Die Landesmusik-Akademie Niedersachen in Wolfenbüttel wirkt an diesem trüben Novembertag wie verwaist. Die Flure des großzügigen, lichtdurchfluteten Gebäudes sind leer. Die ganze Akadamie ist eine Woche lang für gerade einmal fünf junge Bands reserviert, und die sind so oft es geht, in den Proberäumen, um an ihren Stücken zu feilen, teilweise sogar bis späte in Nacht hinein.
Fünf Bands, mehr lässt die Jury nicht zu für das Popcamp, den Meisterkurs in Populärmusik, den der Deutsche Musikrat seit 2005 anbietet.
Hier in Wolfenbüttel absolvieren die Musiker die zweite Arbeitsphase, die auch als Vorbereitung auf das Abschlusskonzert des jeweiligen Jahrgangs dient – das fand in diesem Jahr am 17. November im Pfefferberg Haus 13 in Berlin statt.
Der Jahrgang 2017 ist erstaunlich vielfältig, wie ein Rundgang durch die Proberäume beweist.
Ingold
"Wir sind Ingold und kommen aus Mannheim, uns gibt es seit 2014 und in dieser Besetzung seit diesem Jahr. Was wir machen? Wir nennen es Trip-Pop, vom Triphop angehauchte Electronica. – Für diese Phase haben wir uns vorgenommen, wir machen erst das Producing, setzen uns also erst konkret an einen Song, arbeiten ein paar Ideen aus und dann performen wir. – So wie grade? – Genau, so wie grade. – Und wie fühlt sich das an? – Wir haben gerade erst angefangen, bisher läufts glaube ich ganz gut. Bisher bin ich eigentlich ganz guter Dinge."
Das Trio um Namensgeberin Akina Ingold überzeugte beim Popcamp-Abschluss in Berlin mit filigranem Schwebepop, der die Gesangsstimme wie ein elegant geschnittenes Abendkleid umhüllt.
"Ingold" - "The sea" und "Maze" (07:23)
Soweit der Auftritt von Ingold beim Popcamp-Abschluss-Konzert am 17. November dieses Jahres in Berlin.
Soeckers
Den wohl größtmöglichen Kontrast zum Mannheimer Trio mit der selbst sehr passend so benannten Stilrichtung Trip-Pop bilden im 2017er-Jahrgang des Popcamps wohl die Soeckers aus Ahaus im Münsterland. Wo regelmäßig Brennstäbe in Castor-Transportern durchrollen, muss man der Realität offenbar mit ebenso launigem wie laustarkem Garagenrock begegnen. In diesem Fall mit deutschen Texten.
"Soeckers" - "Wie wär's" und "Sonne, Mond und Bett" (06:30)
Dass sie mit viel Druck spielen, haben die Soekkers auch schon in der zweiten Arbeitsphase des Popcamps in Wolfenbüttel bewiesen. Nach ein paar Minuten im Proberaum klingeln einem die Ohren. Die Soeckers hauen drauf, ja, das schon. Aber das Gespür für Dynamik, für den Wechsel von Verzerrung und klarem Klang haben sie ohne jeden Zweifel.
"Habt Ihr Euch zwischen diesen beiden Phasen ein Ziel gesetzt oder Erwartungen, die sich erfüllt haben? – Wir haben vor allen Dingen durchs Popcamp eine noch klarere Linie gefunden zusammen, das haben wir uns auch ein bisschen davon erhofft. Und auf der anderen Seite, dass wir mit richtigen Profis zusammenarbeiten und von denen eine Menge dazulernen, was bisher auch gut geklappt hat und in der zweiten Arbeitsphase hoffen wir, dass noch andere Eindrücke von anderen Dozenten dazukommen. Wir möchten gerne mit Jens Eckhoff zusammenarbeiten, dem Gitarristen von Wir sind Helden. - Wir haben den auch schon kennengelernt bei den Audits und freuen uns drauf. Pop mit deutschen Texten, auch gute Arrangements, coole Sounds. Damit können wir und schon identifizieren mit der Band."
Mind Trap
Besagter Jens Eckhoff dreht derweil die erste Runde dieser Arbeitswoche. Von Proberaum zu Proberaum.
"Man will den Bands ja auch nicht auf den Sack gehen. Deswegen frage ich immer: Macht Ihr was, wollt Ihr gerade irgendwie alleine arbeiten? Das muss man nach Möglichkeit rausspüren, solange man nicht verabredet ist. Ich hab die alle kennengelernt bei dem Live-Audit."
Jens Eckhoff hat sich gerade in den Proberaum der Band Mind Trap geschlichen, wo allerdings schon zwei andere Dozenten sitzen: Sven Ludwig, der die Popcamp-Bands bei Arrangement- und Songwriting-Fragen berät und Gesangs-Trainerin Stephanie Borm, die schon bei der Talent-Fernseh-Show Voice of Germany als Coach arbeitete.
Diesen Song mit deutschem Text hat die dreiköpfige Indierockband gerade erst geschrieben. Sänger und Gitarrist Augustin Zimmer hat keine Scheu, sich an hohen und höchsten Falsetttönen durch diese Junge trifft Mädchen-Geschichte zu singen. Die Dozenten sind beeindruckt, entdecken aber noch Verbesserungsmöglichkeiten.
"Ich find den Style geil. Was mir hier vielleicht noch fehlt, ist ne Hook. – Ja, mir geht’s ähnlich. Ich find den Verse ziemlich super, da bin ich sofort drin gewesen. Ich weiß aber nicht, was genau der Chorus sein soll. Der Teil, wo Du ins Falsett gehst? Das ist für mich eher 'ne Bridge. – Für mich auch! – Dann gibt es so ein Middle Aid, da bist Du auch in der Falsettstimme. Da habe ich gedacht will man da noch kraftvoller klingen."
Mind Trap haben während des Popcamps eine entscheidende Wandlung beschlossen und vollzogen.
"Wir haben bisher englischsprachigen Indierock gemacht, aber im letzten Jahr haben wir viel deutsche Sachen geschrieben und sind ab nächstem Jahr unter dem Namen Das Moped unterwegs und werden auch auf dem Berlin-Konzert viele deutschen Stücke ausprobieren. Die Idee hat sich hier intensiviert, dass wir uns umbenennen wollen. Da sind wir hier auf viel positives Feedback gestoßen, und deswegen sind wir jetzt auch sehr überzeugt davon, diesen Schritt zu gehen, aufgrund der Hilfe vom Popcamp."
Beim Auftritt in Berlin klang das dann so.
"Mind Trap" - "Gerade wirklich" und "Eng" (07:02)
Vom englischsprachigen Indierock zum falsettbeflügelten Deutsch-Funk-Rock. Für solche Wandlungsprozesse wie ihn die Band "Noch-Mindtrap-demnächst-Moped" zwischen den beiden Arbeitsphasen erlebt hat, soll das Popcamp den entsprechenden Rahmen bieten. Und die Auswahl der Dozenten ist dabei ganz entscheidend.
"Ich versuche halt in meiner Funktion als künstlerischer Leiter hier immer Leute zu finden, die zu allen fünf Bands etwas sagen können und die ein sehr, sehr breites Spektrum haben und sich für sehr viele Dinge interessieren. Weil das eben total wichtig ist. Wir haben Bands von Fusion-Jazzpop bis hin zu Indie-Poprock und Alternative mit dabei. Da will ich natürlich Leute dabei haben, die sich einlassen können auf all die Stilrichtungen und die Bedürfnisse, die die Bands dann haben."
Es gibt allerdings auch Genres, die im Teilnehmerfeld des Popcamps gar nicht oder selten vertreten sind.
"Was wir bisher noch nicht hatten, sind die sehr elektronischen Bereiche, EDM oder stark Richtung HipHop. Was wir auch noch nicht hatten, ist komplett in den Bereich Metal hinein."
IndianaGeflüster
Insofern ist die Band, die in der zweiten Arbeitsphase diesmal den Jackpot gewonnen hat, nämlich den turnhallenartigen, größten Proberaum der Landesmusik-Akademie, stilistisch eine Ausnahme:
"Ja, wir sind Indianageflüster und machen Rap-Lyrics auf instrumentale Beats und bestehen aus einer Gitarre, einem Schlagzeug, Bass, Cello und mir, dem Rapper…"
Auf Keyboard – oder Synthesizer verzichtet das Quintett aus dem rheinland-pfälzischen Emmelshausen. Schließlich haben Sie ein sehr markantes, im Hip Hop nicht eben übliches Instrument in der Besetzung.
"Ich ersetze eigentlich gar nichts, naja, Synthesizer-Ersatz vielleicht? Ich bringe einfach eine schöne Farbe in diese Band rein, mit meinem Celloklang…. Jedes Mal, wenn wir einen Song schreiben und sagen, wir machen mal was Fröhlicheres, und dann setzt das Cello ein, dann ist es immer so: Jetzt sterben wir alle."
Ein Gefühl oder eine Befürchtung, die sich beim Abschluss-Konzert in Berlin im November glücklicherweise nicht auf das Publikum übertragen hat.
"IndianaGeflüster" - "Hi Bitch" und "Relikt" (07:41)
In den Arbeitsphasen des Popcamps soll jeder Aspekt einer Profi-Karriere im Musikgeschäft abgedeckt werden. Dazu gehört neben der musikalischen Unterstützung auch Video- und Lichttechnik, Choreographie und – was für viele Nachwuchsmusiker erst einmal trocken bis abschreckend klingt – Urheber- und Vertragsrecht.
Seit den Anfangstagen des Popcamps kümmern sich die beiden Fachanwälte Michael von Rothkirch und Oliver Heinz um dieses Thema. Die anderen Dozenten nennen sie scherzhaft "unsere Rechts-Künstler". Mit ihrer ruhigen und zugleich lockeren Art nehmen die beiden den Teilnehmern schnell die Angst vor den juristischen Fragen des Musikerdaseins. Sie sind hier quasi die Rockstars des Rechts, zumal Oliver Heinz früher sogar selber Profi-Musiker war.
"Was definitiv ein großer Fehler ist, das haben wir auch heute in der ersten Session wieder mehrfach gehört, dass Verträge nicht richtig gelesen werden. Viele wundern sich dann halt, dass das, was sie unterschrieben haben, auch gilt. Ein ganz wesentlicher Punkt sind sicherlich Laufzeiten, mal unabhängig von der monetären Fragestellung. Das ist ein wesentlicher Punkt gerade für eine junge Band, wie lange bin ich denn jetzt im Rahmen dieses Vertrags tatsächlich gebunden? Und da erleben wir immer wieder Überraschungen, wenn es einfach an das saubere Lesen des Vertragstextes geht. Wenn eine Band glaubt, sie sei nach einem Jahr wieder frei, sie aber gleichwohl für fünf Jahren gebunden ist. Und das ist natürlich ein echter ernstzunehmender Stolperstein in einer solchen Karriere, weil das ein Fortkommen tatsächlich behindern kann", sagt Fachanwalt Oliver Heinz.
Sein Kanzlei-Partner Michael von Rothkirch ergänzt: "Es gab schon Situationen, wo wir einer Band helfen konnten, sich aus einem Vertrag herauszulösen, einem internationalen Vertrag, der nach deutschen Maßstäben auch gar nicht wasserdicht war. Den tatsächlich dann auch vor Gericht aufzulösen, wirksam zu kündigen, so dass die frei waren, neue Verträge zu schließen."
Pulsar Tales
Kommen wir zur fünften Band des Popcamp-Jahrgangs 2017, die zumindest formal die am besten ausgebildete sein dürfte. Alle Musiker von Pulsar Tales aus Köln studieren an der dortigen Musikhochschule und könnten, falls es mit der Musikerkarriere nicht klappt, problemlos ins Lehramt wechseln. Das ist beruhigend, wäre allerdings sehr schade um das enorme musikalische Potential. Das den Musikern allerdings auch manchmal im Weg steht, wie sie während der Arbeitsphasen des Popcamps gemerkt haben.
"Jeder von uns ist eine Ideen-Fontäne, und dann kann es auch mal passieren, dass die Songs sieben bis acht Minuten lang werden. Und da hat sich auf jeden Fall schon vieles getan in den letzten Monaten."
Auch auf der Bühne in Berlin konnten Pulsar Tales mit ihrem feingliedrigen, in sich verwobenem Jazzpop überzeugen.
"Pulsar Tales" - "Spit" (05:53)
Pulsar Tales beim Popcamp-Abschluss-Konzert des Jahrgangs 2017, der eine spannende Stilbandbreite abdeckt. Spannend bleibt wie immer auch die Frage, wie viele aus dieser Klasse es wirklich im Musikgeschäft schaffen werden. Über alle Jahrgänge hinweg waren es bisher vielleicht zehn bis zwölf Prozent. Das ist für den künstlerischen Leiter Henning Rümenapp keine geringe Zahl.
"Das ist eigentlich ein Prozentsatz, der mich recht stolz macht. Ich weiß nicht, wie das ist bei den großen Tonträgerunternehmen. Die werden wahrscheinlich eine ganz andere Quote haben, wie viele "gebreakt" werden oder einen Erfolg haben von den Sachen, die sie signen. Da sind wir sehr, sehr stolz drauf, begleitet zu haben wie Jupiter Jones, Alin Coen, Max Prosa, OK Kid, Heißkalt, The Intersphere, Seminology und, und, und. Und das sind sehr viele Bands, die auch einfach heute noch nach vielen Jahren sich etabliert haben in der deutschen Musikszene und zu großen Teilen auch davon ihren Lebensunterhalt bestreiten können. Das ist ja genau das Ziel, das wir haben."
Weitere Informationen: www.popcamp.de