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Politik nach der Aufklärung - Philosophische Aufsätze

Der Mann hat Recht! Man muss es zugestehen - manchmal zähneknirschend, schließlich habe ich früher auch ganz anders gedacht: Hermann Lübbe, die graue Eminenz der deutschen politischen Philosophie, in stürmischen sechziger Jahren Staatssekretär für Hochschulangelegenheiten unter dem damaligen Ministerpräsidenten Heinz Kühn in Nordrhein-Westfalen. Lübbe gehörte nicht zu den Gesellschaftsverbesseren. Vielmehr gründete er gegen die 68er Stürme mit dem späteren langjährigen bayerischen Kultusminister Hans Maier den damals als konservativ bis reaktionär verschrieenen Bund Freiheit der Wissenschaft.

Hans-Martin Schönherr-Mann |
    Hermann Lübbe zählt auch heute noch zu den eher konservativen Stimmen in der deutschen Philosophie. Sein erklärter Liberalismus speist sich aus ökonomischem Denken; und - wie einer der Texte aus seinem neuen Buch Politik nach der Aufklärung verdeutlicht - aus der Einsicht in die notwendige Freiheit der Religionsausübung, nicht etwa aus der Freiheit von der Religionsausübung. Insofern knüpft er denn auch vor allem an us-amerikanischen Tendenzen der Aufklärung im 18. Jahrhundert an.

    Aber solches liberal konservatives, seiner Traditionen verpflichtetes und zugleich pragmatisches Denken erfreut sich schlicht einer hohen Treffsicherheit seiner Urteile. Das führt das neue Buch anhand verschiedener Aufsätze vor, beispielsweise über die Rolle der Religion heute nach der Aufklärung. Es setzt sich mit dem Schlagwort von der symbolischen Politik und mit den Problemen der Europäischen Union zwischen staatlicher Pluralität und Supranationalität auseinander. Besonders brillant sind indes seine politischen Analysen der technischen Welt im ersten Aufsatz des neuen Bandes, der Texte aus den letzten Jahren enthält. Lübbe sagte dazu in einem Gespräch 1998:

    Die technische Zivilisation verbreitet sich mit unaufhaltsamer Wucht. (. . .) Hinter ihren Globalisierungstendenzen also hinter den Tendenzen der wissenschaftlich technischen Zivilisation steckt nicht einfach Übermut, nicht die möglicherweise moralisch prekären und politisch bekämpfungsbedürftigen Interessen der Mächtigen von den Managern bis zu den Multis. Die Durchsetzungskraft - die historisch beispiellose - der modernen Zivilisation beruht auf der Evidenz ihrer Lebenvorzüge. In allen Teilen der Welt, soweit sie bereits medial integriert ist, wissen die Menschen, wie man Leben kann. Unbeschadet der vielen Probleme, die wir auch in Europa und in den USA haben, ziehen in dem größeren Teil der vormodernen Welt die Menschen das Leben vor, das ihnen über die Medien als das Leben der Menschen in den hochentwickelten Industrieregionen vorgeführt wird.

    Mag man ökologische Katastrophen perhorreszieren und den modernen Lebenstil als naturfern geißeln, Lübbe hat Recht, daß die moderne Welt die meisten Menschen fasziniert: Das verunmöglicht jede Wende der technischen Entwicklung.

    Doch er neigt keineswegs zu rein technizistischen Fortschrittshoffnungen, die letztlich die Politik verabschieden und die Herrschaft von Technokratien aus Sachzwängen heraus propagieren. Vor allem sozialistische und kommunistische Systeme verfielen solchen Ideologien, die den Zeitgeist des 20. Jahrhunderts lange beseelten. In utopischen Entwürfen von Francis Bacon über Karl Marx bis noch zu Herbert Marcuse in der 68er Zeit soll eine technische Welt den Menschen Wohlstand und Glück bescheren. Genauso widerlegt wurden indes auch die pessimistischen Zeichner von Horrorszenarien wie George Orwell. Lübbe sagt 1999:

    Die Philosophen sind aus älteren Traditionen in jüngeren Zeiten zumal im 19. Und 20. Jahrhundert uns zugleich in der Rolle von Großideologen begegnet. D.h. sie haben die Parteiprogramme mitformuliert. Sie sind auch als Parteigründer, wie wir wissen aufgetreten. (. . .) Sie hatten Weltentwürfe. Sie glaubten, Kenntnisse des Laufs der Geschichte zu haben, die sich zugleich in praktische Politik umsetzen lassen sollten. Das hat sich in spektakulären Fällen als terroristisch, als in den praktischen Auswirkungen totalitär erwiesen. (. . .) Und im Rückblick auf unser Jahrhundert kann man vielleicht die froh stimmende These riskieren, daß diese den Totalitarismus charakterisierende Koalition von Philosophie und Politik in totalitären Hochideologien definitiv hinter uns liegt.

    Vor allem die modernen Informationstechnologien - das ist Hermann Lübbes einleuchtende These, die so manchem altlinken Herzen schmerzen mag - behindern eher die Herrschaft von Diktatoren, als daß sie diese fördern. Die Komplexität der modernen technischen Welt verlangt eine aktive Beteiligung von den direkt Betroffenen. Versorgung funktioniert immer viel schlechter, als wenn die Menschen für sich selbst sorgen. Dazu braucht es die Bedingungen des freien Marktes sowie die Eliten in bestimmten ökonomischen und technologischen Funktionen. Zu einer alle kontrollierenden und versorgenden technokratischen Herrschaft können sich diese Eliten kaum noch aufschwingen.

    Das 20 Jahrhundert bestätigt diese Thesen, denen gerade in der achtundsechziger Zeit massiv widersprochen wurde. Auch mit ihr setzt sich Lübbe in einem anderen Aufsatz des lesenswerten Bandes auseinander und läßt es ebenfalls nicht an provokanten wie einleuchtenden Thesen fehlen:

    Ich war damals auch für Teile der Schulpolitik zuständig. Besonders empört haben mich dann falsche Vorstellungen von Gleichheit. Man hat nicht erkannt, wenn ich Chancengleichheit realisiere - und zu der ist man tatsächlich aus Gerechtigkeitsgründen verpflichtet - daß die Ergebnisse dann, je mehr sie Chancengleichheit realisieren, immer ungleicher werden. Die Ungleichheitsfolgen realisierter Chancengleichheit wurden nicht anerkannt. Dann kann man keine Schulreform machen. (. . .) Dann stieß ich zu meiner Verblüffung darauf, daß der Elite-Begriff als ein faschistoider Begriff behandelt wurde. Wahr ist, daß auch SS-Formationen ebenso faschistische Formationen im Italienischen Faschismus den Elite-Begriff zumeist mit dem Nietzsche-Hintergrund hochgehalten haben. Das ändert aber nichts an der Tatsache, daß gerade egalitäre Gesellschaften die Egalität nutzenden Eliten freisetzen, d.h., die Ungleichheit von Fähigkeiten von Motivationen setzen sich um so schärfer durch, je konsequenter für die Gleichheit der Chancen gesorgt ist. Und das bedarf der Anerkennung und kann nicht für einen Unglücksfall gehalten werden. Wenn man das für einen Unglücksfall hält ruiniert man Schulen wie Hochschulen.

    Doch die einleuchtende Brillanz eines großen deutschen Liberalkonservativen endet just in diesem Aufsatz über die Achtundsechziger, die Lübbe als politromantischen Rückfall bezeichnet - sicher auch noch zu Recht. Doch wenn er die Achtundsechziger als Wohlstandskinder ohne Lebenserfahrung anprangert, die sich unbelehrbar durch Vorbilder und Autoritäten von den traditionellen Institutionen wie Ehe und Familie abwandten und die Universität mit kommunistischen Plakaten verunzierten, dann präsentiert sich darin eher eine offene Wunde als eine durchdachte Auseinandersetzung mit einer unangenehmen Vergangenheit. Hermann Lübbe kann 1968 nicht als eine letztlich positive Stärkung der bundesdeutschen Demokratie verstehen - man denke an Schröder, Fischer und Trittin. Er begreift 68 nur als negative Herausforderung - daß die Demokratie 68 überhaupt überlebt habe. Das aber zeugt dann eher von einem verengten Blick selbst noch aus dem Zeitalter der Ideologien heraus. Wenn Lübbe den 68ern vorwirft, die Hochschulreform, an der er selbst mitarbeitete, gestört und gerade nicht beschleunigt zu haben, dann klingt daraus eine gewisse Verbitterung:

    Die politische Tätigkeit hat mir als solche auch Freude gemacht. (. . .) Und wenn die Zeitläufte andere gewesen wären, wäre ich auch durchaus in der Lage gewesen den Beruf auch mehr oder weniger dauerhaft nicht nur für eine gute Legislaturperiode, sondern darüber hinaus zu wechseln und stärker auf die Politik mich einzulassen. Es waren dann eher die intellektuellen Unruhen, die akademischen Unruhen, die sich mit dem Jahr 1968 verbinden, die mich veranlaßt haben, mich wieder in die akademinsche Welt zurückzubegeben (. . .). Außerdem stimmte ich mit dem Reformenthusiasmus, den partiell illusionär meine damalige Partei, die SPD erfüllte, das stimmte mit demjenigen, was ich für richtig hielt, immer weniger überein.