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Polizeigewalt in Brasilien
„Der Polizist schaut sich das Köpfchen an - und: Feuer!“

Der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro will das Strafrecht so ändern, dass Polizisten, die im Einsatz Unschuldige töten, strafrechtlich nicht verfolgt werden. Sie sollen mehr Handlungsspielräume bekommen. Die Folge: Die Zahl der Toten durch Polizeigewalt steigt bereits jetzt.

Von Azadê Peşmen | 08.08.2019
Ein Polizist mit Maschinenpistole im Anschlag steht in einer schmalen Gasse von Rio.
Brasilien diskutiert über Polizeigewalt. (Marcelo Sayao, EPA / picture-alliance / dpa)
Ich sitze auf einem Motorrad – hinten – und kann das Aufnahmegerät kaum halten. Wir holpern über etliche Straßen am Stadtrand Rio de Janeiro. Hier in der Favela Maré leben rund 130.000 Menschen. Wer schnell vorankommen will, braucht ein Motorrad. Busse und U-Bahnen wie im Stadtzentrum gibt es in der Favela nicht.
Wir halten am Haus einer Frau an - mit glatten, blond gefärbten Haaren. Irone Santiago ist bei ihren Nachbarn bekannt. Nicht nur als gute Nachbarin, sondern vor allem als Mutter, die fast ihren Sohn verlor.
"Ich habe geschlafen, als das Telefon klingelte. Sie schickten mich ins Krankenhaus. Da wusste ich noch gar nicht was passiert ist. Als ich dort ankam, waren dort sehr viele Soldaten. Ich sagte: Ich will meinen Sohn sehen. Man sagte mir nur, dass er angeschossen wurde", erzählt Santiago:
"Wir leben in einer Stadt, in Rio de Janeiro, die sehr gewalttätig ist. Deshalb dachte ich, als ich hörte, dass er angeschossen wurde, dass es nicht so schlimm ist. Ich wusste damals noch nicht, dass ich vier Monate lang für das Überleben meines Sohnes kämpfen musste. Ich stand einfach unter Schock."
Ihr Sohn Vitor Santiago saß gerade im Auto, als er von Militärs angeschossen wurde. Er hat überlebt, sitzt aber mittlerweile im Rollstuhl und ist arbeitsunfähig, sein linkes Bein musste amputiert werden.
Die Zahl der von der Militärpolizei Geöteten steigt
Polizeigewalt, vor allem von Seiten der Militärpolizei, ist in den brasilianischen Favelas seit Jahren an der Tagesordnung. Ein Blick auf die Statistik der ersten vier Monate dieses Jahres zeigt: Die Militärpolizei hat in Rio 434 Menschen erschossen, so viele wie nie - im Vorjahreszeitraum waren es 368.
"Wir sehen heute, dass die Gewalt wieder steigt. Die ersten vier Monate ist die Zahl der Toten durch die Polizei die höchste in der gesamten Geschichte Rio de Janeiros. Das heißt seit 20 Jahren, seitdem wir Daten dazu haben, hat die Polizei die meisten Menschen getötet. Das ist ein sehr schlechtes Signal", sagt Pablo Nunes .
Nunes ist Wissenschaftler und arbeitet beim Zentrum für Sicherheits- und Bürgerrechtsstudien Cesec – einem wissenschaftlichen Institut in Rio de Janeiro. Er verfasst Studien zu Polizeigewalt, vor allem zu den Einsätzen, die in den Favelas täglich stattfinden.
Gerade dort kommt es häufig vor, dass Menschen sterben, die nichts mit Verbrechen zu tun haben. Laut offiziellen Statistiken erschießen Polizisten aber vor allem Kriminelle, weil sie in Notwehr handeln.
"Bei den Daten über Polizeigewalt kommt es natürlich auch darauf an, wer sie analysiert. Wenn die Polizei das tut, dann heißt es oft: Selbstverteidigung. Aber das ist Polizeigewalt, wenn die Polizei eine Person während eines Einsatzes umbringt, angeblich aus Notwehr", erklärt Nunes:
"Wir haben sehr viele Probleme, die damit zusammenhängen, weil die einzige Aussage, dass der Polizist in Notwehr gehandelt hat, vom Polizist selbst kommt. Und selbst wenn es eine Autopsie gibt, die deutliche Beweise enthält und zeigt, dass die Person auf den Boden gedrückt wurde, selbst mit diversen Beweisen haben wir es mit vielen Fällen zu tun, in denen Polizisten komplett straffrei bleiben. Auch verurteilte Polizisten, denen der Prozess gemacht wird, wurden von der Jury freigesprochen, weil sie dachten der Polizist tat, was er tun musste: einen Kriminellen umbringen."
Auf dieser Linie ist nicht nur Brasiliens neuer Präsident Bolsonaro. Auch der Gouverneur von Rio de Janeiro, Wilson Witzel, machte sich mit folgendem Satz landesweit bekannt: "Der Polizist schaut sich das Köpfchen an und: Feuer!"
Worte mit großer Wirkung
"Es hat eine sehr starke Wirkung, wenn eine Regierung sagt: ‚Geh‘ los, töte, schieße in den Kopf! Der Verbrecher wird sterben!‘ Das ist sehr stark. Man muss also kein Gesetz unterzeichnen, das erlaubt, jemanden in den Kopf zu schießen. Seine Worte haben diese Wirkung schon."
Für Wissenschaftler Pablo Nunes polarisiere die Rhetorik von Rios Gouverneur Wilson Witzel die brasilianische Gesellschaft, die ohnehin schon verhärtete Fronten aufweise. Die eine Seite findet Gefallen an Waffen und martialischen Auftreten, so wie es der Gouverneur offen zur Schau stellt.
Wilson Witzel steigt mit der bewaffneten Zivilpolizei in den Helikopter, fliegt über eine Favela in Angra dos Reis, im Bundesstaat Rio de Janeiro und die Polizisten schießen aus der Luft nach unten. Das Video veröffentlichte der Politiker auf seinem eigenen Twitterkanal.
"Ich weiß nicht, wie es in Deinem Land ist. Klar, wir wissen, es gab in Deutschland Hitler und die Nazis, aber gibt es bei Euch auch Helikopter, die über Deinem Kopf kreisen und aus denen geschossen wird? Du hast heute Glück. Am Montag, um 11 Uhr, aus dem Nichts, kam ein Helikopter angeflogen und begann zu feuern. Acht Menschen wurden umgebracht. Acht menschliche Wesen. ‚Aber das waren ja Verbrecher‘, sagen sie. Ach Wirklich?", sagt Irone Santiago
Irone Santiago kennt die Helikopter-Einsätze in den Favelas aus ihrem Alltag. Seit ihr eigener Sohn Opfer von Polizeigewalt wurde, engagiert sie sich in ihrem Viertel, macht darauf aufmerksam. Sie redet sich in Rage, auch wenn sie müde ist, ihre Geschichte und die ihres Sohnes zu erzählen.
Jahrelang kämpfte sie gegen alle juristischen und bürokratischen Hürden, damit ihr Sohn Vitor Santiago als Opfer von Polizeigewalt anerkannt wird:
"Ich kann das nicht akzeptieren, wenn du schweigst, dann legitimierst du die Taten des Staates und ich kann das nicht gutheißen. Ich habe einen schwarzen Sohn, mein Mann ist Schwarz, meine Familie ist schwarz. Und diejenigen, die am meisten darunter leiden, sind wir, die arm sind, schwarz sind und aus der Favela kommen."
Diese Recherche entstand mit der Unterstützung von der Agência Pública.