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Politischer Frühling in Damaskus

Damaskus, Juni 2000. Nach dreißig Jahren Alleinherrschaft stirbt Syriens Präsident Hafis Al-Assad im Alter von siebzig Jahren. Unter seiner Führung wurden Staat und Gesellschaft einer strikten Kontrolle durch die allgegenwärtigen Geheimdienste und die Organisationen der Staatspartei Al-Baas unterworfen, die sich ihrerseits an früheren staatssozialistischen Vorbildern osteuropäischen Typs orientiert hatten. An der Spitze der Pyramide stand, mit allen Fäden in der Hand, Hafis Al-Assad als letzte Entscheidungsinstanz. Für den Fall seines Todes fürchteten viele Syrer und ausländische Beobachter gewaltsame Auseinandersetzungen um seine Nachfolge, Unruhen zwischen den verschiedenen religiösen Gruppen, sogar einen Bürgerkrieg.

Heiko Wimmen | 02.03.2001
    Doch als es im Juni 2000 so weit ist, läuft der seit langem vorbereitete Mechanismus der Nachfolge ab wie ein Uhrwerk. Nur wenige Stunden nach Verkündigung der Todesnachricht überfluten Massen von Trauernden die Paradeplätze der syrischen Hauptstadt. Und schon bald verkünden Sprechchöre die Loyalität zu Präsidentensohn Baschar. "Mit Blut und Seele" wollen sie dem neuen Herrscher dienen, verkünden die Chöre, übertönen die Angst vor Chaos und Gewalt.

    Prominente Würdenträger aus Partei und Militär beeilen sich, dem Kronprinzen ihre Reverenz zu erweisen, potentielle Konkurrenten dagegen sind schon lange im Vorfeld kaltgestellt worden. Am 10. Juli 2000 schließlich wird Baschar Al-Assad als einziger Kandidat mit der sagenhaften Mehrheit von 97,98 % zum neuen Präsidenten Syriens gewählt. Der dynastische Machtwechsel vom Vater zum Sohn ist geschafft.

    Der neue Präsident tritt ein schweres Erbe an. Über dreißig Jahre lang beschränkte sich Politik in Syrien auf die Glorifizierung des "Führers durch Weg und Schicksal" Hafis Al-Assad. Von den zentralen Plätzen aller größeren syrischen Städte grüßen bis zu dreißig Meter hohe Statuen, Porträts des - wie er gefeiert wurde - "kämpfenden Präsidenten" bedeckten die Fassaden zehnstöckiger Häuserblocks. Nahezu im Alleingang, so suggerierten die staatlichen Medien, habe der syrische Präsident die "Wiederauferstehung der Arabischen Nation" durchgesetzt - so die Bedeutung des Parteinamens Al-Baas. So habe er den Kampf gegen den Erbfeind Israel geführt.

    Ummar Amiralai: "Das war Größenwahnsinn ersten Grades, und den Preis dafür hat die syrische Gesellschaft bezahlt. Der Alltag, das alltägliche Leben wurden als unwichtige Details abgetan. Wir waren wie die Sklaven beim Bau der Pyramiden - du hast dich zu opfern, um diesen historischen Führer zu schaffen."

    Schon Anfang der siebziger Jahre zeigte der syrische Regisseur Ummar Amiralai in seinen oft verbotenen Dokumentarfilmen syrisches Alltagsleben, das wenig mit den großspurigen Tönen der staatlichen Propaganda gemein hatte. Amiralai über das Erbe der letzten Assad - Jahre.

    Ummar Amiralai: "Hafis Al-Assad befand sich seit zehn Jahren in einem politischen Koma, gesundheitlich und in seiner Innenpolitik. Es gibt Dekrete und Entscheidungen, seit dem Golfkrieg, die einfach nicht unterzeichnet wurden. Die Führung der Gesellschaft im Inneren war völlig gelähmt, zugunsten der Konzentration auf Israel, den äußeren Feind."



    Rijad Sef: "Die syrische Wirtschaft ist völlig konkurrenzunfähig geworden. Es herrscht Stagnation, die Produktion sinkt in allen Bereichen. Ohne die Ölexporte wären wir am Rande des Bankrotts. Der öffentliche Sektor macht Verluste, und ein großer Teil fällt der Staatskasse zur Last."

    Rijad Sef, syrischer Industrieller und Parlamentsabgeordneter. Schon nachdem er 1994 erstmals als unabhängiger Kandidat ins syrische Parlament gewählt worden war, kritisierte der heute 55jährige, bullig wirkende Textilfabrikant Bürokratismus und Misswirtschaft in der staatlich gelenkten syrischen Wirtschaft.

    Seit Mitte der sechziger Jahre bemühte sich die Baas-Partei, den im Parteiprogramm geforderten "Sozialismus" durch eine vom sowjetischen System der Fünfjahrespläne inspirierte staatliche Lenkung der Wirtschaft zu verwirklichen. Nach Jahren der Abschottung von den Weltmärkten stehen die staatlichen Wirtschaftslenker heute vor einem Scherbenhaufen: Unternehmen, die aus sozialpolitischen Gründen ein vielfaches der tatsächlich benötigten Arbeiter durchfüttern müssen, stellen Produkte her, die selbst von den anspruchslosen syrischen Konsumenten verschmäht werden - sie ziehen importierte oder geschmuggelte Waren vor. Gleichheit hat sich allein in der Misere verwirklicht: selbst Richter und Universitätsprofessoren müssen sich mit Gehältern begnügen, die umgerechnet unter 200 Mark liegen - mit den entsprechenden Folgen für die Unabhängigkeit der Rechtspflege und die Qualität staatlicher Ausbildungsgänge. Doch es gab auch Gewinner.

    Rijad Sef: "Es haben sich Monopole gebildet, in Handel, Dienstleistung und Industrie. Die Regierung schnitt ihre Gesetzgebung auf bestimmte Personen zu. So wurden etwa über lange Jahre Baumaterialien für ein Mehrfaches des Weltmarktpreises auf dem Schwarzmarkt verkauft. Die Gewinnspanne floss in die Taschen der Monopolisten. Und im Ergebnis sind viele Söhne der Stützen des Regimes zu großen Unternehmern geworden."

    Die von Sef kritisierten Missstände werden mittlerweile auch von Vertretern des Regimes anerkannt. Kurz vor dem Machtwechsel wurde der seit dreizehn Jahren amtierende Premierminister Mahmud Surrbi nach Korruptionsvorwürfen gefeuert und beging kurz darauf Selbstmord. Der Wirtschaftspolitik, so Baschar Al-Assad in seiner Antrittsrede, sei in der Vergangenheit zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden, klare Konzepte hätten gefehlt. Die durch den neuen Präsidenten handverlesene Regierung hat seitdem mit einer Serie von Dekreten den Devisenhandel, das Bankensystem und den Importhandel liberalisiert die Wirtschaftsreform zur Priorität gemacht. Doch Kritiker wie Rijad Sef halten diese Reformen für Stückwerk.

    Rijad Sef: "Viele der staatlichen Betriebe sind meiner Meinung nach seit Ewigkeiten tot und wir weigern uns schlicht, sie endlich zu begraben. Ich sage, in Syrien reicht es nicht mehr, die Wirtschaft zu reformieren, wir müssen tatsächlich ein völlig neue Wirtschaft aufbauen, jede Reform der jetzigen Wirtschaft ist Zeitverschwendung."

    Der private Sektor braucht ein ganz anderes Geschäftsklima. Alle bisherigen Schritte und Vorschläge unterliegen einem ständigen Tauziehen, und es sind schüchterne Ansätze, die sich nicht trauen, die Wirklichkeit anzutasten und nicht zugeben wollen, wie katastrophal die Situation wirklich ist.

    Auf den Internetseiten des syrischen Wirtschaftsministeriums empfangen den Besucher im Cyberspace heute Musik-Clips und hüpfende Animationen, die die ewig gleichen Errungenschaften der Staatsindustrie feiern. Mit wirklicher Modernisierung tun sich die Wirtschaftsplaner schwerer - nicht nur, weil einflussreiche Kräfte in Partei und Staat ihre Privilegien zu verteidigen suchen. Etwa anderthalb Millionen Syrer sind Angestellte des Staates, Hunderttausende nominell unabhängiger Landwirte hängen am Tropf der subventionierten staatlichen Vermarktungsorganisation. Die auf Dauer unvermeidlichen Massenentlassungen werden die Legitimation des Regimes schwächen, soziale Konflikte drohen.

    Während seiner über vierzig Jahre dauernden Herrschaft hat das Baas-System Macht und Öffentlichkeit in Syrien monopolisiert. Unabhängige Medien gab es nicht, politische Aktivitäten außerhalb der von der Baas geführten Einheitsfront waren illegal, oft lebensgefährlich. Politische Zuverlässigkeit, Parteimitgliedschaft und persönliche Beziehungen zu einflussreichen Vertretern des Regimes bestimmten über die Ernennung von Richtern, Firmenleitern und hohen Beamten. Bis hinunter auf die Ebene individueller Beziehungen reichte das feinmaschige System der Kontrolle - gestützt vor allem auf die Geheimdienste, in deren Sold zeitweilig eine halbe Million Syrer gestanden haben soll. Hasiba Abderahman, syrische Mitarbeiterin von Amnesty International:

    Hassiba Abderahman: "Die Geheimdienste waren die eigentlichen Machthaber in Syrien, natürlich in Verbindung mit dem Präsidentenpalast. Sie verbreiteten Angst und Schrecken, davon war niemand frei. Jeden Augenblick konnte an deine Tür geklopft werden, und man nahm dich mit."

    Vor dem Tod Assads, so etwa ab 1995, begann ihr Einfluss ganz langsam nachzulassen, wirklich fühlbar wurde das erst vor etwa eineinhalb Jahren. Die Ereignisse in Osteuropa haben sie wirklich verunsichert, und es gab die Angst, dass in Syrien das gleiche passieren könnte wie etwa in Rumänien. Sie befürchteten ein Chaos, wenn den Diensten die Kontrolle mit einem Mal entgleiten sollte, und deshalb haben sie den Zugriff langsam gelockert.

    Seit dem Machtwechsel in Damaskus beginnt die Mauer der Angst zu bröckeln. Im Oktober 2000 publizierten 99 syrische Intellektuelle ein Manifest, in dem eine Aufhebung des seit 42 Jahren geltenden Kriegsrechts, die Freilassung aller politischer Gefangenen sowie die Rückkehr zu Rechtsstaat und Demokratie gefordert wurde. Im Januar folgte eine weitere Charta, die nun 1000 Unterschriften trug. Ummar Amiralai war einer der Unterzeichner des ersten Manifests.

    Umar Amiralai: "Wir hatten den Eindruck, dass es eine Tendenz zur Öffnung gibt, und die Intellektuellen wollten die Angst und den Terror durchbrechen, und zugleich die Reaktion der Machtapparate testen, die das neue Regime von seinen Vorgängern geerbt hat. Diese Apparate kennen wir als so brutal, dass sie normalerweise jeden Versuch zur Opposition im Keim ersticken. Unser Manifest war also eine Art Versuchsballon, um zu testen, wie ernst es dem neuen Regime damit ist, Widerspruch zuzulassen. Weil wir den Eindruck hatten, dass die neue Mannschaft verunsichert ist - sie wissen, dass sie ein schweres und kompliziertes Erbe antreten, und dass es Kräfte gibt, die allen Versuchen, sich ihrer zu entledigen, hartnäckigen Widerstand entgegensetzen werden."

    Wie ein Lauffeuer haben sich im letzten halben Jahr in allen größeren syrischen Städten öffentliche Foren verbreitet, auf denen über Demokratisierung und Reform diskutiert wird.

    Die Reaktion der Machthaber auf die neue Bewegung - ausländische Medien sprechen schon von einem "Damaszener Frühling" - ist zögernd und widersprüchlich. Nach anfänglichem Schweigen, angeblich sogar inoffizieller Ermunterung, attackierte Informationsminister Adnan Umran Ende Januar regierungsunabhängige Organisationen als Agenten des Neokolonialismus, die im Solde ausländischer Botschaften die Staaten der dritten Welt wie ein Spinnennetz überzogen hätten. Manifeste von Intellektuellen ohne politisches Mandat, so Präsident Baschar Al-Assad, lese er erst überhaupt nicht, und wer die Stabilität des Vaterlandes in Frage stelle diene, ob mit oder ohne Absicht, dem Feind.

    Syrien könne die westlichen Demokratien nicht kopieren, so Assad in seiner Antrittsrede vom vergangenen Sommer, sondern müsse seine eigenen demokratischen Regierungsformen finden. Die Botschaft ist klar: Neue Foren sind nicht erwünscht, das Ausmaß der Reform zu bestimmen ist und bleibt Sache der Partei, und zwar ausschließlich der Partei. Mitte Februar, vor wenigen Tagen erst. ging Vizepräsident Chadam, einer der prominentesten Vertreter der alten Garde, an die Öffentlichkeit und verkündete das faktische Verbot öffentlicher Veranstaltungen. Die neuen Freiheiten seien missbraucht worden, so Chadam, die Demokratisierung müsse warten, schließlich befinde man sich mitten im historischen Konflikt mit Israel.

    Die Angst der Machthaber vor einer wirklichen politischen Öffnung, vor unabhängigen Institutionen, und langfristig vor dem Verlust der Alleinherrschaft, ist mehr als nur ideologische Verbohrtheit oder bloße Furcht um Privilegien. Das syrische Regime balanciert auf dünnem Eis. Es hat mit einer Gesellschaft zu tun, in der mehr als 40 Jahre Gewaltherrschaft offene Rechnungen und Wunden hinterlassen haben. Die Schatten der Vergangenheit sind lang. Verantwortliche für Verhaftungen, Folter und Todesschwadronen sitzen unangefochten in Staats- und Parteiämtern, bekleiden hohe Positionen in Armee und Geheimdiensten. Deren Macht ist zurückgedrängt, aber noch keineswegs gebrochen.

    Hasiba Abderahman: "Es wird die Zeit kommen, wo die Aburteilung von Leuten gefordert wird, die für brutale Folter verantwortlich sind. Die Gerichte haben dann zu entscheiden, besonders über Fälle von Gefangenentötung, weil Menschen unter der Folter gestorben sind. Wir haben Zeugen dafür und unwiderlegbare Beweise. In Syrien gibt es eine Menge Offiziere, die als Verbrecher gegen die Menschlichkeit international bekannt sind. Noch ist das zu früh, denn es gibt ja sogar jetzt noch immer über sechshundert politische Gefangene."

    Hasiba Abderahman ist nicht allein auf Zeugen angewiesen - sie hat ihre eigenen Erfahrungen gemacht. 1986 wurde sie wegen der Zugehörigkeit zu einer gewaltfrei agierenden, aber illegalen Partei verhaftet und mehr als fünf Jahre ohne Gerichtsverfahren festgehalten.

    Hasiba Abderahman: "Zwei Tage wusste ich nicht was Schlaf war. Ich erinnere, dass ich im Gefängniskorridor war, dann wurde ich in die Folterkammer gebracht, geschlagen und gepeitscht, auf Geräte gefesselt, die das Rückgrat schädigen, elektrische Geräte wurden mit meiner Zunge verbunden, ich habe den Geschmackssinn für sechs Monate vollständig verloren. Da gab es Anblicke, die sich kein Mensch vorstellen kann. Blut, eine so brutale Folter, unvorstellbar, alle halbe Stunde hörte man Schreie, die mehr wie Wolfsgeheul klangen als menschlich, so brutal war die Folter. Dann brachten sie den Gefangenen herunter, meistens bewusstlos. Manche kamen gar nicht wieder, weil sie dort gestorben waren. Das war wirklich schrecklich, ein Alptraum, das kann man eigentlich nur literarisch darstellen."

    Zögernd unternimmt Syrien erste Schritte auf dem Wege zu einer demokratischen Öffnung. Das Regime versucht vorsichtige Reformen, besteht darauf, alleine die strategischen Entscheidungen zu treffen, und wird doch von der Entwicklung mehr getrieben, als dass es sie steuert. Noch immer gilt das Kriegsrecht, ist keine der neuen Freiheiten institutionell abgesichert. Doch die Vorkämpfer der Liberalisierung sehen die Zeit auf ihrer Seite. Der oppositionelle Parlamentsabgeordnete Rijad Sef:

    Rijad Sef: "Ich denke, der Prozess hat begonnen und ist nicht aufzuhalten, weil es eine nationale Notwendigkeit ist. Der Pluralismus ist unausweichlich, und jedes Hindernis, das dieser Entwicklung entgegengesetzt wird, wird nichts nützen. Denn nach Jahrzehnten des Dursts und des Hungers haben die Menschen begonnen, Hoffnung zu schöpfen. Und jeder Versuch, diese Hoffnung zu brechen, wird auf scharfen Widerstand stoßen. Ein Teil der alten Garde wird die Reform vielleicht noch kurze Zeit aufhalten können, aber stoppen können sie sie nicht. Ich denke, die neuen Kräfte sind an einen Punkt gelangt, wo sie nicht mehr nur auf grünes Licht warten, sondern bereits ihre eigenen Forderungen formulieren. Zuvor war jede Reform eine Art großherzige Gabe von oben. JETZT bedeutet Reform, dass wir zurückfordern, was unser Recht ist."