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Polens Bieszczady-Nationalpark
Idyll mit düsterer Vergangenheit

Menschenleer, gesäumt von endlosen Bergketten und bevölkert von Bären, Wölfen und Wisenten: Der Bieszczady-Nationalpark im Dreiländereck zwischen Polen, Ukraine und der Slowakei ist ein einzigartiges Naturreservat. Doch die Idylle zeugt auch von einem düsteren Kapitel der polnisch-ukrainischen Geschichte.

Von Alexander Hertel |
    Zielstrebig stapft Bartek Pita durch das trockene Gras eine Anhöhe hinauf. Die ersten versprengten Sonnenstrahlen erwärmen die kalte Morgenluft zwar nur zögerlich. Doch ein breites Grinsen spannt sich über das Gesicht des 39-Jährigen.
    "Hier sehen wir schon ausgetretene Tierpfade. Schwierig zu sagen, ob das Wölfe waren. Hier unter den Zweigen ist das schwer zu sehen. Aber ich denke, dass das eine gute Stelle für eine Fotofalle ist. Denn wir sind im Areal eines Wolfsweibchens, das wir per GPS überwachen."
    Wölfe finden und überwachen ist das Spezialgebiet von Bartek Pita. Seit fast 20 Jahren studiert der Umweltbiologe das Verhalten der nachtaktiven Jäger im Bieszczady-Nationalpark im äußersten Südosten Polens. Heute will er seine neue selbstauslösende Kamera testen und sucht eine geeignete Stelle. Mit Klemmgurten befestigt der 39-jährige das Gerät an einer Birke und richtet den Sucher in Richtung der Fährte aus.
    "Hier ist so ein Biberteich. Und daneben so eine Anhöhe, die mit trockenem Gras bewachsen ist. An sonnigen Tagen kommen die Wölfe hier häufig her, liegen im Gras rum und wärmen sich auf."
    Der 1973 gegründete Park ist ein Paradies für Tiere. Nahezu abgeschieden von der Zivilisation liegt das Schutzgebiet im polnischen Karpatenvorland. Die letzte menschliche Siedlung Wołosate liegt zwei Kilometer entfernt vom Biberteich. In der entgegengesetzten Richtung erhebt sich der Tarnica. Mit 1346 Metern der höchste Berg der polnischen Karpaten. Dahinter folgen bis zur ukrainischen Grenze 300 Quadratkilometer unberührte Natur. Es ist das eigentliche Kernstück des kleinen, aber einzigartigen Parks, erklärt dessen Co-Direktor Tomasz Winnicki Besuchern vorab in seinem Büro.
    "70 Prozent des Parks sind nicht für Menschen zugänglich. Er beeinflusst dort also die Umwelt nicht. Die Natur ist dort vollkommen ganz unabhängig von äußeren Einflüssen. Und wir können erforschen, wie sich Flora und Fauna natürlich entwickeln."
    Forscher wie Bartek Pita ziehen daraus Rückschlüsse auf die ursprünglichen Umweltbedingungen in Europa. 4.000 Tierarten leben in dem geschützten Areal. Darunter Wölfe, Luchse, Braunbären und Wisente, die urtümlichen Vetter des Büffels.
    Doch neben Biologen faszinieren die Artenvielfalt und die Landschaft auch zunehmend Touristen. Bis zu 400.000 kommen mittlerweile jährlich. Und das obwohl es kaum touristische Infrastruktur gibt. Abseits der Straßen sind selbst Fahrräder verboten. Der Mensch sei eben nur Gast hier, erklärt Pita:
    "Wir kanalisieren die Bewegungen der Besucher. Unschön gesagt, zwängen wir die Menschen durch vereinzelte Wanderpfade. Sie sollen von da aus natürlich möglichst viel vom Park sehen, aber das sind trotzdem Touristenpfade. Hinter den Absperrungen regiert dann alleine die Natur. Und so ist der Park auch gedacht."
    Das dieser sich so ungestört entwickeln kann, hat historische Gründe. Durch den Zweiten Weltkrieg wurden die Grenzen in der Region vollkommen neu gezogen. 1939 lag die ukrainische Grenze noch 200 Kilometer von hier entfernt, sechs Jahre später waren es nun noch 15, erklärt Co-Direktor Tomasz Winnicki.
    "Nach dem Krieg bekam die Natur hier eine Chance, sich so ungestört zu entwickeln, weil der Großteil der Ortschaften aufhörte, zu existieren. Warum das so war, das ist eine andere Geschichte. Und in diesen Refugien konnte sich die Natur erholen und die Tiere kehrten zurück."
    Aktion Weichsel vertrieb ukrainisch-stämmige Bewohner
    Die andere Geschichte, das ist die Aktion Weichsel. Bis zu 100.000 ukrainisch-stämmige Bewohner wurden damals aus der Region vertrieben. Hintergrund: Die polnische Regierung befürchtete, dass diese mit ukrainischen Nationalisten jenseits der neuen Grenze kooperieren. Oft blieb den Menschen nur eine Stunde zum Packen. Tausende wurden in den ehemaligen deutschen Konzentrationslagern inhaftiert. Mehrere hundert überlebten dies nicht. Dieser Teil der polnisch-ukrainischen Historie ist sehr emotionsgeladen. Lange galt die Aktion Weichsel als Tabuthema in Polen. Auch Tomasz Winnicki redet nur ungern über die Operation, die seinen Park erst ermöglichte.
    "Es in der Gegend Auseinandersetzungen mit ukrainischen Partisanen, die sich dort versteckten und das Leben der Einwohner bedrohten. Denen wurde daher die Umsiedlung nach Westen oder Norden vorgeschlagen. Sie wurden in ruhigere Gebiete umgesiedelt. Das war keine militärische Operation gegen diese Menschen. Und erst diese Umsiedlung ermöglichte es, sich mit diesen ukrainischen Gruppierungen auseinanderzusetzen."
    Es ist eine in Polen immer noch verbreitete Interpretation, der heute aber selbst viele polnische Historiker widersprechen. Die Aufarbeitung begann erst in den 1990er-Jahren. Das Verhältnis zur Ukraine hat sich seither weitgehend normalisiert. Mittlerweile gibt es auch einige Gedenkstätten für die Vertriebenen im Park. Eine davon in den Ruinen der ehemaligen Dorfkirche unweit des Biberteichs.
    Dort hat Bartek Pita seine Kamera mittlerweile scharf gestellt. Zufrieden notiert er sich deren Position und macht sich auf den Rückweg. Links und rechts wölbt sich der Boden leicht nach oben, vereinzelt ragen quadratische Steine heraus – alte Kellerfundamente. Dahinter erkennt man noch heute die Umrisse einstiger Apfel- und Kirschplantagen.
    Und direkt davor: eine frische Wolfsfährte.