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Politische Gestaltung zulasten künftiger Generationen

Seit Wochen wird über einen langweiligen Verlauf des Bundestagswahlkampfes geklagt. Dieter Rulff hält die Gestaltungsfreiheit von Politik generell für eingeschränkt, verstärkt wurde dieses Problem noch durch die Folgen der Finanzkrise.

Von Dieter Rulff | 01.09.2013
    Die Vorstellung, dass Politik gestaltet, sich also des Schicksals eines Einzelnen annimmt, um seine Lage zu verbessern, ist eine Entwicklung der Neuzeit. Im Mittelalter hatte der von Platon und Aristoteles geprägte Begriff der politiká, der alle Belange des Gemeinwesens umfasste, zunächst eine Verengung auf die Mechanismen der Herrschaft erfahren, deren seinerzeit maßgeblicher Theoretiker der Florentiner Niccolò Machiavelli war:

    "Politik ist die Summe der Mittel, die nötig sind, um zur Macht zu kommen und sich an der Macht zu halten und um von der Macht den nützlichsten Gebrauch zu machen."

    Im Laufe des 16. bis 18. Jahrhunderts weitete sich dieser Begriff hin zu komplexen Legitimationsformen dieser Macht und Varianten ihrer Ordnung und Verteilung. Maßgebliche Autoren waren die Philosophen Thomas Hobbes, John Locke, Jean-Jacques Rousseau und Montesquieu.

    Hingegen sind die Fragen der Lebensführung und -zufriedenheit während des Mittelalters die Domäne der Kirche gewesen. Ihre Antworten zur Lebensführung waren auf die Bewahrung des Bestehenden ausgerichtet, ihre Antworten zur Lebenszufriedenheit verwiesen auf die Erlösung im Jenseits. Doch mit der einsetzenden Aufklärung ging eine Infragestellung des kirchlichen Wahrheitsmonopols einher und diese Jenseitigkeit verlagerte sich zunehmend ins Diesseits. Das individuelle Schicksal wurde als veränderbar erfahren und die neuzeitliche Politik nahm sich seiner an.

    Dabei bildeten sich sehr bald zwei Varianten heraus, dieser Aufgabe zu begegnen, eine maximalistische und eine minimalistische, deren Ausprägungen man bis in die heutigen Tage beobachten kann. Während die maximalistische Politik die kirchliche Tradition säkularisierte und sich die Verbesserung der Lebensverhältnisse auf Erden zum Ziel setzte, konzentrierte sich die minimalistische in der Tradition Machiavellis auf das Kerngeschäft der Macht und des Erhalts der eigenen Ordnung. Der englische politische Philosoph Michael Oakeshott hat Erstere "Politik der Zuversicht" genannt und Letztere "Politik der Skepsis". Für ihn ist das Ziel einer Politik der Zuversicht Vollkommenheit, denn

    "das Wort Vollkommenheit samt seiner Synonyme bezeichne einen einzigen, umfassenden Zustand menschlicher Verhältnisse. Er ist das Ziel jeglicher politischer Tätigkeit, zu dem es keine Alternative gibt. Die Politik der Zuversicht begreift das Regieren als eine grenzenlos ausufernde Tätigkeit, die alle Aktivitäten des Bürgers erfasst und dies stets - sofern sie ihrem Auftrag gerecht werden will - unter Aufbietung aller Kräfte."

    Während die Politik der Zuversicht auf einer Vorstellung der menschlichen Natur basiert, konzentriert sich die Politik der Skepsis auf das menschliche Verhalten. Sie sieht ihre Hauptaufgabe darin,

    "die Härte menschlicher Konflikte zu mildern, indem sie deren Anlässe vermindert. Für den Skeptiker ist mithin die Aufrechterhaltung der Ordnung das vordringlichste Geschäft der Regierung. Zu den Kosten für Wahrung der Ordnung gehört die auch unter günstigen Umständen starke Konzentration der Macht. Und das geht natürlich zulasten angenehmerer menschlicher Aktivitäten."

    Die neuzeitliche Politik variiert in ihrem Gestaltungsanspruch zwischen Skepsis und Zuversicht, beide sind jedoch nicht identisch mit der im 19. Jahrhundert aufkommenden Unterteilung der Politik in Rechts und Links. Denn auch diese bis heute dominierende Einteilung kennt jeweils ihre zuversichtlichen und skeptischen Untervarianten. Jedoch gibt es für Oakeshott eine eindeutige Verortung der Politik der Zuversicht.

    "Zweifellos gibt es Bewegungen, die so eng mit ihr verbunden sind, dass jede andere Alternative nahezu ausgeschlossen ist. Und sicherlich ist das bei dem der Fall, was wir als Sozialismus oder Kommunismus kennen."

    Es wäre allerdings ein Trugschluss, anzunehmen, dass gestaltende Politik eine alleinige Domäne der politischen Linken gewesen sei. Sie war zwar Kern ihrer Programmatik, wie Liberale und Konservative eher zu einer Politik der Skepsis neigten. Aus Gründen des Machterhalts wurde sie jedoch häufig genug von Letzteren ins Werk gesetzt, wie umgekehrt die Geschichte der letzten 150 Jahre auch Sozialdemokraten kennt, die eine skeptische Politik verfolgten.

    Die sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien waren von Anbeginn getragen von dem Bewusstsein, dass der Einzelne immer auch Produkt seiner Lebensumstände ist und der Zuversicht, dass durch staatliche Steuerung und Beeinflussung dieser Umstände sich dessen Schicksal zum Besseren wenden lasse. Inwieweit und mit welcher Radikalität dieser umfassende Gestaltungsanspruch sich innerhalb des politischen Systems realisieren lasse oder ob dieses nicht vielmehr selbst auch Gegenstand eines revolutionären Umbaus sein müsse, war ein Streit, der die Arbeiterbewegung bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein spaltete.

    Mit dem Erstarken der Arbeiterbewegung rückte die soziale Frage ins Zentrum der Politik. Auch die konservativen Kräfte waren gezwungen, auf sie eine Antwort zu geben, die sich nicht in Sicherheit und Ordnung erschöpfte, sondern diese mit einer eigenen Variante gestaltender Politik verband. Ein zentrales Dokument, das beide Aspekte in konservativer Absicht verknüpfte, war die "Enzyklika Rerum Novarum" von 1891 mit der die katholische Kirche anerkannte,

    "dass es eine unumstößliche Wahrheit ist, nicht anderswoher als aus der Arbeit der Werktätigen entstehe Wohlhabenheit im Staate. Es ist also eine Forderung der Billigkeit, dass man sich seitens der öffentlichen Gewalt des Arbeiters annehme, damit er von dem, was er zum allgemeinen Nutzen beiträgt, etwas empfängt, sodass er in Sicherheit hinsichtlich Wohnung, Kleidung und Nahrung ein weniger schweres Leben führen kann. Wenn der Staat hierfür Sorge trägt, so fügt er dadurch niemand Nachteil zu, er nützt vielmehr sehr der Gesamtheit, die ein offenbares Interesse daran hat, dass ein Stand, welcher dem Staate so notwendige Dienste leistet, nicht im Elend seine Existenz friste."

    Soziale gestaltende Politik zur Bewahrung der bestehenden Ordnung war auch der Leitgedanke Bismarcks, als er die Sozialdemokratie verbot und zugleich mit der Einführung der Kranken-, Unfall- und Rentenversicherung Deutschland zum Vorreiter im Aufbau eines Sozialsystems machte. Doch konnte Bismarck damit den Klassenkonflikt nicht befrieden, die Sozialdemokratie wuchs zur stärksten politischen Kraft heran.

    Bürgertum, Adel und Industrielle sahen durch die sukzessive Ausweitung der demokratischen Rechte für die Arbeiterschaft ihre Macht und ihren Besitz, ja die Funktionsweise des politischen Systems gefährdet. Für diese Gefahr prägten zu Beginn des Jahrhunderts konservative Theoretiker wie Ortega y Gasset und Gustave Le Bon den Begriff der Masse. Diese Erscheinungsform des Menschen in der Moderne charakterisierte Le Bon als eine vernunftlose, dumpfe Ansammlung. Deren Forderungen

    "laufen auf nichts Geringeres hinaus, als auf den gänzlichen Umsturz der gegenwärtigen Gesellschaft, um sie jenem primitiven Kommunismus zuzuführen, der vor dem Beginn der Kultur der normale Zustand aller menschlichen Gemeinschaft war. Begrenzungen der Arbeitszeit, Enteignung von Bergwerken, Eisenbahnen, Fabriken und Boden, gleiche Verteilung der Produkte, Abschaffung aller oberen Klassen zugunsten der Volksklassen und so weiter. Das sind ihre Forderungen."

    Da die Massen seiner Ansicht nach nur einfache und übertriebene Gefühle kennen und Vernunft bei ihnen versage, sah Le Bon die einzige Möglichkeit, ihrer Herr zu werden, in einer starken Führerschaft und ihrer Manipulation durch Propaganda. Sein Hauptwerk "Die Psychologie der Massen" wurde intensiv von Adolf Hitler studiert, er perfektionierte Führertum und Propaganda zu Stützpfeilern des NS-Staates. Auch wenn die Theorie der Masse von einer eindeutigen Skepsis gegenüber ihrem Gegenstand geprägt war, so trug die auf ihr basierende Politik alle Kennzeichen der Zuversicht. Im Nationalsozialismus zeigt die Politik der Zuversicht ihr mörderisches Gesicht. Judenvernichtung, Kriegswirtschaft und Krieg waren die Kehrseite eines extensiven Ausbaus der Sozial-, Familien- und Beschäftigungspolitik.

    Was der NS-Staat auf diktatorische Weise durchsetzte, gelang in den USA auf demokratische mit Roosevelts "New Deal". Ein Mix aus dirigistischen Maßnahmen und symbolischen Akten, korporativen Absprachen und keynesianischer Haushaltspolitik führte das Land aus der Weltwirtschaftskrise. Nach dem Krieg wurde mit Varianten dieser Politik in allen industrialisierten Ländern eine Phase von nie gekannter Prosperität und Aufwärtsmobilität eingeläutet. Es begann das "Goldene Zeitalter" gesellschaftlicher Gestaltung durch die Politik.

    Die Kämpfe der Weimarer Klassengesellschaft transformierten sich in die Umverteilungskonflikte der nivellierten Mittelstandsgesellschaft. Das Wohlstandsmodell der Nachkriegszeit ermöglichte eine enorme Ausweitung des staatlichen Sektors. Planung und Steuerung hießen die politischen Zauberworte dieser Jahre. Es war das zukunftsgewisse Modell einer Gesellschaft, welche sich den Fortschritt auf die Fahnen schrieb. Dieser bestand in einem zuvor und danach nie mehr gegebenen Gleichklang der Vervollkommnung des Rechts- und Sozialstaates einerseits und der Mehrung wissenschaftlicher Erkenntnisse sowie der Dynamik der Technik und der Produktivkräfte andererseits.

    Diese Zukunftsgewissheit erreichte technologiepolitisch mit dem Ausbau der Atomindustrie und sozialpolitisch mit der sozialliberalen Reformpolitik in den 60er-Jahren ihren Höhepunkt. Es war zugleich ein Scheitelpunkt. Denn der Ausbau der Atomindustrie provozierte in den 70er-Jahren Bürgerproteste, welche den technologischen Fortschrittsoptimismus nachhaltig erschüttern sollten. Zugleich mehrte sich der Widerstand gegen die staatliche Allzuständigkeit, mit welcher sowohl der technologische als auch der soziale Fortschritt ins Werk gesetzt wurde. Die These von der "Unregierbarkeit" machte die Runde. Konservative Politikwissenschaftler wie Wilhelm Hennis und Peter Graf Kielmansegg sahen die Funktionsfähigkeit des Staates durch die Anspruchsinflation der Bürger bedroht.

    "Es ist offenkundig, dass es den Bürgern der hoch entwickelten westlichen Demokratien immer selbstverständlicher wird, den Staat für die Gesamtheit ihrer Lebensumstände für verantwortlich zu halten, ihm also mit unerfüllbaren Leistungserwartungen entgegenzutreten. Und es ist ebenso offenkundig, dass in einem Staat, der für alle Lebensumstände seiner Bürger für verantwortlich gehalten wird, Politik in dramatischer Weise permanent mit der Gefahr des Entzuges von Zustimmung konfrontiert ist."

    Der hier zitierte Graf Kielmansegg konstatierte zugleich ein Nachlassen der traditionellen Bindungen an den Staat und sah dadurch einen für diesen tödlichen Kreislauf in Gang gesetzt.

    "Zustimmung muss bar bezahlt werden, wenn gemeinschaftsorientierte Zustimmungsmotivationen fehlen. Es scheint, als gerate hier ein circulus vitiosus in Bewegung: Regierungen und Parlamente werden sich unweigerlich an den Erwartungen orientieren, durch deren Befriedigung Zustimmung zu gewinnen ist. Je weiter sie aber auf diesem Wege fortschreiten, desto mehr tragen sie zur Verfestigung jener Erwartungen bei, auf die sie reagieren."

    Die Thesen der Politologen fielen auf fruchtbaren Boden. Die Wirtschaftskrise 1973 hatte die Grenzen einer Politik der Globalsteuerung aufgezeigt, das keynesianische "deficit spending" führte nicht mehr auf den Wachstumspfad, Streiks, Studenten- und Bürgerproteste sowie der aufkommende Linksterrorismus ließen den Ruf nach einem starken Staat lauter werden. Nach den "Trente Glorieuses" einer Politik der Zuversicht war nun wieder Skepsis angesagt. Der Staat wurde auf sein ordnungspolitisches Kerngeschäft reduziert, Teile der Daseinsvorsorge wurden privatisiert und die Wirtschaft liberalisiert.

    Es folgte die lange Phase des Neoliberalismus, wo sich die Politik, egal, ob konservativ oder sozialdemokratisch von einem breiten Gestaltungsanspruch zurückzog. Das Leitbild des Sozialstaates, der die Gesellschaft gerecht gestaltet, wurde abgelöst durch das Ideal des Einzelnen, der als Selbstunternehmer sein Schicksal in die Hand nimmt. An die Stelle staatlicher Fürsorge trat die private Vorsorge, auf die "Trente Glorieuses" der Zuversicht folgte ein ebenso langer Zeitraum neoliberaler Politik der Skepsis.

    Obgleich diese Politik zu sozialen Verwerfungen und Ungleichheiten bis dahin unbekannten Ausmaßes führte, endete sie nicht am gesellschaftlichen Widerstand, sondern an den eigenen Widersprüchen. Die unsichtbaren Hände des Marktes, welche als Steuerungsinstrument auf die Unregierbarkeit der Politik gefolgt waren, erwiesen sich in der Finanzkrise 2008 als nicht ausreichend, ihrer Aufgabe gerecht zu werden. Sie waren so vielfältig geworden, dass die eine Hand nicht mehr wusste, was die andere tat. Damit schien sich erneut das Vorzeichen der Politik zu wandeln, doch diesmal sollten sich alle täuschen.

    Als sich auf der Höhe der Finanzkrise die Banken als staatsbedürftig erwiesen, hegte nicht nur die politische Linke die Erwartung, dass der Marktliberalismus endgültig desavouiert sei und nunmehr der Staat zurückkehre. Dass ausgerechnet jener Wirtschaftssektor Hilfe von der Politik erhoffte, der jegliches Einwirken auf das Marktgeschehen jahrzehntelang als schädlich zurückgewiesen hatte, kam nach gängiger Marktideologie einem Offenbarungseid gleich. Nachdem notleidende Banken nunmehr unter staatlich aufgespannten Rettungsschirmen Überlebenshilfe suchten, konstatierte denn auch der DGB-Vorsitzenden Michael Sommer im Winter 2008 mit einiger Genugtuung:

    "Es geht gerade eine Epoche zu Ende. Die Krise ist so tief, dass sie zum Systemzusammenbruch geführt hätte, wenn es nicht den demokratischen Staat und die demokratische Gesellschaft gäbe."

    Die Gewissheit, Zeuge einer Zeitenwende zu sein, verband der Philosoph Jürgen Habermas mit der Erwartung, dass sich damit ein "window of opportunity" zu einer politischen Gestaltung eröffne, wie sie vor der langen Ära des Neoliberalismus geherrscht hatte:
    "Solche Gezeitenwechsel verändern die Parameter der öffentlichen Diskussion; damit verschiebt sich das Spektrum der für möglich gehaltenen politischen Alternativen. Mit dem Koreakrieg ging die Periode des "New Deal" zu Ende, mit Reagan und Thatcher und dem Abflauen des Kalten Krieges die Zeit der sozialstaatlichen Programme. Und heute ist mit dem Ende der Bush-Ära und dem Zerplatzen der letzten neoliberalen Sprechblasen auch die Programmatik von Clinton und New Labour ausgelaufen. Was kommt jetzt? Ich hoffe, dass die neoliberale Agenda nicht mehr für bare Münze genommen, sondern zur Disposition gestellt wird. Das ganze Programm einer hemmungslosen Unterwerfung der Lebenswelt unter Imperative des Marktes muss auf den Prüfstand."

    Der Staat ist zurückgekommen, doch er ist nicht mehr der alte. Der Staat hat in den zurückliegenden Jahren sein Letztes gegeben, um großo modo den Status quo ante finanzwirtschaftlicher Omnipotenz zu restaurieren. In der Konsequenz ist die Politik von der Autonomie, die sich nicht nur Sommer und Habermas erhofften, weiter entfernt, denn je. Die Rettungspakete für die Banken, die ihnen folgenden für die Unternehmen und die aktuellen für die zahlungsunfähigen Staaten im Euroraum atmen den Ungeist Margaret Thatchers von der angeblichen Alternativlosigkeit, mit der jede politische Initiative erstickt zu werden droht, sobald sie den von ökonomischen Sachzwängen vorgezeichneten Weg verlassen will. Und in diesem Geist sind Regierung und Opposition vereint.

    Der Gezeitenwechsel, den Habermas konstatierte, hat stattgefunden, doch hat er eine andere Gestalt angenommen, als von dem Sozialphilosophen erwartet. Galt zuvor das Primat einer sich möglichst frei von politischen Eingriffen entfaltenden Wirtschaft, so hat sich mit der Krise die hemmungslose Unterwerfung der Lebenswelt unter die Imperative des Marktes auf die Politik ausgedehnt. Die Hilfe für das Finanzkapital hat den Staat zum rentablen Spekulationsobjekt desselben gemacht.

    Das Maß seiner jeweiligen Ohnmacht lässt sich am Grad und an der Struktur seiner Verschuldung ablesen. In den Euro-Krisenländern hat sich bereits der Kreislauf aus Verschuldung, Sanierungszwang, sinkender Wirtschaftskraft und verminderter Staatseinnahme geschlossen. Doch auch Deutschland hat mit einer hohen Staatsverschuldung zu kämpfen. Sie dämpft nicht nur das Wirtschaftswachstum, sondern reduziert auch die staatlichen Gestaltungsräume. Schon um die Belastungen für die künftigen Generationen zu begrenzen, ist der Staat gezwungen, sich zu konsolidieren - mit absehbaren Konsequenzen. Der Soziologe Wolfgang Streeck ist sich sicher,

    "dass fiskalische Konsolidierung mit hoher Wahrscheinlichkeit auf eine weitere Privatisierung der gesellschaftlichen Zukunftsvorsorge hinauslaufen wird, im Trend der neoliberalen Wende und parallel zu einer zunehmenden Reduzierung der öffentlichen Ausgaben auf die Befriedung der historischen Ansprüche alternder Bürger- und Wählerkohorten. Abnehmende politische Entscheidungsspielräume und schrumpfende Möglichkeiten staatlicher Politik, auf neue Problemlagen einzugehen und für die Zukunft der Gesellschaft und ihrer Bürger vorzusorgen, führen dann zu sinkenden politischen Erwartungen, die die Bereitschaft zu politischer Partizipation beeinträchtigen."

    Immerhin ließe sich diese düstere Aussicht mit dem Versprechen legitimieren, dass durch eine solche Konsolidierungspolitik der Staat seine Handlungsfähigkeit wieder zurückgewinnen könne. Doch das ist eine Hoffnung, die nach Streecks Ansicht trügt:

    "Zwar wird Konsolidierung oft mit dem Versprechen propagiert, dass der Staat auf diese Weise seine Souveränität gegenüber den Märkten zurückgewinnen werde. Der Zeitpunkt jedoch, an dem dies, wenn überhaupt, eintreten könnte, liegt weit in einer unabsehbaren Zukunft."

    Für solche Skepsis spricht die historische Erfahrung, denn das Versprechen der Konsolidierung ist so alt wie die Verschuldung des Staates. Eingelöst wurde es nie. Die Staatsverschuldung ist seit den frühen 70er-Jahren unbeschadet konjunktureller Zyklen beständig gewachsen. Änderungen der politischen Konstellationen und Koalitionen hatten auf dieses Wachstum keinen nennenswerten Einfluss, mit jeweils unterschiedlicher Begründung haben Rechte wie Linke das Defizit befördert.

    Dies ist keine Besonderheit Deutschlands, sondern eine allen alten Industriestaaten gemeinsame Entwicklung, die durch die Finanzkrise eine dramatische Steigerung erfahren hat. In Deutschland summieren sich die Staatsschulden auf mittlerweile über zwei Billionen Euro. Zu diesen können, je nach Schätzung, noch mehrere Billionen Euro addiert werden, die der deutsche Staat an Verpflichtungen für die Zukunft eingegangen ist, sei es durch Rentenleistung und Beamtenpensionen oder durch die Pflegeversicherung.

    Diese Entwicklung der letzten 40 Jahre ging parallel mit einem Rückgang des Wirtschaftswachstums einher. Die volkswirtschaftliche Verteilungsmasse verringerte sich und der Zugriff des Staates auf Unternehmen und deren Gewinne wie auf die privaten Einkommen schwand zusehends.

    In der Konsequenz ist das Defizit des Staates beständig gestiegen. Diese Entwicklung führte dazu, dass sich die Aufwendungen des Bundes für die Träger der Sozialversicherung in den letzten vier Jahrzehnten von 13,5 Prozent auf 35 Prozent seines Haushaltes erhöht haben. In der gleichen Zeit hat sich der Anteil der für Schulden und Zinsen ausgegeben wird, auf 12,5 Prozent vervierfacht.
    Rechnet man die durch langfristige Verpflichtungen festgelegten Anteile des Staatshaushaltes zusammen, so verbleibt ein für die politische Gestaltung verfügbarer Rest von 20 Prozent der Staatseinnahmen. 1970 lag dieser sogenannte diskretionäre Anteil noch bei 63 Prozent.

    Subtrahiert man noch die Verteidigungsausgaben, da diese großenteils durch Bündnisverpflichtungen festgelegt sind, so liegt die politische Verfügungsmasse bei dürren acht Prozent. In der Hochphase der sozialliberalen Reformära in den 1970er-Jahren betrug der entsprechende Wert noch 40 Prozent. Diese mageren acht Prozent bilden heute die materielle Grundlage dessen, was landläufig mit dem Begriffspaar Politik und Gestaltung verbunden wird.

    Der Marsch in den Schuldenstaat war seit Langem zu beobachten, ohne dass er zu nennenswerten Konsequenzen geführt hatte. Zwar fochten die Parteien harte verteilungspolitische Kämpfe aus, zwar orientierte sich ihre Wirtschaftspolitik wahlweise an Keynes oder an Hayek. Doch pflegten alle eine legitimatorische Rhetorik, die staatliches Schuldenmachen als notwendiges Übel akzeptierte, es gar als ökonomisches Win-Win-Modell verkaufte.

    Nachfragepolitisch sah und sieht man in der vermehrten, auch schuldenfinanzierten Staatsausgabe den Motor zur Ankurbelung einer Binnennachfrage, der konjunkturfördernde Effekte zugeschrieben werden. Über die dadurch induzierte erhöhte Staatseinnahme soll der Abbau der Schulden wieder ermöglicht werden. Soweit die keynesianische Theorie. Diese Refinanzierung hat sich aber, nicht zuletzt aufgrund der Eigendynamik staatlicher Ausgabenpolitik, so gut wie nie eingestellt.

    Zudem hat die Wirksamkeit dieser Nachfragepolitik nachgelassen, da die Globalisierung der Wirtschaft zu erheblichen Streueffekten der eingesetzten Mittel führte. Ein letztes teures Beispiel dafür war die Abwrackprämie, mit der auf dem Höhepunkt der Finanzkrise, die heimische Autoindustrie vor deren Auswirkungen geschützt werden sollte. Lediglich knapp die Hälfte der staatlichen Förderung kam der heimischen Produktion zugute, der Rest ging an ausländische Anbieter und zu einem nicht geringen Teil an kriminelle Schieber.

    Doch auch Angebotspolitiker vermehrten den Schuldenberg. Zwar setzten sie in der Ausgabenpolitik andere Akzente, doch waren diese nicht unbedingt mit weniger Kosten verbunden. Zugleich verfochten sie das Primat der Steuersenkung zur Belebung wirtschaftlichen Wachstums und versprachen sich von der gesamtwirtschaftlichen Wirkung Trickle-Down-Effekte, welche wiederum zu einem höheren Steueraufkommen führen sollten. Diese Effekte sind nie eingetreten.

    Diese jahrzehntelang betriebene Schuldenpolitik gewinnt durch den demografischen Wandel zusätzliche Dramatik. Auf der einen Seite verschlechtert sich seit den 70er-Jahren kontinuierlich das Verhältnis von Beschäftigten und Rentnern, was die staatlichen Zuschüsse zum Gesundheits- und Rentensystem ansteigen lässt. Auf der anderen Seite belasten die gleichzeitig ergriffenen Maßnahmen zur Anhebung der Geburtenrate zwar zunehmend den staatlichen Haushalt, ohne jedoch die gewünschten Effekte zu zeitigen.

    Dieser Prozess wird sich in den kommenden beiden Jahrzehnten drastisch verschärfen, weil dann nicht nur die geburtenstarken Jahrgänge der Babyboomer in Rente gehen, sondern auch die Zahl derjenigen zunehmen wird, die aufgrund gebrochener Erwerbsbiografien nicht ausreichend für ein armutsfestes Alterseinkommen gesorgt haben.

    Spätestens mit der Finanzkrise ist der Schuldenstand in eine Dimension katapultiert worden, welche die Handlungsfähigkeit des demokratischen Staates vital berührt.

    Dass dessen Kreditwürdigkeit zum Gegenstand spekulativer Attacken auf den Finanzmärkten geworden ist, Staatsschulden mithin mit einem kaum mehr kalkulierbaren Zinsrisiko behaftet sind, hat die Lage zudem verschärft. Bei einer Bruttokreditaufnahme von 330 Milliarden Euro im Jahr 2010 schlagen Änderungen der Bonitätseinstufung oder etwa die mögliche Einführung von Eurobonds schnell mit einer erhöhten Zinslast von sieben bis acht Milliarden Euro zu Buche.

    Mit einem Anteil am Haushalt von unter zehn Prozent ist ein Schwellenwert erreicht, ab dem die Bindungskräfte der Demokratie massiv geschwächt werden können. Die Möglichkeit der Exekutive, durch ein entsprechendes Output sich die Legitimation zu sichern, die ihr der Souverän bei der Wahl vorgeschossen hat, schrumpfen auf ein kaum mehr merkliches Maß. In der Konsequenz wird die Staatsbedürftigkeit der Gesellschaft zunehmend auf eine private Befriedigung verwiesen. Diese können sich jedoch immer weniger Bürger leisten, die Zahl prekärer und insolventer Existenzen nimmt zu. Zugleich erlebt das Volk, dass die Belange der Finanzindustrie aufgrund ihrer Systemrelevanz vorrangig bedient werden.

    Diese Bedienung obliegt Institutionen, die den Sachzwängen der Konsolidierung verpflichtet sind und allenfalls mittelbar noch einer demokratischen Kontrolle unterliegen. Den Vertretern des Volkes bleibt nur noch die Rolle, diesem zu vermitteln, was zuvor eine ungreifbare Exekutive beschlossen hat.

    Es ist eine Unregierbarkeit, allerdings eine andere als Hennis und Kielmansegg in den 70er-Jahren prognostizierten. Der Staat ist nicht vor den inflationären Ansprüchen der Bürger, sondern denen der Finanzwirtschaft in die Knie gegangen. Nun hat er kaum noch Ressourcen, selbst die reduzierten Anliegen seiner Bürger zu befriedigen und sich dadurch Legitimität zu sichern.

    Dieser Legitimationsverlust des Staates trifft die ganze politische Klasse. Er wird jedoch von den politischen Lagern verschieden verarbeitet. Während liberal-konservativer Politik immer schon eine gewisse Skepsis gegenüber dem Staat eigen war, sie dessen Aufgaben auf das Maß seiner Einnahmen beschränkt wissen und diese gering halten wollte, stellt das Schuldendilemma vor allem die politische Linke vor ein grundsätzliches Problem. Denn deren Stärke lag und liegt nach wie vor in einer Politik der Zuversicht, deren Einlösung von den Spielräumen staatlicher (Um-)Verteilungsmöglichkeiten abhängt.

    Diese Spielräume durch eine Politik erhöhter Staatseinnahmen zu vergrößern, trifft inzwischen schnell auf den Widerstand einer gesellschaftlichen Mitte, die ihren Lebensstandard bedroht sieht. Damit ist der Teufelskreis der Austeritätspolitik geschlossen. Und hat sich ein fiskalisches Austeritätsregime einmal etabliert, dann sind, so der Soziologe Wolfgang Streeck,

    "seine Aussichten gut, sich laufend selbst zu stabilisieren: Hartnäckige Defizite verlangen immer neue Sparmaßnahmen, die auch, wenn sie sich tatsächlich durchsetzen lassen, kaum ausreichen, die endemische Lücke zwischen Ausgaben und Einnahmen zu schließen. Steuererhöhungen als Alternative sind umso unpopulärer, je mehr sie dazu gebraucht werden, zunächst historisch gewachsene alte Verbindlichkeiten zu begleichen. Neues kann unter solchen Bedingungen kaum mehr unternommen werden."

    Eine Politik, die den Schuldenabbau zu ihrem Gegenstand macht, hat von daher von vornherein mit geringer Akzeptanz zu kämpfen. Es muss sogar befürchtet werden, dass die verfassungsrechtliche Normierung der Schuldenbremse die Sozialstaatsklausel des Grundgesetzes praktisch suspendiert.

    Damit wäre die künftige Scheidelinie der Politik markiert. Denn im Kern geht es um die Frage, ob politisches Gestalten weiterhin zulasten der künftigen Generationen gehen wird, oder ob diese nicht aus Gründen der Gerechtigkeit Anspruch auf die gleichen Gestaltungsmöglichkeiten haben.

    Der Ausweg aus diesem Dilemma könnte in einer Mehrung der Staatseinnahmen liegen, meinen die Parteien des linken Spektrums, die in Steuererhöhungen die einzige Möglichkeit sehen, dem Kreislauf des Austeritätsregimes zu entkommen.

    Die Bundestagswahl wird möglicherweise auch darüber Aufschluss geben, ob die Bürger zu diesem Weg bereit sind oder ob düstere Prognosen weiter Nahrung bekommen werden, die die Garantie des Sozialstaatsgebots als gefährdet ansehen.

    Über den Autor:
    Dieter Rulff war Redakteur der "taz" und der Zeitschrift "Vorgänge". Heute gehört er dem Redaktionsteam des von der Heinrich-Böll-Stiftung herausgegebenen Magazins "Böll" an.