Unternehmen bevorzugen. Hier muss man also sehen, dass die internationalen Unternehmen nicht in eine Position kommen können, in denen sie der Regierung sozusagen den Kurs vorgeben.
DLF: Kann sich hieraus vielleicht eine neue Form des Kapitalismus entwickeln, eine neue industrielle Revolution, denn das Ganze hängt ja auch zusammen mit der Entwicklung der Kommunikation in der Welt. Der Siegeszug des Computers – weist er nicht Ähnlichkeiten auf mit dem Siegeszug der Dampfmaschine vor 150 Jahren?
Pohl: Das kann man so sagen. Ich würde nur nicht von einer neuen industriellen Revolution reden, weil ja diese Globalisierungseffekte alles umschließen, auch den Dienstleistungssektor inzwischen, der ja eine viel größere Dynamik hat, so dass man also sagen muss: Was sich jetzt abspielt, ist sozusagen das, was wir vor hundert Jahren oder vor 50 Jahren gehabt haben in Europa und in Deutschland. Konzentrations- und Zusammenschlusseffekte werden nun auf die Weltbühne gehoben und laufen weltweit ab.
DLF: Wenn man, Herr Professor Pohl, an die Krisenherde des vergangenen Jahres denkt, dann kann man den Eindruck gewinnen, als sei die Weltwirtschaft doch viel robuster als viele glauben. Noch vor einem Jahr wurde ja ernsthaft die Frage diskutiert, ob die Krisen in Südostasien, in Lateinamerika, in Russland – ob sie nicht zu einer Krise der gesamten Weltwirtschaft führen können. Das ist aber nun nicht eingetreten. Warum nicht? War alles nur halb so schlimm?
Pohl: Also, man muss ja sehen, dass diese Krisen zwei Aspekte gehabt haben. Zum einen waren es Finanzmarktkrisen, zum anderen waren es dann aber auch realwirtschaftliche Krisen. Nur: Diese Finanzmarktkrisen, die dann mit dem Zusammenbruch von Wechselkurssystemen zustande gekommen sind, die sind ganz gut verkraftet worden. Wir haben ja gesehen, dass diese Krisen mehr an der Peripherie der Weltwirtschaft waren, also eigentlich keine Krisen der Industrieländer, also Europas und Amerikas. Die erwiesen sich als robust genug. Man muss auch sehen, dass in diesen Ländern aber doch realwirtschaftliche Effekte laufen. Kapital ist da im massiven Umfange falsch eingesetzt worden. Und das ist die Sache, die noch nachhängt. Ich gehörte nicht zu denen im letzten Jahr, die gesagt haben: ‚Aus dieser Asienkrise oder Russlandkrise wird eine Weltwirtschaftskrise‘, als alle Welt so ein bisschen nervös war. Aber jetzt – muss ich ehrlich sagen – sind mir die Leute wieder zu ruhig geworden, denn die realwirtschaftlichen Verwerfungen, die hinter diesen Dingen ja stehen und die aufgedeckt worden sind, sind ja noch nicht beseitigt. Und das kann immer wieder vorbrechen.
DLF: Auch in Russland sind die Schwächen ja noch längst nicht ausgestanden. Was kann man denn tun, um dafür zu sorgen, dass Russland die ökonomischen Fragen in den Griff bekommt?
Pohl: Also wissen Sie: Wenn Sie mich jetzt fragen, was müsste da ökonomisch geschehen, dann könnte ich Ihnen eine lange Liste von Maßnahmen nennen. Das fängt an bei der Etablierung eines vernünftigen Steuersystems über Wettbewerbs-Systeme, Anreizsysteme. Mein Punkt ist nur: Gibt es da nicht andere Hemmnisse. Also, wenn ich bedenke, wie wir in Deutschland uns schwer tun mit Steuerreform, und von den Russen verlangen wir, dass die ein nicht vorhandenes Steuersystem erst einmal einführen – dann ist man da vielleicht überfordert. Und ich glaube, die Probleme liegen fast eigentlich im Außerökonomischen, in Mentalitätsfragen, in Tradition, in historischen Abläufen, die es schwer machen, in einem so großen Land sozusagen über Nacht marktwirtschaftliche Bedingungen stabil herzustellen.
DLF: Die weltwirtschaftlichen Einflüsse hatten ja auch zu Beginn dieses Jahres die Stimmung hier in Deutschland stark eingetrübt, die Prognosen wurden immer weiter nach unten korrigiert. Nun aber kommt so eine Gegenbewegung in Gang. Die Prognosen werden eher wieder etwas nach oben aufgestuft. Wie stark werden die konjunkturellen Impulse sein?
Pohl: Wir rechnen in der Tat jetzt damit, dass die gegenwärtige Konjunkturschwäche überwunden wird, und – wenn ich das in Wachstumsraten mal ausdrücke und für Deutschland mich insgesamt in einer Größenordnung von 2 ½ Prozent bewege – dann kann ich sagen: Das ist natürlich schon mal ein Aufstieg. Aber man muss eben sehen: Das sind alles keine Werte, bei denen man jubilieren kann. Das sind ja relativ schwache Werte, und worauf es hier ankommt ist, dass wir Wachstumsraten haben, die höher sind und die länger anhalten. Und das ist das, was man jetzt im Moment noch nicht versprechen kann.
DLF: Und die Wachstumsraten unterscheiden sich auch noch zwischen Westdeutschland und Ostdeutschland?
Pohl: Interessanterweise haben wir beim Bruttoinlandsprodukt, also bei der gesamtwirtschaftlichen Produktion, im Osten und im Westen vergleichbare Wachstumsraten. Trotzdem sind der Osten und der Westen noch ganz unterschiedlich, weil in Ostdeutschland sehr ausgeprägt wir noch eine gespaltene Bewegung haben. Wenn ich sage, wir haben eine Wachstumsrate von um die zwei Prozent, dann heißt das: Die Industrie liegt nach wie vor deutlich drüber, aber der Baubereich schrumpft noch. Und dieses Auseinanderentwickeln, diese Divergenz, das ist, was typisch ostdeutsch ist. Und das ist eigentlich der Strukturwandel, der hier noch nicht abgeschlossen ist und der hier zu beobachten ist.
DLF: Die konjunkturelle Entwicklung birgt ja auch noch einige Risiken. Gerade in diesen Tagen, Herr Professor Pohl, schaut die Finanzwelt ja geradezu wie gebannt nach Amerika und wartet auf die Beantwortung der Frage: Wird der Offenmarktausschuss der US-Notenbank die Leitzinsen erhöhen oder wird er es nicht tun. Hätte denn eine solche Maßnahme, wenn sie denn käme, für die deutsche Wirtschaft positive oder negative Folgen oder überhaupt keine?
Pohl: Na ja, es ist eine Frage des Ausmaßes. Man muss eines sehen: Die amerikanischen Zinsen sind ja schon einmal angehoben worden. Aber die langfristigen Zinsen, auf die es bei der Konjunktur ja eher ankommt, sind ja doch seit Jahresbeginn in Amerika relativ kräftig gestiegen; das entspricht auch der konjunkturellen Dynamik in Amerika. Und was wir beobachten können, ist, dass Europa trotz Euro – möchte ich mal sagen – im Schlepptau dieser Entwicklung ist. Bei uns sind ja die Zinsen auch deutlich angestiegen. Nun ist das alles nicht von einem sehr hohen Zinsniveau geschehen, also insofern würde ich noch keine Alarmsignale aussenden. Man muss also sehen, dass die Finanzierungsbedingungen immer noch gut sind. Aber die Richtung steigender Zinsen ist natürlich eigentlich für die labile Entwicklung in Europa und auch in Deutschland nicht positiv.
DLF: Also es wäre denkbar, dass sich der Trend zu höheren Zinsen, der ja hierzulande auch schon sichtbar ist, den beginnenden Konjunkturaufschwung eher lähmt?
Pohl: Ja, aber nun muss man sagen: Wo kommt der Trend zu höheren Zinsen her? Was wir ja nicht haben, ist sozusagen jetzt eine Inflationserwartung, die die Zinsen jetzt überraschend in die Höhe treibt, sondern es ist mehr eine realwirtschaftliche Korrektur außerordentlich niedriger Zinsen – muss man sagen. Wir dürfen nicht vergessen, dass die Zinsen ja noch vor einem Jahr sehr niedrig waren. Aber eine Zinserhöhung passt eigentlich nicht in den konjunkturellen Rahmen, den wir brauchen.
DLF: Brauchen denn die Amerikaner höhere Zinsen, um ihr Leistungsbilanzdefizit zu finanzieren?
Pohl: Da sprechen Sie einen Punkt an, den ich sehr interessant finde. Wir sind ja alle so begeistert von Amerika im Moment von dem langanhaltenden Konjunkturaufschwung, von der Stärke des Dollar. Und dahinter tickt meiner Ansicht nach eine Zeitbombe: Das ist dieses Leistungsbilanzdefizit, was ja Milliarden Dollar ausmacht und was also finanziert werden muss. Nun ist es so, dass in den letzten Monaten eigentlich internationale Anleger wenig Auswahl hatten. Die Amerikaner waren immer noch das Beste. So hatten sie also kein Problem. Aber nehmen wir mal an, die japanische Wirtschaft zieht jetzt doch an und Europa kommt auch in Tritt: Dann haben die Amerikaner sich mit der Finanzierung ihres Leistungsbilanzdefizits zu beschäftigen, und dann kann es durchaus sein, dass das in den Zinsen sich widerspiegelt.
DLF: Wir schauen ja mitunter wie gebannt auf den starken Dollar. Und das ist ja eigentlich nur das Zinsgefälle zwischen den USA und Westeuropa, was die Stärke des Dollar und vielleicht auch die Schwäche des Euro ausmacht. Ist dieses Zinsgefälle denn der alleinige Grund, oder kommt noch hinzu, dass der Euro für die internationale Finanzwelt noch nicht ausreichend an Ansehen, an Image, gewonnen hat?
Pohl: Sicherlich ist eine Währung, die jetzt gerade mal etwas über ein halbes Jahr in Verkehr ist, nicht mit einem Dollar zu vergleichen, der seit vielen Jahrzehnten die Weltwirtschaft beherrscht. Ich bin aber überhaupt nicht pessimistisch an dieser Stelle, denn ich muss Ihnen sagen: Die Kursentwicklung des Euro, also die Abwertung gegenüber dem Dollar, sehe ich als überhaupt völlig undramatisch in dem Kontext, in dem es läuft. Es sind die Zinsunterschiede zugunsten der Amerikaner, die das erklären. Es gibt aber auch immer wieder an den Währungsmärkten, an den Devisenmärkten Spekulationen, die sozusagen einen Trend verstärken. Dann rechnen eben alle damit, dass es weiter abgewertet wird, und dann springen sie alle auf den Zug, und dann kommt die Abwertung. Also insofern haben wir hier – glaube ich – auch Übertreibungen erlebt, die sich ja zum Teil auch schon korrigiert haben.
DLF: Kommen wir noch einmal zur konjunkturellen Situation zurück, Herr Professor Pohl. Woran liegt es denn, dass der Erholungsprozess doch vergleichsweise schleppend vorankommt? Fehlt es an Kaufkraft, fehlt es an Investitionsbereitschaft?
Pohl: Also, man muss natürlich sehen: Wir haben eine ganze Reihe von positiven Entwicklungen oder positiven Hintergründen, wie niedrige Finanzierungskosten; die sind also wirklich da. Aber was uns die Konjunktur vermasselt hat und auch unsere vor eineinhalb Jahren zum Teil ja noch optimistischen Sichtweisen vermasselt hat, das war in der Tat das Abbrechen der internationalen Dynamik, die ja zum Teil zu tun hatte mit diesen Krisen, die wir dort gehabt haben. Und von daher - glaube ich – kommt der Impuls wieder von einer sich belebenden Weltwirtschaft, denn die anderen Rahmenbedingungen für konjunkturellen Aufstieg – Finanzierungskosten – sind nach wie vor günstig.
DLF: Sind mit der Tarifpolitik auch falsche Signale gesetzt worden?
Pohl: Die Tarifpolitik muss man jetzt mal im längerfristigen Kontext sehen, und da muss man ja eigentlich sagen: Wir haben in den letzten Jahren eine Lohnentwicklung gehabt, die eher zur Verbesserung der Ertragslage beigetragen hat. Man muss nicht den letzten Tarifabschluss für sich nehmen, sondern man muss es im Kontext sehen. Allerdings muss man natürlich sehen, dass diese moderate Tarifpolitik in den letzten Jahren eigentlich – wenn man so will – nicht selbst gewollt war, sondern zum Teil ja auch einfach erzwungen war durch die vorherige Rezession und die hohe Arbeitslosigkeit. Insofern hat die Tarifpolitik nur Fehler korrigiert, die man vorher gemacht hat. Aber sie hat – glaube ich – zur Stabilisierung der Entwicklung im Großen und Ganzen beigetragen.
DLF: Inwieweit gibt es denn politische Ursachen? Es wird ja häufig – gerade aus Kreisen der Unternehmen – gesagt, die Verunsicherung komme aus dem politischen Raum; die Wirtschafts- und Finanzpolitik der Regierung, vor allem die Steuerpolitik, habe doch sehr zur Verunsicherung beigetragen. Teilen Sie diese Meinung?
Pohl: Also ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, dass dies die Lage begünstigt. Ich meine: Kein Mensch kann sich ausrechnen, was er am Ende dieser ganzen Aktivitäten, die jetzt da sind, zuzahlen muss oder ob er entlastet wird. Insofern ist das natürlich eine Belastung ersten Ranges, und wir müssen ja sehen, wenn wir reden: Wer fühlt sich denn da belastet? Das sind ja nicht die großen Unternehmen mit ihren weltweiten Connections letzten Endes, sondern es sind die kleinen und mittleren Betriebe, die von Unsicherheit besonders getroffen werden. Insofern wünsche ich mir natürlich auch, dass schnell Klarheit kommt. Es geht einfach darum, dass wieder eine sichere Kalkulationsgrundlage da ist. Aber – ehrlich gesagt -: Nur weil die Steuerpolitik unsicher ist, wird ein Unternehmer eine Investition, die wirklich notwendig ist, wahrscheinlich doch nicht unterlassen.
DLF: Wie müsste denn eine Steuerpolitik aussehen, die das Wachstum fördert und Arbeitsplätze schafft?
Pohl: Um es ganz kurz zu sagen: Niedrige Sätze – breite Bemessungsgrundlage. Also wenig Ausnahmetatbestände, damit nicht dauernd diese Diskreditierungen und Diskriminierungen im Steuerrecht geschehen - aber niedrige Grenzsteuersätze, so dass man also sagen kann: Die zusätzliche Aktivität lohnt sich für die Wirtschaft. Man kann noch tiefer reingehen und kann sagen: Ein Steuersystem, was mehr den Konsum belastet als die Entstehung von Einkommen, ist auch vorzuziehen. Also, wenn sie mich dann fragen, ob ich lieber 10 Milliarden über die Mehrwertsteuer reinhole oder über die Einkommensteuer, würde ich lieber das über die Mehrwertsteuer reinholen. Das sind im Grunde genommen die Eckdaten.
DLF: Man hat allerdings den Eindruck, dass mehr über Steuererhöhung als über Steuersenkung gesprochen wird, also Wiedereinführung der Vermögenssteuer oder Erhöhung der Erbschaftssteuer, Mineralölsteuererhöhung usw. Sind Steuer- Erhöhungen grundsätzlich Gift für den Wachstumsprozess, oder sind sie sogar nützlich, wenn dafür an anderer Stelle Steuersenkungen vorgenommen werden?
Pohl: Sicherlich ist eine Umverteilung von Steuerlasten zu diskutieren. Und ich sage ja: Eine Umverteilung, die beispielsweise die Einkommensentstehung entlastet, aber die Einkommensverwendung – sprich den privaten Verbrauch – belastet, die hielte ich für günstig. Nur was wir jetzt natürlich haben, ist eine Diskussion, wo ich noch keine Konzeption erkenne. Das ist ja nicht so, dass in einer Konzeption jetzt auf einmal die Mehrwertsteuer erhöht werden soll oder dass da jetzt die Dieselkraftstoffe belastet werden. Es sind sozusagen Tagesseifenblasen, die da an die Öffentlichkeit kommen. Und keiner kann sich ein Bild machen, was nachher rauskommt. Insofern glaube ich, ist das Problem, dass keine Konzeption hinter der Diskussion im Ganzen zu erkennen ist. Und das verunsichert die Leute gewaltig.
DLF: Was vorliegt, ist ja das Sparpaket des Bundesfinanzministers. Wie würden Sie das bewerten?
Pohl: Da würde ich sagen: Es geht in die richtige Richtung, denn was wird gemacht? Es wird gespart, das heißt also, es wird die Nettokreditaufnahme reduziert. Das hält der Bundesfinanzminister für ganz besonders wichtig, denn seine Zinslasten sind schon gewaltig. Nur – es gibt ein paar Schönheitsfehler in dem Paket. Zum Teil werden Lasten eigentlich nur auf andere Ebenen verlagert, etwa beim Wohngeld auf die Gemeinden. Und das ist dann natürlich eine Umverteilung, die im Ganzen nichts bringt.
DLF: Ist der Solidaritätszuschlag auch noch ein Schönheitsfehler, denn man könnte ja sagen: Wenn man die Einkommenssteuer senken will, dann sollte man erst mal den Zuschlag auf die Einkommenssteuer beseitigen?
Pohl: Das würde ich ja auch sagen, denn der Solidaritätszuschlag erhöht ja den Spitzensteuersatz über die 53 Prozent hinaus. Und 53 Prozent Spitzensteuersatz ist ja schon eine ganze Masse. Das gehört für mich mit dazu zur Senkung der Grenzsteuersätze, die dringend notwendig ist.
DLF: Hat denn der Solidaritätszuschlag ausreichend einen Beitrag dafür geleistet, dass der Aufbau in den neuen Bundesländern bewältigt wird?
Pohl: Ich persönlich habe den Solidaritätszuschlag nie mit dem Aufbau so direkt in Verbindung gebracht. Für mich war die Soli eigentlich nur ein Instrument, um dem Staat Geld in die Kasse zu bringen – wofür dieses Geld auch immer verwendet wird. Es gibt auch kein Junktim, dass man sagt: Der Soli wird gesenkt und die Förderung im Osten wird dann auch gesenkt, sondern es ist ein reines Finanzierungsinstrument für den Staatshaushalt. Der Staat holt eben aus allen Quellen seine Mittel. Ich würde also die Frage der Weiterführung der Förderung Ostdeutschlands völlig losgelöst von der Art der Finanzierung des Staatshaushaltes diskutieren.
DLF: Aus den Statistiken ist abzulesen, dass die Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland gerade in den Sommermonaten noch zugenommen hat im Vergleich zu den alten Bundesländern, obwohl es ja nach wie vor im Osten niedrigere Arbeitskosten gibt. Gibt es in Ostdeutschland immer noch eine Investitions- und Produktivitätslücke?
Pohl: Eine ganz erhebliche auf der gesamtwirtschaftlichen Ebene. Nur: Es gibt natürlich auch sektorale Bewegungen, die ich unter Strukturwandel aufliste. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Die Industrie hat in den letzten Jahren ein beachtliches Wirtschaftswachstum vollzogen in Ostdeutschland und hat das aber bewältigt mit steigender Produktivität, das heißt, Leute abgebaut. Und jetzt – praktisch seit dem letzten Jahr – ist die Industrie dabei, ihre Beschäftigung auszuweiten. Aber auf der anderen Seite haben wir seit mehreren Jahren – auch noch in diesem auch noch im nächsten Jahr – einen Abbau von Bauproduktion. Und das belastet den Arbeitsmarkt. Hier werden Leute entlassen. Und es gibt eine andere Quelle, die auch den Arbeitsmarkt belastet, das ist Abbau von Beschäftigung im öffentlichen Dienst. Da muss man eben sehen, dass im öffentlichen Bereich – bei den Kommunen und bei den Ländern – eigentlich zu viele Arbeitskräfte beschäftigt waren in der Wende, und das baut man jetzt ab, so dass also eigentlich diese Entwicklung in Ostdeutschland zum guten Teil auch strukturelle Bereinigung beinhaltet – sage ich jetzt als Ökonom. Die Leute, die es betrifft, sehen das natürlich immer als ein persönliches Desaster. Das verstehe ich auch. Aber das hat eine strukturelle Komponente.
DLF: Sieht das im verarbeitenden Gewerbe besser aus? Es gibt ja durchaus modernisierte Betriebe, es gibt neu aufgebaute Betriebe in den neuen Bundesländern, die im Vergleich mit Westdeutschland oder Westeuropa eigentlich mithalten können müssten.
Pohl: Das kann man so sagen. Also, das verarbeitende Gewerbe ist – wenn Sie so wollen – der Träger des ostdeutschen Wachstumsprozesses in den letzten Jahren gewesen. Jetzt ist so etwas wie eine Wachstumsverlangsamung eingesetzt. Das liegt daran, dass das verarbeitende Gewerbe seine Hauptdynamik nicht aus Ostdeutschland bezieht, sondern von Märkten außerhalb Ostdeutschlands, einschließlich der Welt. Und die Abschwächung der Konjunktur außerhalb hat natürlich jetzt auch auf das verarbeitende Gewerbe durchgeschlagen. Insgesamt -muss ich aber sagen - bin ich, was die Industrie, also das verarbeitende Gewerbe angeht, durchaus optimistisch. Aber innerhalb des verarbeitenden Gewerbes gibt es natürlich auch eine starke Differenzierung. Nicht jede Branche boomt; einige tun das - und das sind nach wie vor im internationalen Vergleich relativ kleine Unternehmen.
DLF: Muss die Lohnangleichung noch weiter hinausgeschoben werden?
Pohl: Die Frage ist, was Sie wollen. Sie können natürlich die Löhne morgen auf westdeutsches Niveau anheben, nur – dann haben Sie kaum noch Arbeitsplätze, wo die gezahlt werden. Man muss ja bei der Lohnangleichung immer die Frage mit stellen: Wie viel Arbeitsplätze brauchen wir? Ich will es so ausdrücken: Ich glaube nicht mehr, dass wir im wesentlichen über das Lohnniveau diskutieren müssen, sondern wir müssen über Lohndifferenzierung stärker diskutieren. Ich will Ihnen ein Beispiel geben. Wenn wir Wirtschaftszweige haben, wo die Produktion binnen Jahresfrist um 50 Prozent ausgeweitet wird, wo es also wirklich boomt, dann ist ja nicht einsichtig, warum in diesen Wirtschaftszweigen nicht auch die Löhne mit der Ertragskraft mithalten können. In anderen Wirtschaftszweigen sieht das anders aus. Und wir kriegen natürlich noch ein anderes Problem: Bei insgesamt niedrigen Löhnen brauchen wir natürlich auch für Spitzenarbeitskräfte Löhne, die vergleichbar sind mit Westdeutschland, denn sonst wandern uns die Leute ab. Wir haben eher – glaube ich – ein Problem der Lohnstruktur inzwischen als ein Problem des Lohnniveaus.
DLF: Wie lange wird es noch dauern, bis sich der Arbeitsmarkt im Osten an dem im Westen angeglichen hat?
Pohl: Das dauert – wenn ich so sagen darf – Jahre. Aber ich zögere ein bisschen mit der Antwort, weil man natürlich sehen muss: Was heißt eigentlich Angleichung? Also, wir haben eine hohe Arbeitslosigkeit. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein nennenswerter Teil dieser – wenn Sie so wollen, insgesamt fast zwei Millionen Unterbeschäftigten, also versteckter Arbeitslosigkeit mit der offenen zusammengezählt – dass dies alles in Beschäftigung umgesetzt wird. Dafür – glaube ich – stehen die Chancen schlecht. Das heißt: Ein Großteil des Abbaus der Arbeitslosigkeit wird auf dem Wege stattfinden, wie er auch in den letzten Jahren schon stattgefunden hat: Dass sich immer mehr Menschen aus dem Erwerbsleben auch zurückziehen. Und das ist ein Prozess, der in den letzten Jahren sich vollzogen hat. Noch immer ist die Erwerbsneigung, also der Wille, an den Arbeitsmarkt zu gehen, im Osten höher, aber das nimmt ab. In fünf Jahren, in zehn Jahren wird das Verhalten sich dem westdeutschen Muster angeglichen haben.
DLF: Nun scheint es einen Punkt zu geben, Herr Professor Pohl, in dem von den neuen Bundesländern Impulse ausgehen an die alten Bundesländer. Und da Ihr Institut ja den Sitz in Halle hat, muss diese Frage einfach gestellt werden: Die Sonntagsöffnung vieler Geschäfte hat die Diskussion um das Ladenschlussgesetz angeheizt. Ist dieses Gesetz noch zeitgemäß?
Pohl: Also nein, ich würde es abschaffen. Warum sollen wir denn reglementieren, wann ich mir einen Anzug kaufen darf oder wann ich ihn mir nicht kaufen darf, und wann ein Laden aufmachen darf. Also, ich würde es abschaffen und würde es den Unternehmen überlassen. Ich bin sicher, es haben nicht alle Geschäfte sieben Tage Tag und Nacht auf, sondern die werden sich ihre optimalen Zeiten suchen und die Arbeitnehmer werden sich darauf einstellen können. Den Kunden wird es von Nutzen sein.
