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"Polen ist durchaus kein Billigland mehr"

Der ehemalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker erkennt Fortschritte im deutsch-polnischen Verhältnis. Er wolle zwar nichts idealisieren, aber es gebe weit mehr Gemeinsamkeiten als Gegensätze.

Moderation: Christoph Heinemann | 21.12.2007
    Christoph Heinemann: 15 plus 9 gleich 24 - diese Rechnung ging heute Nacht mit den Grenzen von 8osteuropäischen Staaten auf, und auch auf Malta werden Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union künftig unkontrolliert ein- und ausreisen können. Jetzt also 24 Schengen-Staaten. Aus deutscher Sicht ist bei dieser Osterweiterung des Schengen-Raums natürlich die neue Reisefreiheit nach Polen und Tschechien Meldepflichtig. Ab 7:45 Uhr schalten wir zu unseren Landeskorrespondentinnen ins brandenburgische, sächsische und bayerische Grenzgebiet. Im Folgenden geht es um die politische und die historische Bewertung. Vor dieser Sendung habe ich den ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker nach der Bedeutung dieses Tages gefragt.

    Richard von Weizsäcker: Es ist eine Erfüllung eines zentralen Schrittes in eine Richtung, um die es uns doch bei der ganzen europäischen Nachkriegsgeschichte immer gegangen ist. Ich bin davon überzeugt, dass natürlich Ordnung geschaffen werden muss mit neuen Verhältnissen, an die man sich gewöhnen muss und die eine neue Form der Zusammenarbeit erfordern und ermöglichen. Aber je länger, desto mehr werden alle Beteiligten davon profitieren.

    Heinemann: Sie sagten, Ordnung müsse geschaffen werden. Sie wissen, dass nicht alle, aber einige Bürgerinnen und Bürger vor allen Dingen in den Grenzgebieten befürchten, dass ungebetene Besucher sich einstellen könnten. Wie sollte die Politik der Sorge vor steigender Kriminalität, vor Prostitution und illegaler Zuwanderung begegnen.

    Weizsäcker: Also wir dürfen uns ja nicht einbilden, dass etwa Untaten, die es unter Menschen leider immer wieder gibt, dadurch ausgeschaltet werden, dass wir wunderbar funktionierende Schlagbaumkontrollen haben. Es gibt weiterhin die Notwendigkeit einer engen Zusammenarbeit insbesondere auch der Polizeikräfte auf allen Seiten dieser neuen Grenzen. Wir haben auf diesem Gebiet ja in dem bisherigen Schengen-Raum auch schon viele Erfahrungen gesammelt. Es geht halt nicht mehr um diese antiquierten Schlagbaumkontrollen, sondern um eine den Raum umfassende Zusammenarbeit der Polizeikräfte. Es ist auch richtig, dass natürlich die an der Grenze besonders tätigen Polizeikräfte eine vernünftige Ausrüstung suchen und brauchen. Und wer wollte es ihnen verdenken, dass sie jetzt mit der Einführung des vergrößerten Schengen-Raums ihrerseits auch noch einmal besonders darauf drängen, in dieser Ausrüstung gut ausgestattet zu werden. Ich glaube, alles in allem wird die Sicherheit eher zunehmen als abnehmen.

    nd außerdem sollte man doch auch immer daran denken, zunächst nach dem Ende des Kalten Krieges ging man immer davon aus, na ja, also östlich der Alpentrennungslinie geht es allen schlecht und infolgedessen suchen sie ihre Ziele zu erreichen bei dem besser ausgestatteten Westen. Mittlerweile ist es zum Beispiel gerade in dem polnisch-deutschen Grenzverhältnis durchaus auch anders. Städte wie Breslau und Stettin blühen wirklich auf. Stettin ist ein Einkaufszentrum geworden für viele Leute aus unseren Bundesländern Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern. Die Leute gehen nach Stettin ins Theater, dort werden mehr deutsche Stücke als vorher gespielt. Bitte, ich will natürlich nichts verschönen oder über Probleme hinweggreifen, aber alles in allem ist die Entwicklung gerade auf polnischer Seite sehr positiv entwickelt. Polen ist durchaus kein Billigland mehr. Es gibt alle möglichen Deutschen, die ihrerseits dort ihre Chancen suchen. Mit anderen Worten, es ist einfach ein Schritt in eine organische Richtung, und ich bin davon überzeugt, dass unsere Polizeikräfte mit dieser Sache gut fertig werden und die Grenzbevölkerung auch wirklich beruhigt.

    Heinemann: Sie haben Breslau und Stettin angesprochen. Sie gehören der Generation an, die das Europa vor dem Eisernen Vorhang erlebt hat. Damals gehörten Prag, Breslau, Stettin zum gleichen Kulturraum wie Wien oder Berlin. Wird das Ihrer Einschätzung nach eines Tages wieder so sein?

    Weizsäcker: Wissen Sie, ich muss zunächst immer meinen eigenen Ausgangspunkt schildern. Meine Generation hat es sich als zentrale Aufgabe vornehmen müssen, mit unseren ehemaligen Kriegsgegnern im Osten in ein vernünftiges und friedliches Verhältnis zu kommen. Ich selber bin als junger Soldat am 1. September 1939 nach Polen einmarschiert, und wie die allermeisten von uns wusste ich nichts über die Geschichte und die Kultur von Polen. Es hat schreckliche Verhältnisse gegeben während des Krieges. Und sie zu überwinden und uns in der Europäischen Union hier zusammenzufinden und politisch, wirtschaftlich, auch kulturell einander wieder so näher zu kommen, wie es der alten europäischen Geschichte doch entspricht, das ist unser Ziel. Und auf diesem Gebiet ist es ein Glück, dass wir den Schengen-Raum jetzt auf diesen ganzen erweiterten Bereich ausdehnen.

    Heinemann: Wenn man an die Auseinandersetzung über die Dokumentation der Vertreibung denkt, die Benes-Dekrete oder den Streit über die Rückführung von Kunstwerken, wie sehr sind die deutsch-polnischen und die deutsch-tschechischen Beziehungen und die Gegenwart noch von der Zeitgeschichte bestimmt, vielleicht sogar überlagert?

    Weizsäcker: Wir wollen natürlich nicht leugnen, dass gerade die letzten zwei Jahre im polnisch-deutschen Verhältnis eine ganze Reihe von Schwierigkeiten gebracht haben. Ich will natürlich nicht Regierungen anderer Länder kritisieren, nichts desto weniger war es mit den Brüdern Kaczyński auf diesem Gebiet wirklich schwer, voran zu kommen. Ich bin in diesem Jahr wieder viermal in Polen gewesen, vor der letzten Wahl dort und auch einmal nach dieser Wahl. Diese Situation hat sich durch die letzte Wahl in Polen fühlbar entspannt. Wir müssen aber natürlich von beiden Seiten her ernst nehmen, jeder muss die Geschichte der anderen Seite besser verstehen. Aber dass wir dann gerade in Bezug auf diese Geschichte nicht nur dazu lernen, sondern auch den Willen haben, sie dann gemeinsam in unser Gedankengut und in unsere Handlung einzubeziehen, bitteschön, das war ja im Verhältnis nach Westen nach dem Ende des zweiten Krieges und der Nazizeit auch unsere Aufgabe. Warum sind denn der Französische Präsident Mitterand mit dem Kanzler Helmut Kohl zusammen nach Verdun gegangen? Da ging es doch ganz ausdrücklich darum, Leiden, die auf beiden Seiten der Grenzen schwere Wunden geschlagen haben, in einer gemeinsamen Erinnerung zu überwinden. Und im selben Sinne geht es auch in Bezug auf die schweren Schicksale, die die Heimatvertriebenen gehabt haben, wie aber auch in Bezug auf die Leiden in Polen. Darf ich gerade, was Prägung anbetrifft, eine kleine Geschichte nur erzählen? Ich bin vor kurzem an der Neiße, also an der polnisch-deutschen Grenze gewesen, habe dort zusammen mit einem Dorfbürgermeister von der deutschen Seite die polnische Seite besucht. Dort wurden wir vom polnischen Dorfbürgermeister empfangen und der begrüßte mich, ich kann nur sagen strahlend, und sagte, wissen sie, warum wir uns hier so gut verstehen untereinander als Kollegen. Na ja, mein deutsche Kollege ist ein Vertriebener aus Schlesien. Und ich auf der polnischen Seite bin ein Vertriebener aus der Ukraine. Wir wissen doch, was das für ein schweres Schicksal ist, seine Heimat zu verlieren. Und umso besser können wir uns miteinander verstehen - miteinander, und doch nicht jeder isoliert, gegen den anderen.

    Heinemann: Das heißt, das Verhältnis der Zivilgesellschaften funktioniert sehr viel reibungsloser als das gelegentlich auf politischer Ebene.

    Weizsäcker: Na ja, gewiss. Es gibt noch viel zu verbessern. Ich kann nur immer wieder sagen, ich will ja die Verhältnisse nicht idealisieren, aber es geht eben doch Schritt für Schritt auch voran. In Wirklichkeit haben wir ja gerade was die Politik anbetrifft, sowohl im Bereich der Sicherheitspolitik wie im Bereich der Energiepolitik, zwischen unseren östlichen Nachbarn und uns selber weit mehr Gemeinsamkeiten als Gegensätze.

    Heinemann: Vielleicht stellen sich gerade an einem solchen Tag viele Bürgerinnen und Bürger, Herr von Weizsäcker, die Frage nach den künftigen Grenzen der EU. Gehört für Sie die Türkei in die Europäische Union?

    Weizsäcker: Also ich schlage jetzt vor, dass wir uns nicht alle Probleme gleichzeitig auf die Heugabel nehmen. Wahr ist, dass Europa von 1,5 Milliarden Muslimen umgeben ist, nicht Amerika hat muslimische Nachbarn, sondern wir. Und dass wir im Zuge der Globalisierung aller Verhältnisse natürlich mit diesen Muslimen auch vernünftig auskommen müssen, das ist eine Aufgabe für uns. Aber nun wollen wir, nachdem wir Gespräche miteinander über die zukünftigen Beziehungen eingeleitet haben, diese Gespräche nicht von vornherein dadurch erschweren, entweder dass der eine die Maximalforderung stellt, die Türkei muss unbedingt dazu, oder umkehrt einer sagt, wir wollen miteinander sprechen, aber eine Zugehörigkeit zur Europäischen Union kommt niemals in Frage. Solche Maximalforderungen gleichen einem Verhalten, wonach wir uns nicht gegenseitig einladen zum Gespräch, sondern von vornherein gleich ausladen. Wir müssen gesprächsoffen miteinander reden. Und da gibt es Fortschritte und dann geht es auch wieder einen kleinen Schritt zurück. Aber wenn man als alter Mensch einen Rückblick auf die letzten 50 oder 60 Jahre werfen darf, dann darf man doch auch der jungen Generation sagen, es dauert, aber es kommt.