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Polen hat seinen eigenen Shakespeare

So mancher Nationaldichter gehört zum verehrten, aber auch ein wenig angestaubten Kulturerbe. Bei Adam Mickiewicz ist das anders. Jedes polnische Schulkind kennt einige Verse aus seinem letzten, großen Nationalepos "Pan Tadeusz" auswendig. Und als der legendäre Regisseur Andrzej Wajda das Werk 1999 verfilmte, zog es Millionen in die Kinos.

Von Helga Hirsch | 26.11.2005
    Was Goethe für die Deutschen und Shakespeare für die Briten, das ist Adam Mickiewicz für die Polen. Eine kulturelle Ikone, ein geistiger Führer, aber auch ein Mann der Politik, ein Mann der Tat. 1798 nahe der einst litauisch-polnischen Stadt Nowogródek als Sohn eines Advokaten geboren, stand sein literarisches Schaffen zeitlebens im Dienst des Freiheitskampfes. Denn sein Vaterland, die polnisch-litauische Adelsrepublik, war tot, von der Landkarte gelöscht durch die drei Teilungsmächte Russland, Österreich und Preußen. Bereits mit 22 Jahren preist er in der "Ode an die Jugend" Bruderliebe und Freiheit:

    "Der Weg durch Gewalt und Schwächen mache uns nicht verzagen: Wir werden die Schwächen brechen und lernen, Gewalt durch Gewalt zu zerschlagen!"

    Wegen Mitgliedschaft in einem studentischen Geheimbund wurde Mickiewicz 1823 in Wilna verhaftet und sechs Monate in einem Kloster festgesetzt. Der Aufenthalt in Litauen wurde ihm verboten, er musste eine Lehrerstelle in Russland antreten. Nach fünf Jahren im Osten zog es ihn zu einer fast zweijährigen Reise nach Westen – von Berlin, über Venedig, Florenz, Neapel schließlich nach Rom, wo ihn Ende 1830 die Nachricht vom Aufstand in Warschau gegen die russische Obrigkeit erreichte. Es zog ihn zurück, aber offensichtlich nur halbherzig. Denn er blieb im preußisch besetzten Polen hängen, ohne die Grenze zum russischen Aufstandsgebiet zu überschreiten. So hat Adam Mickiewicz, der große polnische Nationaldichter, die polnische Hauptstadt Warschau nie gesehen. Er wählte die Existenz eines Emigranten in Paris – allerdings nicht als Fahnenflüchtiger, sondern als Prophet und Bannerträger.

    "Denn wer in seinem Vaterland bleibt und die Sklaverei duldet, um sein Leben zu bewahren, der verliert das Vaterland. Und wer das Vaterland verlässt, um die Freiheit mit Bloßstellung seines Lebens zu verteidigen, der rettet sein Vaterland und wird auf ewig leben."

    Seine wichtigsten Werke entstanden so im Exil: der dritte Teil der Ahnenfeier und die Bücher des polnischen Volkes und der polnischen Pilgerschaft - eine Art Mysterienspiel das eine, eine politische Streitschrift das andere. Hier finden sich jene Darlegungen vom polnischen Messianismus, die maßgeblichen Einfluss auf das polnische Selbstverständnis gewannen.

    "Gott Vater, der du ausgeführt hast dein Volk aus der Ägyptischen Sklaverei und es zurückgeführt hast in das heilige Land. Führe uns zurück in unser Vaterland. Sohn, Erlöser, welcher du gemartert, gekreuzigt und wieder auferstanden bist und regierst in Herrlichkeit. Erwecke vom Tod unser Vaterland. Mutter Gottes, die unser Vaterland die Königin von Polen und Litauen nennt, erlöse das Polenland und Litauen."

    Die Polen, so Mickiewicz, seien ein auserwähltes Volk. Wie einst Gottes Sohn seien nun sie berufen, durch ihr Leiden das abtrünnige Abendland auf den Pfad der Freiheit zurückzuführen und die Menschheit von der Sklaverei zu befreien.

    "Und GOTT gab den polnischen Königen und Rittern Freiheit, auf dass alle Brüder hießen, die Reichsten wie die Ärmsten. Und es war nie zuvor solche Freiheit. Aber künftig wird es sie geben. Und endlich sprach Polen: Wer auch immer zu mir kommt, der wird frei und gleich sein, denn ich bin die FREIHEIT."

    Mit Pan Tadeusz, einem komisch-heroischen Epos über das Land seiner Kindheit, kehrte Mickiewicz 1834 noch einmal zu idyllischen, volkstümlichen Motiven seiner frühen Dichtung zurück. Dann verstummte er. Stattdessen wählte der Dichter die Tat, organisierte 1848 in Italien eine Legion gegen die Habsburger Monarchie, die eine Teilungsmacht Polens, und eilte 1855 nach Konstantinopel, um eine Legion gegen Russland aufzustellen, eine weitere Teilungsmacht Polens. In einem Militärlager erkrankte er jedoch an Cholera und starb am 26. November 1855 in den Armen eines Freundes. Adam Mickiewicz war ein glühender polnischer Patriot, aber auch ein Kosmopolit, dessen Mutter einer jüdischen Familie entstammen soll, und ein überzeugter Europäer, der in seinen schließlich mystischen Vorstellungen von einem in Freiheit vereinten Kontinent träumte.

    1890 wurde sein Leichnam von Frankreich nach Krakau überführt und in der Königsgruft auf dem Wawel beigesetzt.