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Politische Lösung des Kosovo-Konflikts

LANGE: Am Telefon begrüße ich Herrn Detlef von Leicher, seines Zeichens Sprecher des Frankfurter Kreises und damit Wortführer der SPD-Linken. Guten Morgen Herr von Leicher.

    Leicher: Schönen guten Morgen Herr Lange.

    LANGE: Herr von Leicher, was erwarten Sie denn von dieser Kosovo-Debatte auf dem SPD-Parteitag am Montag?

    Leicher: Also, zunächst einmal geht es nicht um die Moral der Linken, es geht auch nicht um das Gebiet, das Gewissen zu beruhigen. Und es ist richtig: Keiner will dem Bundeskanzler und dem zukünftigen Parteivorsitzenden Gerhard Schröder schaden, sondern es geht um die Menschen im Kosovo und in ganz Jugoslawien. Und es geht um den Weg, wie wir in dieser Region zum Frieden kommen. Es hat sich eben – meiner Meinung nach – gezeigt, daß die humanitäre Katastrophe sich durch die Bombardierung nicht verhindern hat lassen - die unmenschliche massenhafte Vertreibung von Kosovo-Albanern hat trotzdem stattgefunden. Und da sagen wir: Da müssen wir über eine neue Strategie nachdenken: Eine Rückkehr zu einer politischen Lösung. Und darum muß in der Tat auf dem SPD-Parteitag intensiv diskutiert werden.

    LANGE: Wie könnte denn so eine politische Lösung aussehen?

    Leicher: Wir schlagen drei Schritte vor. Das Erste ist natürlich, daß die humanitäre Hilfe, die angelaufen ist, verstärkt fortgesetzt werden muß. Das heißt, daß wir großzügiger Flüchtlinge in Deutschland aufnehmen müssen, um die Nachbarländer nicht in eine unmögliche Lage zu versetzen. Als zweites sagen wir: Die UNO sollte einen humanitären Korridor im Kosovo einrichten, der die Versorgung der Flüchtlinge im Kosovo selbst erlaubt, so daß auch den Leuten geholfen wird, die von serbischen Truppen von den Grenzen wieder zurückgeholt worden sind, und es muß eine völlige Entvölkerung des Kosovos verhindert werden. Dieser Korridor muß mit UN-Truppen abgesichert werden. Diese UN-Truppen sollten auf Soldaten von UN-Mitgliedsstaaten bestehen, die aber nicht an Kampfhandlungen beteiligt waren. Ganz besonders wichtig wäre dabei die Beteiligung der russischen Soldaten, wozu sich ja Rußland auch bereiterklärt hat. Und der dritte Schritt wäre ein Waffenstillstand zur Aufnahme von Friedensverhandlungen. Da sagen wir: Die UN sollte die OSZE mit der Durchführung einer Regionalkonferenz beauftragen, die in Verhandlungen zwischen der Bundesrepublik Jugoslawien, Mazedonien, Albanien sowie dem Gebiet Kosovo eine Regelung der albanischen Frage herbeiführt. Grundlage kann aufgrund der jetzigen Situation nicht der Vorschlag von Rambouillet sein. Es muß eine Lösung geben auf der Basis der Selbstverwaltung und Autonomie durch die Schaffung eines albanischen Rates nach dem Vorbild der angeloidischen Übereinkunft. Und an dieser Regionalkonferenz müssen teilnehmen: Bundesrepublik Jugoslawien, Mazedonien, Albanien, Bulgarien, Rumänien, Ungarn, Kroatien, Bosnien-Herzegowina und Griechenland. Die sollten eine gemeinsame Agentur bilden zur Förderung der wirtschaftlichen und demokratischen Entwicklung der ganzen Region unter Beteiligung der EU. Also, das geht auch darum, eine langfristige friedliche demokratische Entwicklung auf dem ganzen Balkan einzuleiten.

    LANGE: Das ist ein Konzept, das weit in die Zukunft reicht. Aber kann im Moment eine sozialdemokratisch geführte Bundesregierung überhaupt sich erlauben, in dieser Situation aus dem NATO-Verbund in irgendeiner Weise auszuscheren?

    Leicher: Das wird nicht gefordert. Wir werden die Bundesregierung bitten, in der NATO darauf hinzuwirken, daß es zu diesem Waffenstillstand und zu Verhandlungen kommt.

    LANGE: Das eigentlich Verwunderliche ist, daß es diesen deutlichen Widerspruch aus der SPD – nach meiner Wahrnehmung – erst jetzt gibt. Wenn man sich erinnert, welche vergleichsweisen harmlosen Anlässe die Sozialdemokraten - als ganze Fraktion - vor das Bundesverfassungsgericht gebracht haben. Wie erklären Sie sich diese vergleichsweise lange ‚Funkstille‘?

    Leicher: Es ist ja nicht so, daß die Funkstille total gewesen ist. Schon am 16. Oktober gab es ja Gegenstimmen der SPD-Bundestagsfraktion. Sie haben allerdings recht, es ist nicht zu heftigen Diskussionen oder zu einem außerordentlichen Sonderparteitag gekommen. Es hat sich keiner vorstellen können – glaube ich –, daß es zu dieser Situation kommt, in der wir jetzt sind. Und ich glaube, der Konflikt darüber, wie die richtige Reaktion ist, der geht durch jeden Sozialdemokraten. Deswegen sage ich auch: Es ist im Grunde genommen kein Flügelstreit. Denken Sie nur an die kritischen Äußerungen von Helmut Schmidt beispielsweise, und an Henning Voscherau. Und ich glaube auch, daß der Konflikt bei Gerhard Schröder vorhanden ist und bei Rudolf Scharping. Ich glaube, keinem fällt es leicht, mit der NATO zusammen Bomben auf das Land zu werfen.

    LANGE: Könnte es sein, daß auch die SPD-Linke davon ausging, daß die NATO-Angriffe 2-3 Tage dauern und Milosevic dann einlenken würde?

    Leicher: Also, ‚die Linke‘ – das kann man so nicht sagen. Ich weiß nicht, was einzelne gedacht haben. Ich habe immer befürchtet, daß das nicht rasch vorbei ist. Ich und andere haben auch die Frage der Bundestagsfraktion gestellt: Was passiert denn, wenn Milosevic nicht, wie von der Mehrheit erwartet, in wenigen Tagen nachgibt, sondern wenn er einfach weitermacht? Wie sieht dann das Konzept aus? Und da muß ich sagen, da war das Konzept der NATO eigentlich nur die Hoffnung, daß er nachgibt – und ein weiteres Konzeptbild ist nicht vorhanden. Über den Einsatz von Bodentruppen wird jetzt in den letzten Tagen wieder vermehrt gesprochen, und es wird ja jetzt zugegeben, daß das Konzept auch nicht aufgegangen ist, daß es Milosevic nicht davon abhalten konnte, die Vertreibung vorzunehmen.

    LANGE: Also, wenn ich Sie richtig interpretiere: Es sind nicht Bedenken grundsätzlicher moralischer Art, es ist eher eine Frage des Aufwands und der Verhältnismäßigkeit?

    Leicher: Also, die Bedenken moralischer Art hat jeder Sozialdemokrat, wenn es um Krieg geht. Das nehme ich für mich in Anspruch, das reklamiere ich auch für den Bundeskanzler, für Rudolf Scharping, für alle. Insofern sind moralische Argumente natürlich nie außen vor. Aber es geht eben wirklich darum, eine konkrete Alternative aufzuzeigen und die zu diskutieren.

    LANGE: Welche Chancen wird Ihr Vorstoß haben? Die Mehrheitsverhältnisse scheinen ja doch ziemlich klar zu sein.

    Leicher: Ich kann das nicht einschätzen. Ich denke nur, daß jeder Tag, der vergeht, ohne daß das Bombardement aufhört, wird um so dringlicher nach einer alternativen Lösung rufen.

    LANGE: Inwieweit stecken denn auch – sage ich mal – taktische Motive hinter diesem Vorstoß? Die SPD und die Grünen hätten die Debatte an die PDS verloren – meint die schlesweig-holsteinische Ministerpräsidentin Heide Simonis. Es gibt doch offenbar auch Erwägungen, die mit der eigenlichen Frage nichts zu tun haben.

    Leicher: Also, daran habe ich wirklich nicht gedacht. Mich quält es einfach - ich bin jetzt so alt, daß ich die letzten Kriegstage noch miterlebt habe - und mich quält es einfach, daß wir dabei sind, auf Menschen Bomben zu werfen. Und mich quälen die Fragen: Wie ist das zu beenden, und wie ist – natürlich – die Vertreibung rückgängig zu machen, wie ist zu sichern, daß die Vertriebenen wieder in ihre Heimat zurückkehren können?

    LANGE: Dieser Parteitag hatte ursprünglich nur einen wichtigen Tagesordnungspunkt, nämlich die Wahl von Gerhard Schröder zum neuen Vorsitzenden der SPD. Hätten die Sozialdemokraten unter Oskar Lafontaine den Kurs der Regierung Schröder ähnlich widerspruchslos mitgetragen, wie das bisher der Fall war?

    Leicher: Das weiß ich nicht. Das ist eine spekulative Frage. Es lohnt – glaube ich – auch nicht, darüber nachzudenken.

    LANGE: Aber es könnte doch sein, daß sich Lafontaine mit seinem Rücktritt gerade einer solchen Situation entziehen wollte.

    Leicher: Aber auch das ist spekulativ. Er hat seinen Rücktritt anders begründet, und ich nehme das so, wie er das gesagt hat.

    LANGE: Vielen Dank, Detlef von Leicher. Wir sprachen mit dem Sprecher des Frankfurter Kreises und dem Wortführer der SPD-Linken - im Vorfeld des Parteitages am Montag.