Wenn man seinen Biografen Glauben schenken will, personifizierte sich in der Gestalt des Dichters etwas durchaus Exemplarisches, ein sehr deutsches Schicksal, wenn man so will, was im Hinblick auf Benn ja insofern überrascht, als er sich zeitlebens mit der Aura des großen Einzelgängers und Unnahbaren umgab, der zu allem und jedem Distanz wahrte, im Öffentlichen wie im Privaten.
"Ich bin kein Menschenfeind. Aber wenn Sie mich besuchen wollen, bitte kommen Sie pünktlich und bleiben Sie nicht zu lange."
Umso mehr bleibt ein Rätsel, warum der Mann, der wie kein anderer Zeitgenosse die "Verhaltenslehre der Kälte" verinnerlicht und den Posten des illusionslosen Beobachters mit dem unbestechlichen Blick bezogen hatte, im Frühjahr 1933 den Sirenengesängen des siegreichen Nationalsozialismus erliegen konnte. Es ist deshalb rätselhaft, weil Benn, einem kompromisslosen Exponenten der literarischen Avantgarde, kaum entgangen sein konnte, dass die Nazis all das bekämpften und verfemten, was ihm lieb und teuer war: das urban-zerebrale Milieu der Caféhausliteraten, der Kosmopolitismus der künstlerischen Moderne, der Internationalismus der Stile, Sprachen und Moden, an denen sich zumal die Bennsche Lyrik berauscht.
Zum 50. Todestag des Dichters sind zwei Bücher erschienen, die auf ganz unterschiedliche Weise den Fragen nachgehen, die sich an Benns, wenn auch nur episodische, Begeisterung für den Nationalsozialismus heften und darüber hinaus etwas von der Zeit und den Umständen dingfest machen möchten, denen Benn sein literarisches Werk verdankt. Sowohl Helmut Lethen als auch Joachim Dyck lassen keinen Zweifel daran, dass der Fall Benn schon deshalb von Interesse ist, weil wir es hier mit einem Werk obersten Ranges zu tun haben. Vor allem Lethen zeigt, dass Benns Verachtung gegenüber der konkreten Geschichte und ihren Ereignissen - von den Irrungen und Wirrungen der Tagespolitik ganz zu schweigen - nicht zu übertünchen vermag, wie sehr sein eigener Habitus als Zeitgenosse und Schriftsteller von Einflüssen und Verhaltensweisen geprägt war, die einer konkreten geschichtlichen Situation entsprangen. So ist es denn auch kein Widerspruch, dass Benn, dessen fatalistischer Geschichtsbegriff sich an Jahrtausenden und am Aufstieg und Untergang großer Kulturen orientierte, umso orientierungsloser auf die politischen Umstände seiner Zeit reagierte. Benn war, mehr, als er selber ahnte, ein Mann der wechselnden politischen und sozialen Konstellationen. 1933 begrüßte er, Zivilisationsliterat und herausragender Vertreter des Expressionismus, der von den Nazis als "entartet" stigmatisiert wurde, das Ende der Weimarer Republik und den Triumph Hitlers mit martialischen Aufrufen, in denen das Barbarische und Terroristische als Zeichen der Heraufkunft eines neuen erdgeschichtlichen Zeitalters gefeiert wird:
"Aber der Mensch will groß sein, das ist seine Größe; dem Absoluten gilt unausweichlich sein ganzes inneres Bemühen. Und so erhob sich diese Jugend von den gepflegten Abgründen und den Fetischen einer defaitistisch gewordenen Intelligenz und trieb in einem ungeheuren (...) Generationsglück vorwärts in das Wirkende, den Trieb, in das formal noch nicht Zerdachte, das Irrationale, und rüstete sich: ‚der gekrümmte Bogen ist meine Lust‘, und opferte sich, wie das innere Gesetz es befahl, und wenn das historische Symbol der liberalen Ära ein Schloß mit Nippessachen war, die Tuilerien, und ein Ballspielhaus, das sie stürmten, für diese wurde es ein Paß: Thermopylai. (...) Halte dich nicht auf mit Widerlegungen und Worten, habe Mangel an Versöhnung, schließe die Tore, baue den Staat!"
Helmut Lethens Buch über Benn, das keine traditionelle Biografie sein will, trägt den etwas kryptischen, aber schönen Titel "Der Sound der Väter". Überhaupt ergeht sich Lethen in manchen interessanten, zuweilen auch leicht abwegigen Betrachtungen über "die Väter", die so genannte Satisfaktionsgesellschaft des 19. Jahrhunderts und den Naturalismus, den gerade Benn mit seinem literarischen Werk erledigen wollte, indem er ihn radikalisierte. Lethen rückt Benn als Typus in die Nähe jener Leute, die mit dem unscharfen Sammelbegriff der konservativen Revolution verbunden sind, zuvörderst in die Nähe von Ernst Jünger und Carl Schmitt. Der Sound dieser Väter ist der der Kälte, der Verpanzerung gegen alles Weiche, Lasche und Moralische, gegen Demokratie, Republikanismus, Humanismus und Pluralismus. Benn kultiviert einen Ton, der immer wieder auf die Stellung des indifferenten und einsamen Beobachters verweist:
"Es gibt nur den Einsamen und seine Bilder, seit kein Manitu mehr zum Clan erlöst."
Lethen merkt zurecht an, dass dieser Ton durchaus zur politischen Anthropologie der ausgehenden 20er Jahre gehört und sich nicht nur bei Carl Schmitt, sondern auch bei Arnold Gehlen und Helmuth Plessner findet. Der Kult des Sachlichen, des Wissenschaftlichen und Hyperrationalen findet sich sogar auf der entgegengesetzten Seite des politischen Spektrums, etwa bei Brecht. Das Heroische und Mitleidlose solcher Haltung glaubten die Protagonisten der Konservativen Revolution aus der Lektüre Nietzsches herausfiltern zu können - eines halbierten Nietzsche, wie Lethen notiert. Aber der Sound der Väter, so muss man den Autor verstehen, macht diese zugleich taub für das, was auf der zeitgenössischen politischen Bühne zu Gehör gebracht wurde.
"(Man ist hier) "mit einer Art des Denkens konfrontiert, das sich durch eine Frontstellung gegen den Liberalismus und zugleich durch radikale Indifferenz gegen politische Inhalte auszeichnet. Es konzentriert sich letzten Endes auf die Entscheidung, in der Elementarkräfte durchbrechen sollen. Die Kehrseite des Wunsches nach der kalten Form ist die Gleichgültigkeit gegen den politischen Inhalt. In der 'Härte' der Form wird ein Punkt höchster Intensität des Lebens gesucht.""
Ob es dieser Sound der Kälte war, der sich bei Benn zumindest für einen kurzen historischen Moment mit biologischen Züchtungsphantasien und archaischen Vorstellungen von dorisch-spartanischer Härte (mit den notwendig dazugehörenden Opfern!) verband und den Dichter 1933 auf eine abschüssige politische Bahn führte? War es also Kontinuität? Oder doch eher blanker Verrat an seinen eigenen geistigen Voraussetzungen oder am Ende vielleicht bloß ein bedauerlicher Irrtum? Kamen womöglich private und berufliche Motive ins Spiel, die Benns Option für die Nazis beeinflusst haben? Wirklich schlüssig lassen sich diese Fragen nicht beantworten. Benns "Verbrechen" sieht Lethen nicht zuletzt darin, dass er seine Mithilfe bei der "Säuberung" der Preußischen Akademie der Künste von republikanischen, linken und jüdischen Schriftstellern zur Verfügung gestellt habe.
Gerade diesen Sachverhalt, der immer wieder gegen Benn ins Feld geführt worden ist, beurteilt Joachim Dyck in seinem voluminösen Buch etwas anders. Auf der Basis akribischer Recherchen und mikroskopischer Vergegenwärtigung von Benns damaliger Situation gelangt der Autor zu dem Schluss, dass die Auftritte des Dichters im Frühjahr 1933 nicht in erster Linie der Absicht dienten, die Akademie gefügig zu machen und gleichzuschalten - dafür waren andere zuständig -, sondern sie aus dem Verschleiß des tagespolitischen Kampfs herauszuhalten und ihr Eigengewicht als Institution zu bewahren. Dass dies nicht gelang und nicht gelingen konnte, führt Dyck weniger auf das Verhalten Benns zurück als darauf, dass Heinrich und Thomas Mann sowie Alfred Döblin kampflos aus der Akademie ausschieden - letzterer unter ausdrücklichem Hinweis darauf, dass er als Jude "eine zu schwere Belastung für die Akademie" sei, womit, unfreiwillig oder freiwillig, ein Element ins politische Spiel der Kräfte kam, das bis dahin gar keine Rolle in der Auseinandersetzung um die Institution gespielt hatte: der Antisemitismus.
Dass sich Benn 1933 politisch kompromittiert und sich nach dem Krieg nicht immer ganz wahrheitsgetreu dazu geäußert hat, stellt Dyck aber letztlich nicht infrage. Die Stärke seines Buches liegt darin, dass es den Weg Benns zwischen 1929 und 1949 in genauester Weise und unter Zuhilfenahme auch bisher ungeprüfter oder unbekannter Quellen nachzeichnet und so ein gewaltiges Material darbietet, das es dem Leser erlaubt, sich ein eigenes Urteil zu bilden. Diese Stärke ist paradoxerweise aber auch seine Schwäche. Anders als die thesen- und meinungsstarke Arbeit Lethens, die dafür allerdings eine Reihe von sachlichen Fehlern und großzügigen Schlampereien in Kauf nimmt und manchmal in ziemlich modischem Germanistenjargon daherkommt, verzichtet Dyck weitgehend auf den Versuch, geistespolitische Konstellationen und übergreifende Zusammenhänge darzustellen. Jedenfalls findet er für Benns Verhalten kurz vor und nach 1933 keine plausible Erklärung. Freilich muss man sich ebenso fragen, ob Lethens "Sound der Väter" eine solche Erklärung ist - vielleicht gibt es überhaupt keine.
Schon 1934 begann Benns Abwendung vom Nationalsozialismus und damit eine umfassende intellektuelle Abrüstung, die in direktem Zusammenhang mit seinen zunehmenden Schwierigkeiten mit dem Regime stand. Während Lethen die Zeit bis zum Kriegsende nur kursorisch abhandelt, beleuchtet Dyck im Detail Benns Rückzug als Oberstabsarzt 1935 in die Reichswehr und sein Überwintern in der Provinz, das der Dichter selbst als "aristokratische Form der Emigrierung" bezeichnete. Benn ist nun nicht nur vollkommen isoliert, sondern sieht sich auch schweren Angriffen seitens der SS-Wochenzeitung "Das Schwarze Korps" ausgesetzt, die eine Publikation seiner Gedichte zum Anlass nimmt, ihn in die Ecke der "unerwünschten Literatur"‘ zu stellen. Wie sehr Benn sich schon 1936 in die Enge gedrängt fühlt, dokumentiert ein Gedicht, das er dem Freund Friedrich Wilhelm Oelze auf einer Briefkarte zuschickt:
"Einsamer nie als im August:
Erfüllungsstunde –, im Gelände
die roten und die goldenen Brände,
doch wo ist deiner Gärten Lust?
Die Seen hell, die Himmel weich
die Äcker rein und glänzen leise,
doch wo sind Sieg und Siegsbeweise
aus dem von dir vertretenen Reich?
Wo alles sich durch Glück beweist
und tauscht den Blick und tauscht die Ringe
im Weingeruch, im Rausch der Dinge –:
dienst du dem Gegenglück, dem Geist."
Lethen nimmt Benns glanzvolles literarisches Comeback nach den Jahren des Publikationsverbots durch die Nazis in der jungen Bundesrepublik zum Anlass, noch einmal den Sound der Väter zu beschwören, das heißt jene Versammlung der "Ehrenwerten", die "Haltung" bewahrten und sich wie Carl Schmitt weigerten, sich für ihr Verhalten im Dritten Reich öffentlich zu rechtfertigen. Folgt man Lethen, so durchbrach Benn mit der Veröffentlichung der autobiografischen Schrift "Doppelleben" in Schmitts Augen das ungeschriebene Gesetz der Satisfaktionsgesellschaft des 19. Jahrhunderts, für die nachträgliche Rechtfertigung oder Gefühle von Reue und Scham als "Verrat" galten.
Die Frage ist, ob mit dieser erneuten Konfrontation von Benn und Schmitt irgendetwas gewonnen ist. Schmitt war, anders als Benn, wirklich unbelehrbar; er kultivierte einen Antisemitismus, auch nach dem Krieg, der Benn immer gänzlich fremd war. Schmitt war - auch dies im Gegensatz zu Benn - nicht nur ein Mitläufer und Irrender, sondern ein Täter aus Überzeugung. Viel näher liegt es daher, dem Gedanken Raum zu geben, dass Benns enormer literarischer Erfolg nach 1948 nicht Folge eines "Verrats" an einem überholten Ehrenkodex war, sondern vor allem damit zu tun hatte, dass er bei allem Problematischen ein Dichter der Moderne war. Man muss Benns Prosa nicht in allem goutieren, man kann viele seiner Gedichte für maniriert oder schlicht misslungen halten, man mag gute Gründe haben, Benns lyrischen Archaismen zu misstrauen. Und dennoch wird man feststellen müssen, dass Benn, mehr als jeder andere Schriftsteller seiner Generation, der Maxime Arthur Rimbauds gefolgt ist:
"Il faut être absolument moderne – man muss absolut modern sein."
Genau dies war Gottfried Benn zweifellos, und genau dies war auch der Grund dafür, dass es letztlich kein dauerhaftes Arrangement mit dem Nationalsozialismus geben konnte. Benns Triumph in der frühen Bundesrepublik fällt zusammen mit dem stillschweigenden Konsens einer Gesellschaft, es ein zweites Mal mit der kulturellen Moderne zu versuchen.
Helmuth Lethen: Der Sound der Väter - Gottfried Benn und seine Zeit
Rowohlt Verlag, Berlin, 2006
320 Seiten
22,90 Euro
Joachim Dyck: Der Zeitzeuge Gottfried Benn. 1929 – 1949
Wallstein Verlag, Göttingen, 2006
464 Seiten
39 Euro
"Ich bin kein Menschenfeind. Aber wenn Sie mich besuchen wollen, bitte kommen Sie pünktlich und bleiben Sie nicht zu lange."
Umso mehr bleibt ein Rätsel, warum der Mann, der wie kein anderer Zeitgenosse die "Verhaltenslehre der Kälte" verinnerlicht und den Posten des illusionslosen Beobachters mit dem unbestechlichen Blick bezogen hatte, im Frühjahr 1933 den Sirenengesängen des siegreichen Nationalsozialismus erliegen konnte. Es ist deshalb rätselhaft, weil Benn, einem kompromisslosen Exponenten der literarischen Avantgarde, kaum entgangen sein konnte, dass die Nazis all das bekämpften und verfemten, was ihm lieb und teuer war: das urban-zerebrale Milieu der Caféhausliteraten, der Kosmopolitismus der künstlerischen Moderne, der Internationalismus der Stile, Sprachen und Moden, an denen sich zumal die Bennsche Lyrik berauscht.
Zum 50. Todestag des Dichters sind zwei Bücher erschienen, die auf ganz unterschiedliche Weise den Fragen nachgehen, die sich an Benns, wenn auch nur episodische, Begeisterung für den Nationalsozialismus heften und darüber hinaus etwas von der Zeit und den Umständen dingfest machen möchten, denen Benn sein literarisches Werk verdankt. Sowohl Helmut Lethen als auch Joachim Dyck lassen keinen Zweifel daran, dass der Fall Benn schon deshalb von Interesse ist, weil wir es hier mit einem Werk obersten Ranges zu tun haben. Vor allem Lethen zeigt, dass Benns Verachtung gegenüber der konkreten Geschichte und ihren Ereignissen - von den Irrungen und Wirrungen der Tagespolitik ganz zu schweigen - nicht zu übertünchen vermag, wie sehr sein eigener Habitus als Zeitgenosse und Schriftsteller von Einflüssen und Verhaltensweisen geprägt war, die einer konkreten geschichtlichen Situation entsprangen. So ist es denn auch kein Widerspruch, dass Benn, dessen fatalistischer Geschichtsbegriff sich an Jahrtausenden und am Aufstieg und Untergang großer Kulturen orientierte, umso orientierungsloser auf die politischen Umstände seiner Zeit reagierte. Benn war, mehr, als er selber ahnte, ein Mann der wechselnden politischen und sozialen Konstellationen. 1933 begrüßte er, Zivilisationsliterat und herausragender Vertreter des Expressionismus, der von den Nazis als "entartet" stigmatisiert wurde, das Ende der Weimarer Republik und den Triumph Hitlers mit martialischen Aufrufen, in denen das Barbarische und Terroristische als Zeichen der Heraufkunft eines neuen erdgeschichtlichen Zeitalters gefeiert wird:
"Aber der Mensch will groß sein, das ist seine Größe; dem Absoluten gilt unausweichlich sein ganzes inneres Bemühen. Und so erhob sich diese Jugend von den gepflegten Abgründen und den Fetischen einer defaitistisch gewordenen Intelligenz und trieb in einem ungeheuren (...) Generationsglück vorwärts in das Wirkende, den Trieb, in das formal noch nicht Zerdachte, das Irrationale, und rüstete sich: ‚der gekrümmte Bogen ist meine Lust‘, und opferte sich, wie das innere Gesetz es befahl, und wenn das historische Symbol der liberalen Ära ein Schloß mit Nippessachen war, die Tuilerien, und ein Ballspielhaus, das sie stürmten, für diese wurde es ein Paß: Thermopylai. (...) Halte dich nicht auf mit Widerlegungen und Worten, habe Mangel an Versöhnung, schließe die Tore, baue den Staat!"
Helmut Lethens Buch über Benn, das keine traditionelle Biografie sein will, trägt den etwas kryptischen, aber schönen Titel "Der Sound der Väter". Überhaupt ergeht sich Lethen in manchen interessanten, zuweilen auch leicht abwegigen Betrachtungen über "die Väter", die so genannte Satisfaktionsgesellschaft des 19. Jahrhunderts und den Naturalismus, den gerade Benn mit seinem literarischen Werk erledigen wollte, indem er ihn radikalisierte. Lethen rückt Benn als Typus in die Nähe jener Leute, die mit dem unscharfen Sammelbegriff der konservativen Revolution verbunden sind, zuvörderst in die Nähe von Ernst Jünger und Carl Schmitt. Der Sound dieser Väter ist der der Kälte, der Verpanzerung gegen alles Weiche, Lasche und Moralische, gegen Demokratie, Republikanismus, Humanismus und Pluralismus. Benn kultiviert einen Ton, der immer wieder auf die Stellung des indifferenten und einsamen Beobachters verweist:
"Es gibt nur den Einsamen und seine Bilder, seit kein Manitu mehr zum Clan erlöst."
Lethen merkt zurecht an, dass dieser Ton durchaus zur politischen Anthropologie der ausgehenden 20er Jahre gehört und sich nicht nur bei Carl Schmitt, sondern auch bei Arnold Gehlen und Helmuth Plessner findet. Der Kult des Sachlichen, des Wissenschaftlichen und Hyperrationalen findet sich sogar auf der entgegengesetzten Seite des politischen Spektrums, etwa bei Brecht. Das Heroische und Mitleidlose solcher Haltung glaubten die Protagonisten der Konservativen Revolution aus der Lektüre Nietzsches herausfiltern zu können - eines halbierten Nietzsche, wie Lethen notiert. Aber der Sound der Väter, so muss man den Autor verstehen, macht diese zugleich taub für das, was auf der zeitgenössischen politischen Bühne zu Gehör gebracht wurde.
"(Man ist hier) "mit einer Art des Denkens konfrontiert, das sich durch eine Frontstellung gegen den Liberalismus und zugleich durch radikale Indifferenz gegen politische Inhalte auszeichnet. Es konzentriert sich letzten Endes auf die Entscheidung, in der Elementarkräfte durchbrechen sollen. Die Kehrseite des Wunsches nach der kalten Form ist die Gleichgültigkeit gegen den politischen Inhalt. In der 'Härte' der Form wird ein Punkt höchster Intensität des Lebens gesucht.""
Ob es dieser Sound der Kälte war, der sich bei Benn zumindest für einen kurzen historischen Moment mit biologischen Züchtungsphantasien und archaischen Vorstellungen von dorisch-spartanischer Härte (mit den notwendig dazugehörenden Opfern!) verband und den Dichter 1933 auf eine abschüssige politische Bahn führte? War es also Kontinuität? Oder doch eher blanker Verrat an seinen eigenen geistigen Voraussetzungen oder am Ende vielleicht bloß ein bedauerlicher Irrtum? Kamen womöglich private und berufliche Motive ins Spiel, die Benns Option für die Nazis beeinflusst haben? Wirklich schlüssig lassen sich diese Fragen nicht beantworten. Benns "Verbrechen" sieht Lethen nicht zuletzt darin, dass er seine Mithilfe bei der "Säuberung" der Preußischen Akademie der Künste von republikanischen, linken und jüdischen Schriftstellern zur Verfügung gestellt habe.
Gerade diesen Sachverhalt, der immer wieder gegen Benn ins Feld geführt worden ist, beurteilt Joachim Dyck in seinem voluminösen Buch etwas anders. Auf der Basis akribischer Recherchen und mikroskopischer Vergegenwärtigung von Benns damaliger Situation gelangt der Autor zu dem Schluss, dass die Auftritte des Dichters im Frühjahr 1933 nicht in erster Linie der Absicht dienten, die Akademie gefügig zu machen und gleichzuschalten - dafür waren andere zuständig -, sondern sie aus dem Verschleiß des tagespolitischen Kampfs herauszuhalten und ihr Eigengewicht als Institution zu bewahren. Dass dies nicht gelang und nicht gelingen konnte, führt Dyck weniger auf das Verhalten Benns zurück als darauf, dass Heinrich und Thomas Mann sowie Alfred Döblin kampflos aus der Akademie ausschieden - letzterer unter ausdrücklichem Hinweis darauf, dass er als Jude "eine zu schwere Belastung für die Akademie" sei, womit, unfreiwillig oder freiwillig, ein Element ins politische Spiel der Kräfte kam, das bis dahin gar keine Rolle in der Auseinandersetzung um die Institution gespielt hatte: der Antisemitismus.
Dass sich Benn 1933 politisch kompromittiert und sich nach dem Krieg nicht immer ganz wahrheitsgetreu dazu geäußert hat, stellt Dyck aber letztlich nicht infrage. Die Stärke seines Buches liegt darin, dass es den Weg Benns zwischen 1929 und 1949 in genauester Weise und unter Zuhilfenahme auch bisher ungeprüfter oder unbekannter Quellen nachzeichnet und so ein gewaltiges Material darbietet, das es dem Leser erlaubt, sich ein eigenes Urteil zu bilden. Diese Stärke ist paradoxerweise aber auch seine Schwäche. Anders als die thesen- und meinungsstarke Arbeit Lethens, die dafür allerdings eine Reihe von sachlichen Fehlern und großzügigen Schlampereien in Kauf nimmt und manchmal in ziemlich modischem Germanistenjargon daherkommt, verzichtet Dyck weitgehend auf den Versuch, geistespolitische Konstellationen und übergreifende Zusammenhänge darzustellen. Jedenfalls findet er für Benns Verhalten kurz vor und nach 1933 keine plausible Erklärung. Freilich muss man sich ebenso fragen, ob Lethens "Sound der Väter" eine solche Erklärung ist - vielleicht gibt es überhaupt keine.
Schon 1934 begann Benns Abwendung vom Nationalsozialismus und damit eine umfassende intellektuelle Abrüstung, die in direktem Zusammenhang mit seinen zunehmenden Schwierigkeiten mit dem Regime stand. Während Lethen die Zeit bis zum Kriegsende nur kursorisch abhandelt, beleuchtet Dyck im Detail Benns Rückzug als Oberstabsarzt 1935 in die Reichswehr und sein Überwintern in der Provinz, das der Dichter selbst als "aristokratische Form der Emigrierung" bezeichnete. Benn ist nun nicht nur vollkommen isoliert, sondern sieht sich auch schweren Angriffen seitens der SS-Wochenzeitung "Das Schwarze Korps" ausgesetzt, die eine Publikation seiner Gedichte zum Anlass nimmt, ihn in die Ecke der "unerwünschten Literatur"‘ zu stellen. Wie sehr Benn sich schon 1936 in die Enge gedrängt fühlt, dokumentiert ein Gedicht, das er dem Freund Friedrich Wilhelm Oelze auf einer Briefkarte zuschickt:
"Einsamer nie als im August:
Erfüllungsstunde –, im Gelände
die roten und die goldenen Brände,
doch wo ist deiner Gärten Lust?
Die Seen hell, die Himmel weich
die Äcker rein und glänzen leise,
doch wo sind Sieg und Siegsbeweise
aus dem von dir vertretenen Reich?
Wo alles sich durch Glück beweist
und tauscht den Blick und tauscht die Ringe
im Weingeruch, im Rausch der Dinge –:
dienst du dem Gegenglück, dem Geist."
Lethen nimmt Benns glanzvolles literarisches Comeback nach den Jahren des Publikationsverbots durch die Nazis in der jungen Bundesrepublik zum Anlass, noch einmal den Sound der Väter zu beschwören, das heißt jene Versammlung der "Ehrenwerten", die "Haltung" bewahrten und sich wie Carl Schmitt weigerten, sich für ihr Verhalten im Dritten Reich öffentlich zu rechtfertigen. Folgt man Lethen, so durchbrach Benn mit der Veröffentlichung der autobiografischen Schrift "Doppelleben" in Schmitts Augen das ungeschriebene Gesetz der Satisfaktionsgesellschaft des 19. Jahrhunderts, für die nachträgliche Rechtfertigung oder Gefühle von Reue und Scham als "Verrat" galten.
Die Frage ist, ob mit dieser erneuten Konfrontation von Benn und Schmitt irgendetwas gewonnen ist. Schmitt war, anders als Benn, wirklich unbelehrbar; er kultivierte einen Antisemitismus, auch nach dem Krieg, der Benn immer gänzlich fremd war. Schmitt war - auch dies im Gegensatz zu Benn - nicht nur ein Mitläufer und Irrender, sondern ein Täter aus Überzeugung. Viel näher liegt es daher, dem Gedanken Raum zu geben, dass Benns enormer literarischer Erfolg nach 1948 nicht Folge eines "Verrats" an einem überholten Ehrenkodex war, sondern vor allem damit zu tun hatte, dass er bei allem Problematischen ein Dichter der Moderne war. Man muss Benns Prosa nicht in allem goutieren, man kann viele seiner Gedichte für maniriert oder schlicht misslungen halten, man mag gute Gründe haben, Benns lyrischen Archaismen zu misstrauen. Und dennoch wird man feststellen müssen, dass Benn, mehr als jeder andere Schriftsteller seiner Generation, der Maxime Arthur Rimbauds gefolgt ist:
"Il faut être absolument moderne – man muss absolut modern sein."
Genau dies war Gottfried Benn zweifellos, und genau dies war auch der Grund dafür, dass es letztlich kein dauerhaftes Arrangement mit dem Nationalsozialismus geben konnte. Benns Triumph in der frühen Bundesrepublik fällt zusammen mit dem stillschweigenden Konsens einer Gesellschaft, es ein zweites Mal mit der kulturellen Moderne zu versuchen.
Helmuth Lethen: Der Sound der Väter - Gottfried Benn und seine Zeit
Rowohlt Verlag, Berlin, 2006
320 Seiten
22,90 Euro
Joachim Dyck: Der Zeitzeuge Gottfried Benn. 1929 – 1949
Wallstein Verlag, Göttingen, 2006
464 Seiten
39 Euro