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Polarisierend und provozierend

Dietmar Dath und Barbara Kirchnerbehaupten, dass jede Zeit mehr Möglichkeiten der Selbstverbesserung enthält als man auf den ersten Blick sieht. Und mit eben diesem optimistischen zweiten Blick betrachten die Autoren Wissenschaft und Technik genauso wie Politik und Philosophie.

Von Rainer Kühn | 02.04.2012
    Dietmar Dath und Barbara Kirchner geht es in ihrem Werk "Der Implex" um Alles! Um den großen Traum, den angeblich die Menschheit seit Anbeginn an träumt:

    Es könnte den Menschen weniger elend gehen ... Die Hartnäckigkeit der Vorstellung von einer anderen Welt, in der alles besser wäre ... ist das dem Leben der Leute Allgemeine.

    Das klingt ziemlich abstrakt und etwas idealistisch. Konkreter gefasst wollen der Romanautor, ex "SPEX"- und heutige "FAZ"-Redakteur Dath und die Leipziger Chemieprofessorin Kirchner an die Ideen der europäischen Aufklärung anknüpfen und in ihrem Buch…

    erläutern, loben und propagieren: die intellektuelle, politische und soziale Fortschreibung der Aufklärung ... - den sozialen Fortschritt.

    Es geht Dath und Kirchner um das – wie sie es nennen – "Explizitmachen der Potenziale" einer jeweiligen Gesellschaftsform: So waren im Feudalismus viele Möglichkeiten angelegt, an die dann die aufgeklärten Revolutionäre anknüpfen konnten, um den Übergang zur bürgerlichen Gesellschaft zu erkämpfen. Aber diese Optionen mussten eben auch ausdrücklich formuliert werden, und zwar durch das Denken der Aufklärung:

    Das neue Denken war nicht einfach eine andere Sicht auf bekannte Dinge, sondern ein Explizitmachen ihrer Potenziale für das, was die Bürger wollten und bereits tatsächlich taten: Die Veränderung der Welt gemäß einem neuen Normensatz.

    Das Herausstellen der jeweils verborgenen Möglichkeiten, die Gesellschaft zu revolutionieren - mit Verweis auf den französischen Lyriker Paul Valery nennen die Autoren das: Herausarbeiten des Implex. Der Charme dieses Ansatzes liegt darin, dass die spezifischen sozialen Verhältnisse immer mehr Möglichkeiten bieten, als verwirklicht werden können. Und durch diesen Überschuss an Optionen entstehen Freiheitsgrade, aus denen die Menschen wählen können, um die sozio-politischen Verhältnisse umzugestalten. Bezogen auf das Heute heißt das:

    Es geht um die Frage, wie die Menschen den Übergang von der bürgerlichen Form der Gesellschaft hin zu einer neuen, besseren Gesellschaft selbstbestimmt bewerkstelligen können. Geschichte verläuft nicht zwangsläufig – eine Position, mit der die Autoren versuchen, einem Einwand zuvorzukommen:

    Wer heute den Traum vom anderen, richtigen Leben und die tätige Umwälzung des vorhandenen falschen zusammendenken will, sieht sich dem Vorwurf ausgesetzt, die große bürgerliche Synthese aus Erkenntniszugewinn und Erzeugungsmanagement, den wissenschaftlichen Kapitalismus, durch etwas ersetzen zu wollen, das dann ja wohl nur "wissenschaftlicher Sozialismus" heißen könnte – ist das nicht versucht worden? War das keine Katastrophe? Hungertote, Gulag, Weltbürgerkrieg – sind wir nicht froh, dass wir das hinter uns haben?

    Barbara Kirchner und der selbst erklärte "Westkommunist" Dietmar Dath lassen sich bei ihrer Suche nach einer fortschrittlichen Welt nicht beirren. Ihren Rückgriff auf Marx, Engels, Lenin, Rosa Luxemburg und einige linke Theatermacher sehen sie nicht durch das Scheitern des real-existiert-habenden Sozialismus von vornherein versperrt. Denn dessen Untergang sei kein Beweis dafür, dass Sozialismus generell unmöglich sei - eben weil es immer auch andere Möglichkeiten der Verwirklichung einer besseren Gesellschaft gäbe. Die allerdings erst noch gedacht werden müssen, wie die Autoren argumentieren:

    Denken wir die Kernsätze der Aufklärung als normative, verschiebt sich die Perspektive weg von der Rekonstruktion und hin zum nochnicht gedachten, nochnicht gelebten – die arché, verliert Wichtigkeit, die theoretische und praktische Spekulation übernimmt das Feld.

    Nach verborgenen Ansatzpunkten für die sozialistische Revolution suchen Dath und Kirchner ganz unterschiedliche Felder ab: Soziale Klassen, Geschlechter, Philosophie, Erkenntnistheorie, Krieg, Science-Ficton-Literatur und, und, und. Die unendlichen Weiten der in achtzehn Kapiteln untersuchten Bereiche nötigen durchaus Achtung ab – auch wenn die Ausbeute an revolutionär Verwertbarem spärlich ausfällt. Und wenn zudem die Autoren nicht so recht erklären können, wer denn eigentlich mitmachen soll bei der Revolution: Grüne etwa würden sich, so die Autoren, ja noch nicht einmal bei ökologischen Fakten auskennen; und die freien Informationskünstler, die sogenannten "digital bohèmians", werden von den beiden als "Lumpenliberale" verhöhnt; die eigentlich sympathische Occupy-Bewegung wiederum habe keine Ahnung von Organisation. Und die meisten marxistischen Linken sind für die beiden entweder Simplifizierer oder praxisuntaugliche Akademiker. Wer aber bleibt dann noch? Dass das nicht sonderlich viele sein können, scheint die beiden Theorieschaffenden jedenfalls nicht sonderlich zu stören:

    Ein Wunsch ... war es, etwas zu bauen, das nur von denen überhaupt benutzt werden kann, die unsere eigenen Zwecke schon teilen; … die eine oder andere Passage wird um so dunkler gefunden werden, je weniger man sich vorstellen mag oder kann, dass das, was wir erstrebenswert finden, überhaupt zu machen ist.

    Das Buch ist fraglos als Provokation gedacht. Und polarisiert:

    So gibt sich die linke Wochenzeitung "der Freitag" geradezu verzückt und sieht in der Schrift für lange Zeit das sozialistische Standardwerk. Andere, wie etwa "Die Zeit" oder die linksalternative "taz" zeigen sich genervt von Anspruch und Duktus der Autoren und befinden, nichts wirklich Neues in puncto Kapitalismuskritik entdecken zu können. Beide Ansichten sind überzogen. Es stimmt zwar, dass der Leser allzu oft an das Motto denkt: "Vorwärts, Genossen, es geht zurück!" Aber der Band lässt sich als Einblick darüber lesen, wie derzeit ganz Linksaußen gedacht wird – mit durchaus überraschenden Passagen, wie etwa zum Utopischen und hervorragenden Überlegungen zum Feminismus. Standard aber wird der teilweise pubertäre Verbalradikalismus, dem die Autoren auf weiten Strecken des Buches frönen, nicht werden. Und die schier nicht enden wollenden Sätze sowie die oberlehrerhafte Haltung der Autoren, vor deren gestrengen Augen fast niemand bestehen kann, machen das Werk: Nur bedingt lesenswert.


    Dietmar Dath und Barbara Kirchner
    Der Implex. Sozialer Fortschritt: Geschichte und Idee.
    Suhrkamp Verlag, 880 Seiten, 29,90 Euro
    ISBN: 978-3-518-42264-9