Nikolaj greift mit schmutzigen Händen nach einer Zigarette, Schweißperlen rollen ihm ins Gesicht. Der 50-Jährige hat den Rasen gemäht, gleich muss er aufs Gerüst klettern und eine Dachrinne reinigen. Seit 20 Jahren lebt der Ukrainer aus dem Koffer. Vielen geht es so.
"Bei uns in Ternopil sind fast alle weggegangen – nach Polen, Russland, Italien oder Belgien. Die Familien sind zerrüttet. Das Haus hütet meine Schwiegermutter. Meine Frau putzt in Italien, der ältere Sohn jobbt im Ausland als Leiharbeiter. Zu Hause bin ich nur alle sechs Monate, um das Visum zu verlängern. Mein Schwager baut Häuser und verdient gerade mal 400 Dollar im Monat, ich kriege hier das Doppelte."
Von der Knochenarbeit draußen hat Nikolai tiefe Falten im Gesicht, seine Hände sind rau. Dafür steht in Ternopil, einer Stadt die vor dem Zweiten Weltkrieg polnisch war, ein nagelneues Haus.
"Ich habe auch schon 18 Stunden am Stück gearbeitet. Aber wir Ukrainer werden mehr ausgenutzt als Einheimische, verdienen auch weniger."
Mag sein, dass es an den Massakern liegt, die ukrainische Aufständische in den ehemaligen polnischen Gebieten im Zweiten Weltkrieg an polnischen Zivilisten verübt hatten, mutmaßt Nikolaj.
Für die Krakauer Marktverkäuferin Victoria ist das eine wenig überzeugende Erklärung. Die 40-Jährige mit dem leichten Sing-Sang in der Sprache verkauft billige Tischdecken. Reich wird sie dadurch nicht, aber seitdem sie legal arbeitet, habe sie weniger Sorgen, sagt sie.
"Meine Heimatstadt ist Odessa. In einem Monat hier bekomme ich so viel wie in drei Monaten zu Hause. Früher war das noch besser. Aber man kann immer noch etwas zur Seite legen."
Sparen? Eine Frau, die am Stand vorbeigeht, schüttelt den Kopf. Nach dem EU-Beitritt Polens sollen etwa 2 Millionen junge Menschen das Land verlassen haben. In einem Land mit dem Durchschnittseinkommen von weniger als 1.000 Euro im Monat haben sie keine Zukunftsperspektive gesehen. Victoria dagegen hat gelernt, mit dem Wenigen, was sie hat, glücklich zu sein. Sie wohnt mit zwei Frauen auf 30 Quadratmetern, dreht jeden Zloty zweimal um, damit es ihrer einzigen Tochter Olga besser geht.
Zu Hause bleiben die Kinder und Alten
Dominika, eine Warschauer Juristin, kennt solche Lebensentwürfe nur zu gut. Ihre eigene Mutter hat Polen verlassen, um in Deutschland zu putzen. Auch sie selbst war eine sogenannte Europawaise. Heute beschäftigt die 32-Jährige eine ukrainische Haushaltshilfe, zu der sie ein freundschaftliches Verhältnis aufgebaut habe, sagt sie:
"Sie ist sehr genau, fleißig und sympathisch. Ich habe sie öfter zum Kaffee und Kuchen eingeladen. In Warschau gibt es viele Ukrainer. Gala putzt in einem Restaurant, bei meiner Mutter war es ähnlich. Mit dem Geld unterstützt sie ihre Tochter. Zu Hause war sie Buchhalterin."
Alte Leute windeln, am Herd stehen, Babys betreuen – auch Sofia hat schon Einiges hinter sich. Trotz Hochschulstudium und akzentfreiem Polnisch hat die 37-Jährige an der Weichsel keinen angemessen Job gefunden. Dabei sei sie in ihrer Heimatstadt berühmt gewesen:
"Ich habe an der Musikhochschule in Kiew studiert. In Kowel, wo ich herkomme, habe ich eine Folkloregruppe für Kinder gegründet. Wir waren sehr erfolgreich. In Polen habe ich dann auf einer Erdbeerplantage Unkraut gejätet. Das war sehr anstrengend und schlecht bezahlt. Viele ukrainische Frauen waren dort, nach zwei Tagen hab ich gesagt: Nie wieder! Später habe ich angefangen, in einer Druckerei zu arbeiten."
Jakub Kościółek erstaunt das immer wieder. Er ist Leiter des Krakauer Vereins „Interkulturalni" und setzt sich seit fünf Jahren für die Anliegen der vermutlich 200.000 Ukrainer in Polen ein.
"Seit der Ukraine-Krise sieht man, dass sich die Polen mit den Ukrainern sehr solidarisieren. Doch es kann nicht sein, dass jemand mit einem Doktortitel Erdbeeren pflückt. Die Ukrainer sind für unseren Staat Mustermigranten – sie integrieren sich sehr leicht."
Und so hat auch Sofia ihren Traum von einer eigenen Gesangsgruppe noch nicht ganz aufgegeben.