Donnerstag, 25. April 2024

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Polnische Familiensaga der Nachkriegszeit

In dieser Familiensaga beschreibt Johanna Bator das bäuerlich-ländliche Leben der Nachkriegszeit in Polen. Die Erzählung dreht sich weniger um die große Politik oder den Kommunismus als viel mehr um das Private und Verborgene - und das gelingt besonders dank Bators genauen Blick und ihrer Gabe für detailierte Beschreibungen.

Von Brigitte van Kann | 18.05.2012
    "Auf dem Hügel aus Sand, der oben abgeflacht ist wie ein geköpftes Ei, sind schon ein paar Blocks fertiggestellt und warten auf ihre Bewohner. Manche sind wie Stefan in den ehemals deutschen Häusern aufgewachsen, wo sich ihre Eltern, aus den verlorenen in die wiedergewonnenen Gebiete verschlagen, niedergelassen hatten, andere sind in masurischen Dörfern ausgerodet und wie von einem besoffenen Karren gerollte Kartoffeln in die Walbrzycher Gruben gestopft worden. Die einen hatte Ostrobramer Madonnenbilder im Koffer, die anderen Tschenstochauer, beide hatten zu Hause auf den kalkgeweißten Wänden vergilbte Rechtecke hinterlassen. Die einen wie die anderen hatten sich dort, woher sie kamen, mit wenig Platz beschränken müssen, das verband sie und verlieh ihnen eine kollektive Wachsamkeit. ... Sie sprachen fast dieselbe raue Sprache, die knasterte, wie ins Feuer geworfene Zapfen, doch oft verstand der eine Nachbar den anderen nicht. Voller Hoffnung kamen sie mit ihren Pappkoffern und in Vorfreude auf mehr Platz, der ihnen zustand, und sie wunderten sich, wie es möglich war, dass sie ihn vorher nicht gehabt hatten. Sie stiegen den ganzen Hügel hinauf, stapften hinter Stefan und Jadwiga her, ihnen auf den Fersen, drängten sich auf die Baustelle und trieben zur Eile an. Zweihundert Prozent der Norm! Zweihundertfünfzig!"

    Die Wege des jungen Paares Stefan und Jadwiga, Jadzia genannt, kreuzen sich mit denen anderer Entwurzelter auf dem Sandberg, einer sozialistischen Plattenbausiedlung für 30 000 Menschen im westpolnischen Walbrzych, das bis Kriegsende deutsch war und Waldenburg hieß.

    Joanna Bators "Sandberg" handelt vom Verlust der Heimat und der Schwierigkeit, wieder Fuß zu fassen. Flucht und Vertreibung, das wird sehr schnell klar, sind in Europa keineswegs exklusiv deutsche Schicksale. Der Roman ist eine polnische Familiensaga über drei Generationen hinweg und erzählt die Kriegs- und Nachkriegsgeschichte zweier Sippen, die durch Heirat miteinander verwandt werden.

    Stefans Familie stammt aus Ostpolen, aus der Gegend von Grodno. Die Sowjets haben sie bei Kriegsende vertrieben. Ratlos vor lauter Heimweh und Verlassenheit griff seine Mutter Halina an ihrem ersten Abend in dem früher von Deutschen bewohnten Haus zur Zigarettenschachtel ihres Mannes – sie wird eine dermaßen starke Raucherin, dass ihre Enkeltochter sie "Oma Kolomotive" nennt. Ihr Mann Wladek, der "drüben", wie sie die alte Heimat nennen, Schmied war, muss sich als Kellner verdingen. Der einst kräftige Kerl schrumpft immer mehr, bis er schließlich an der Sehnsucht und am Alkohol zu Grunde geht.

    Nicht nur, dass die Väter in diesem Roman dem Krieg und dem Suff zum Opfer fallen – einige sind nicht einmal die wirklichen Väter ihrer Kinder. Nie wird Stefan von seiner Mutter Halina erfahren, dass nicht der Schmied sein Vater ist, sondern ein fahrender russischer Zirkusartist.

    Jadzia kommt aus einem Dorf in Zentralpolen. Sie glaubt, ihren Vater noch vor ihrer Geburt verloren zu haben. Ihre Mutter Zofia hat ihr erzählt, er sei ein polnischer Kriegsheld gewesen. In Wirklichkeit ist Jadzia die Tochter eines jüdischen Flüchtlings aus dem Warschauer Ghetto, den ihre Mutter bei sich aufnahm und der ihre große Liebe wurde.

    Während die Großmütter sich in ihren Geheimnissen einrichten, will ihren um ihre wahre Identität betrogenen Kindern auf dem "Sandberg" kein Glück gelingen. Stefan, der hoffnungsfrohe und zukunftsgläubige Bergmann, wird bei Auszeichnungen und Beförderungen übergangen. Seine Kumpel ziehen an ihm vorbei – während er sich in einer Kuhle auf dem Sofa, in seinem Nest, einrichtet und trinkt. Seit der Geburt der Tochter ist seine Frau Jadzia psychisch labil, depressive Gleichgültigkeit wechselt mit exorbitanten Putzattacken. Dazwischen verliert sie sich in Traumwelten aus Kitsch und Konsum.

    Über diesen aussichtslosen Fluchten – in die Phantasie und den Alkohol – geht das Leben dahin. Mit dem Ende des Sozialismus bekommt auch sein Walbrzycher Flaggschiff, der "Sandberg", Schlagseite. Unter dem Sand brechen alte Steinkohle-Stollen ein, der Plattenbau bekommt Risse und neigt sich bedrohlich zur Seite. Wer es sich leisten kann, zieht fort.

    Erst Dominika, die Tochter von Stefan und Jadzia, flieht nicht nur in Gedanken – sie verlässt den schäbigen "Sandberg" und seinen verlogenen kleinkarierten Spießerhorizont und geht ins Ausland, eine freie Weltbürgerin, die überall, vor allem bei sich selbst zu Hause ist. Mit Dominika betritt eine junge Polin das 21. Jahrhundert, die, so scheint es, die ganze Erdenschwere und das allseits beschränkte Leben ihrer Vorfahren hinter sich gelassen hat.

    Joanna Bator nimmt die Kriegs- und Nachkriegsgeschichte Polens aus der Perspektive ihrer überwiegend weiblichen Protagonisten in den Blick. Die große Politik, das Kriegsrecht, der Zusammenbruch des Kommunismus werden in diesem privaten Kosmos als Randerscheinungen wahrgenommen – und das auch nur, wenn sie das praktische Alltagsleben berühren. Besser und beiläufiger als Joanna Bator in "Sandberg" kann man den Wandel der Zeiten nicht beschreiben.

    Die Autorin erzählt das Leben ihrer drei Generationen nicht chronologisch – viele Zusammenhänge werden nicht gleich offenbar, sondern erschließen sich peu à peu. Doch von Anfang an legt sie feine Fährten und fädelt Motive auf, die das ganze Romangewebe durchziehen.

    Joanna Bator schreibt rasant, mit Lakonie, Witz und Lebensklugheit. Sich über ihre einfachen Helden und Heldinnen bäuerlich-ländlicher Herkunft zu erheben, liegt ihr fern. Die Autorin kennt das Leben dieser Menschen bis ins kleinste Detail – die Sonntagsgerichte, die Kleiderstoffe, die Wohnungseinrichtungen, die begehrten Westmarken und -güter, die Scheinheiligkeit, den Katholizismus, der bloßes Dekor geworden ist. Es ist faszinierend, wie genau sie Realien und Mentalitäten einer Zeit schildert, die sie selbst gar nicht oder nur als Kind erlebt hat – Joanna Bator ist 1968 geboren, als Hochschuldozentin arbeitet sie zudem überwiegend in Japan, fern vom heimatlichen Polen. Das Frische, Zupackende dieses Werks mit der unverblümten, saftigen, bisweilen derben Sprache seiner Protagonisten hat die Übersetzerin Esther Kinsky in ein fulminantes Deutsch übersetzt.

    Wer etwas über unser Nachbarland Polen erfahren will, wer einen subtil erzählten, dabei ausgesprochen handfesten Roman lesen will, dem sei Joanna Bators "Sandberg" dringend ans Herz gelegt.


    Literaturhinweis:

    Joanna Bator: Sandberg. Aus dem Polnischen und mit einem Nachwort von Esther Kinsky. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 492 Seiten.