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Popliteratur

Seitdem die Bücher von Benjamin von Stuckrad-Barre, Alexa Hennig von Lange, Benjamin Lebert und anderen Jungautoren an der Spitze der Bestsellerlisten auftauchten, ist der Begriff "Popliteratur" in aller Munde. Literarischer Pop gilt als zeitgeistkompatibel, unterhaltsam und natürlich extrem populär. Dieser Popularität ist es nun zu verdanken, dass ein Buch über Popliteratur erschienen ist, das sich nicht ausschließlich mit dem gegenwärtigen Phänomen beschäftigt, sondern einen historischen Überblick gibt über literarische Traditionen und ästhetische Konzepte, die mit dem Begriff verbunden sind. Der Autor Thomas Ernst ist Jahrgang 1974, also etwa im gleichen Alter wie die medienverwöhnten Durchstarter des derzeitigen Booms. Er versteht sich jedoch nicht als Sprecher einer Bewegung, deren höchstes Ziel es ist, in der Harald-Schmidt-Show aufzutreten, sondern verweist vielmehr auf die ursprünglichen subkulturellen Inhalte von Popliteratur:

Ralph Gerstenberg | 24.05.2001
    Um 1968 herum, vor allem durch den aus Amerika kommenden Leslie A. Fiedler sowie dann hier in Deutschland durch Rolf-Dieter Brinkmann wurde zum ersten Mal der Begriff der Popliteratur eingeführt. Und da war es eigentlich so der Versuch, so etwas wie eine Undergroundliteratur, so etwas wie eine Literatur, die sich positiv gegenüber Drogen, gegenüber Sexualität verhält, die sich der populären Kultur, die sich Alltagsphänomen, die sich auch Außenseiterfiguren gegenüber öffnet, eine solche Literatur zu entwickeln und stark zu machen gegen den bestehenden Literaturbetrieb.

    Ausgehend von Leslie A. Fiedler und Rolf-Dieter Brinkmann sieht Thomas Ernst die Dadaisten und die Beat-Poeten als die entscheidenden Vorläufer der ersten Popliteraten. Er zeigt, wie im 20. Jahrhundert jeweils nach dem ersten und dem zweiten Weltkrieg zu einem Angriff auf die hehren Kunst- und Bildungsideale des Bürgertums geblasen und eine Underground-Ästhetik entwickelt wurde, die die Grenze zwischen Hoch- und Populärkultur ein für allemal auflöste. Die Anregungen der Rockmusik und der Pop-Art, der Happenings und postmoderner Diskurse wurden aufgegriffen von einer Literatur, die es sich zum Programm gemacht hatte, formal neue Wege zu gehen und Minderheiten eine Stimme zu geben. Bald sprach hierzulande jedoch niemand mehr von Popliteratur. Der Begriff hatte ausgedient, weil eine Bewegung in Gang gekommen war, die ein solches Etikett nicht mehr benötigte:

    Dieses Label der Popliteratur trat dann zurück gegenüber Phänomenen, die man popliterarische Phänomene nennen könnte. Beispielsweise gab's dann tatsächlich ganz viele neue Verlage, neue Vertriebsnetze von Literatur, so was wie den März Verlag, gegründet von Jörg Schröder, oder auch Abspaltungen von bereits existierenden größeren Verlagen, um einfach einer anderen Literatur, einer offeneren Literatur, die mit anderen Medien spielt, die mit Musik spielt, die mit Comics zusammengeht usw., die einfach andere Schreibweisen ausprobiert, um der überhaupt eine Chance geben zu können. Andere Literaturvertriebsnetze, z.B. Zweitausendeins entstammt dieser Zeit. Es gab ganz viele Undergroundmagazine, es gab die Idee, jeder kann schreiben, es gab Schreibgruppen, die sich ausprobierten. Das sind alles Phänomene, die durchaus dem entsprechen, was Brinkmanns Konzept von Popliteratur war, eben so was wie eine Demokratisierung von Literatur auch durchführen zu können.

    Erst seit Mitte der neunziger Jahre wurde Pop wieder in einen Zusammenhang mit Literatur gebracht, um junge Autoren, die schnell lesbare und ebenso vergängliche Bücher in einer Lifestylesprache verfassten, zu vermarkten. In seinem Buch kritisiert Thomas Ernst diesen Trend, weil dadurch die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs ins Gegenteil verkehrt wird. Wenn Popliteratur nicht mehr subversiv sei, sondern nur noch unterhaltsam, wenn sie nicht mehr gesellschaftskritisch sei, sondern gar neokonservativ, wenn sie nicht mehr am ästhetischen Experiment interessiert sei, sondern nur noch am kommerziellen Erfolg - dann habe sie aufgehört zu existieren.

    Wenn man betrachtet, wie Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre Popliteratur verstanden wurde. Wie diese ursprünglichen Konzepte waren. Da ging es in der Tat darum, antikommerziell zu sein, nicht im herrschenden Literaturbetrieb mitzumachen, Außenseitergruppen zu stärken gegen das, was Mainstream ist, neue Lebensformen herauszuarbeiten und zu ermöglichen und zu beschreiben. Das waren sozusagen Ziele. (...) Wenn man das (...) dann vergleicht mit der heutigen Situation, dann kann ich nicht erkennen, dass das, was Leute wie Stuckrad-Barre oder Christian Kracht betreiben, irgend etwas Neues brächte im Gegensatz zu dem was gesellschaftlich hegemonial ist. Wenn man sich beispielsweise "Generation Golf", das Buch von Florian Illies anschaut, der auch sehr deutlich mit den neuen Popliteraten, mit dieser herrschenden Popliteratur, dieser neuen Fun-Popliteratur, sympathisiert. Wenn man das kontrastiert mit dem, was herrschende Politik ist (...), da sieht man nicht unbedingt, dass da sich irgendjemand versucht abzusetzen.

    Das Buch "Popliteratur" ist in der Reihe "Rotbuch 3000" erschienen, deren Anspruch es ist, knapp und anschaulich mit vielen Fotos eine junge Leserschaft in eine aktuelle Thematik einzuführen und dazu Stellung zu beziehen. Als Einblick in die Entwicklungsgeschichte der Pop- und Undergroundliteratur ist das Buch sehr gut geeignet. Thomas Ernst hat gründlich recherchiert. Er geht trotz der vorgegebenen Knappheit auf erstaunlich viele Phänomene der literarischen Subkultur ein und stellt sie in einen Zusammenhang. Migrantenliteratur, die Social-Beat- und Slam-Poetry-Bewegung, die Generationenbilder der neunziger Jahre, konkrete Poesie - all das kommt vor in dem dünnen Bändchen. Gut ausgewählte Fotos von Autoren, Veranstaltungen und Publikationen ergänzen den Kommentar. So gelingt es Thomas Ernst, ausgehend von einem Literaturbegriff eine kleine Geschichte der Alternativliteratur zu schreiben - auch wenn es literaturhistorisch sicher nicht korrekt ist von "Popliteratur am Prenzlauer Berg und in der DDR" zu sprechen. Etwas problematisch hingegen erscheint es, wenn Thomas Ernst beharrlich das von Rolf Dieter Brinkmann 1968 entwickelte Konzept als einzig gültigen Maßstab zur Bewertung heutiger Popliteratur heranzieht, zumal diese auch eine Reaktion auf die studentenbewegte Elterngeneration ist und eine bewusste Abgrenzung vollzieht. Obgleich man ihm angesichts der Wohlstandsverwahrlosung einiger Zeitgeistliteraten und der Qualität der von ihnen verfassten Bücher kaum widersprechen mag. Jede Generation bekommt eben die Popliteratur, die sie verdient.