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Politiker als Chefredakteur
George Osborne beim Evening Standard

Der ehemalige britische Schatzmeister George Osborne übernimmt die Leitung des Evening Standard, eine der wichtigsten Londoner Zeitungen. Gleichzeitig betreut er einen Wahlkreis und berät eine Investmentfirma. Britische Journalisten stellen die Frage nach einer Interessenverquickung, seine Wähler die nach seinem politischen Engagement.

Von Sandra Pfister | 05.04.2017
    Der britische Schatzkanzler George Osborne am 3. Dezember 2014
    Georg Osborne, konservativer Abgeordneter und ehemaliger Schatzkanzler, wird Chefredakteur des Evening Standard (dpa / picture alliance / EPA / Hannah Mckay / Pool)
    Noch ist er nicht im Amt, aber vor wenigen Tagen bereits hat sich George Osborne seinen Kollegen im Londoner Großraumbüro des Evening Standard vorgestellt.
    Das Zeitungsteam habe ihn freundlich aufgenommen, berichtet der ehemalige britische Schatzkanzler. Ganz im Gegensatz zu vielen anderen britischen Journalisten, die hier eine unhaltbare Interessenverquickung wittern. Sie wehren sich auch gegen die Vorstellung, dass Osborne die Leitung einer der wichtigsten Londoner Zeitungen als Halbtags-Job konzipiert. Kelvin McKenzie, ehemaliger Chefredakteur des Evening Standard:
    "Man kann nicht gleichzeitig Chefredakteur einer Zeitung in der erfolgreichsten europäischen Hauptstadt sein und gleichzeitig einen Wahlkreis 300 Meilen entfernt vertreten. Das ist nicht möglich."
    Morgens Zeitung, nachmittags Parlament
    Erste Stimmen aus seinem Wahlkreis Tatton deuten an, dass Osbornes Wähler erwarten, dass er eher sie als den Evening Standard vernachlässigen werde.
    Bürger in seinem Wahlkreis:
    Mann: "Ich bin damit nicht glücklich, überhaupt nicht glücklich. Er sollte einfach seinen Job machen."
    Frau: "Vielleicht interessiert er sich eher für das Geld, das er verdienen kann, und für andere Verpflichtungen als für echtes Engagement für seinen Wahlkreis."
    Andere Frau: "Ich lebe hier seit 16 Jahren und ich habe ihn noch nie hier irgendwo was anpacken sehen. "
    Osborne selbst verteidigt sich sinngemäß so: Den einen Job könne er in der Frühschicht erledigen, den anderen in der Spätschicht.
    "Ich bin Mitglied des Parlaments, ich bin stolz, meinen Wahlkreis zu vertreten, denn diese Zeitung wird im Wesentlichen morgens gemacht, das Parlament wählt nachmittags."
    Ein paar Tage im Monat noch Investmentberater
    Doch Osborne ist nicht nur Abgeordneter, er hat noch einen dritten Job, der mit seiner journalistischen Unabhängigkeit kollidieren könnte: Für 650 Tausend Pfund im Jahr, derzeit knapp 800.000 Euro, arbeitet er ein paar Tage im Monat als Berater für die amerikanische Investmentfirma Blackrock.
    Wird Osborne objektive Berichterstattung über Finanzmarktregulierungen usw. zulassen, wenn er selbst von einem Finanzdienstleister bezahlt wird?
    Doch gerade seine gewichtigen Kontakte in die Politik- und Finanzwelt haben den ehemaligen Spitzenpolitiker der Tories wohl für den Besitzer des "Evening Standard" attraktiv gemacht.
    Alexander Lebedev, ein erklärter Putin-Kritiker und erfolgreicher Geschäftsmann, heißt es, habe den Posten des Chefredakteurs erst Boris Johnson angetragen. Doch auch mit George Osborne erhalte er Zugang zu den Mächtigen im Land, sagt John Rentoul, Journalist beim "Independent", der auch Lebedev gehört.
    "Es ist ein Coup für den Standard, jemanden mit diesem Standing als Chefredakteur zu haben, jemanden, der die Front Person für London sein kann. Die Person, die die Kontakte pflegt und den Evening Standard auf der großen Bühne repräsentiert. Und schreiben kann er ja dann auch noch."
    Pro-europäische Meinung - in der Presse noch möglich
    Schreiben – tatsächlich? Viele Medien traten süffisant breit, dass der ehemalige Tory-Minister zwar mal ein Praktikum bei einem Lokalblatt gemacht habe, für ein Volontariat bei der "Times" allerdings abgelehnt worden sei. John Rentoul in einer BBC-Talkshow:
    "Er wollte immer ein Journalist sein, als er jung war."
    Moderator: "Ja, aber er wurde ja nicht genommen, sie haben ihn nicht eingestellt."
    "Ja, aber er könnte ihnen jetzt beweisen, dass sie sich geirrt haben."
    Kann Osborne, der selbst Abgeordneter für die konservativen Tories ist, also die Regierungspartei, die Regierung wirklich glaubwürdig kritisieren?
    Der Einwand ist berechtigt, doch genauso gut könnte auch das Gegenteil wahr werden: dass Osborne sich als echter Wadenbeißer der aktuellen Regierung von Theresa May entpuppt. Viele glauben, dass er Rache an Theresa May üben wolle, weil sie ihn als Schatzkanzler äußerst demütigend entlassen hat. Und dass er die journalistische Bühne auch deshalb suche, weil konservative Abgeordnete, die keine Jubellieder auf den Brexit sängen, derzeit im Parlament nahezu untergebuttert würden, glaubt die Journalistin Rachel Johnson, die Schwester von Außenminister Boris Johnson.
    "Er konnte seine klare pro-europäische Haltung in dieser Tory-Partei nicht mehr artikulieren, er gilt ja dann als 'Volksfeind'. Also musste er diesen Punkt außerhalb des Parlaments machen. Jetzt nutzt er eine große kostenlose Londoner Zeitung, um seine Meinung zu artikulieren. Gut für ihn."
    "Dissens ist im Parlament nicht länger erlaubt, aber glücklicherweise immer noch in der Presse."