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Pollesch-Premiere an der Berliner Volksbühne
Was soll das Theater?

Der unermüdliche Diskursproduzent und Zeitdiagnostiker René Pollesch hat einen ganz eigenen Zugang zum postdramatischen Theater: An der Berliner Volksbühne gießt er gerade mit "Service/NoService" nicht nur Hohn und Spott aus über den künftigen Intendanten Chris Dercon. Dessen "neoliberale Eventkultur" drohe schon am Horizont, beobachtete unser Rezensent.

Von Eberhard Spreng | 04.12.2015
    Volksbühne in Berlin
    Volksbühne in Berlin (imago/STPP )
    Da hat eine Schauspielerin mitten in ihrem Elektra-Monolog die Bühne verlassen, lange vor dem Ende der Aufführung. In einem spontanen Anfall von Sinnverlust ist sie aus der öffentlichen Rolle ausgetreten, zurück ins kleine private Leben, aus der Verausgabung in die Erholung. Der Bühnenzwischenfall ist symptomatisch. Das Theater, so konstatiert René Pollesch melancholisch, kann sich seiner selbstverständlichen Bedeutung in der Mitte der Gesellschaft und ihrer Debatten nicht mehr sicher sein.
    Sit-In des Publikums
    Die Frage nach den Funktionsweisen der theatralischen Repräsentation hat der Autor und Regisseur immer wieder gestellt und dabei immer wieder mit simplen Show-Elementen gearbeitet. Mit dem kleinen Bühneneinmaleins, mit dem man optisch, sagen wir, bis zu Kitsch und Glamour kommt. Aber in dieser Spielzeit ist der Zuschauerraum der Volksbühne leer geräumt, ein schwarzer Asphalt bedeckt den Boden und das Publikum sitzt darauf wie auf einer Straße beim Sit-In. Am Horizont droht schon die neoliberale Eventkultur eines Chris Dercon, der das Haus 2017 übernehmen wird. Das Haus solle sich mal selbst gentrifizieren, heißt es ironisch und Cocktails anbieten nach jedem Akt. Viel Zeit bleibt nicht mehr, die ewigen Fragen des Theaters abzuklären.
    Und ja, René Pollesch geht zurück bis zur Genese der Bibel, lässt Kathrin Angerer vom Licht erzählen und der Dunkelheit und dann sofort von dem Boden und den Wänden, die der Herrgott am ersten Tag der Schöpfung in Straßen und Häuser scheidet. Eine Asphaltexistenz bedauert die Volksbühnendiva, das notorisch Unbehauste des Theaterkünstlers. Damit erinnert sie auch an die Anfänge des Theaters der fahrenden Künstler. Zwei Thespiskarren fahren, dies zu belegen, gelegentlich über die Bühne. Ein Regisseurskollektiv bedrängt das ratlose Künstlerindividuum. Sie tragen weiße Hosen und rote Shirts mit dem Spielzeitslogan "Don't look back". Der 16-köpfige Chor von sehr jungen Männern fordert das Weitermachen in einer Bühnenwelt in Auflösung.
    "Ich habe das Gefühl mein Leben ist zuende. Gut, es gibt kein Zurück, aber ich würde so gern zurück gehen, aber diese Jungs sagen dauernd, ich soll es lieber nicht machen. Ich bin in einem Schwebezustand ich warte darauf, dass etwas geschieht, aber was? Was?"
    "Du kannst Deinen Scheißtext nicht und du bist nicht synchron."
    Hommage an das Kollektiv der Zuschauer
    Leitmotivisch wiederholen sich einzelne Gedankengänge innerhalb der beziehungsreichen Meditation über das Theater und den Weltgeist. Da ist als ein Gegensatzpaar und als ein Lieblingsthema des Autorenregisseurs, die Frage nach der An- und Abwesenheit der Liebe. Ohne sie, so wird zu Beginn festgestellt, gibt es keinen Zugang zum Leben. Und so wie Gottes Schöpfungswerk das Scheiden voraussetzt, das von Tag und Nacht zum Beispiel, meditiert Pollesch über die Frage der Trennung von Bühne und Publikum. Deutlich weist Katrin Angerers Gestik dem Publikum die Liebe zu und der Bühne die Abwesenheit von Liebe, dem einen den "Service" und der anderen den "No Service". Trotz ironischer Brechung, denn Liebe ist ja nicht nur Dienstleistung: Eine wunderbare Hommage an das Kollektiv der Zuschauer: Ohne den Blick des Betrachters keine Kunst, ohne die Gefühle des Publikums kein Theater. Ohne Erkenntnis des Auges keine Schönheit.
    "Theater, wie wir wissen, braucht nur einen leeren Raum. Der leere Raum! Sturm, Licht, Wasser. Das alles entsteht in unseren Köpfen, mit ein wenig Einbildungskraft."
    "Einbildungskraft? Von wegen!"
    Ob Sachen von Manufactum vielleicht schöner wären, als das, was diesem Theater zu Gebote steht, fragt der Chor an einer Stelle ironisch. Und ein paar banale Plastikstapelstühle fahren dazu stolz mit dem Thespiskarren über die Bühne. Auch schwebt ein gleißend leuchtender Dodokaeder aus dem Schnürboden herab und entlässt Katrin Angerer ins Diesseits der hässlichen Dinge. Ist dieser Inbegriff geometrischer Ordnung ein Gotteszeichen? Im letzten Dekor des früh verstorbenen Bert Neumann könnte man dies vermuten, denn hier ist nicht nur der Boden, der sanft und fließend in die Horizontale der Bühne übergeht, lava-schwarz, auch die Seitenwände sind mit schwarzem Lametta verhängt. Sie funkeln geheimnisvoll im bunten Licht einiger Effektleuchten.
    Wann immer sich einer der vier Akteure von "Service/NoService" in Metaphysik vorwagt, wird er mit Hinweis auf die eben auch noble Physik der Dinge zurückgepfiffen. Wann immer René Pollesch auf die Authentizität alles Physischen pocht, ist er selbst von ihrer potenziellen Belanglosigkeit angewidert. Und wie immer schwankt sein Text zwischen philosophischer Spekulation und banalem Alltagssprech. Einen besseren Ort als diese Volksbühne, der die letzte Stunde bald schon schlagen wird, gibt es derzeit nicht, um sich zu fragen, was Theater alles kann und was nicht.