Ein drohender Klimakollaps, Populismus, Fake News und rasender Fortschritt - die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts sind für viele Menschen eine Überforderung. Mit der Corona-Pandemie kommt nun noch eine weitere hinzu, die Maßnahmen erfordert, die in der Bundesrepublik einzigartig sind. Nicht nur durch die Beschneidung der Grundrechte, sondern auch durch eine Politik, die sich an einer Wissenschaft orientiert, deren Erkenntnisse immer wieder neu bewertet werden. Wenn dann "die Entscheidung revidiert wird und alle sehen können, dass die Entscheidung revidiert wird, dann ist die Entscheidung nicht ein Problemabbau, sondern eine weitere Form des Problemaufbaus", sagt Peter Strohschneider, ehemaliger Vorsitzender des Wissenschaftsrats und Ex-Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft. "Es ist eine Phase hoher Unsicherheit und akuter Gefährdung; zugleich eines Gefährdungstyps, der sich der unmittelbaren Wahrnehmung sozusagen entzieht."
Was die Aversion gegen die Wissenschaft bedeutet
Die Corona-Pandemie entpuppe sich als Projektionsfläche für nahezu alle Probleme unserer Zeit. Sie verdeutliche die konträren Wirklichkeiten vieler Menschen, etwa der Mehrheit der Menschen, die Corona als Gefahr empfinden und derer, die die Pandemie leugneten. Der Germanist Strohschneider sieht in der Skepsis den hier zuständigen Wissenschaften gegenüber, ein Symptom: "Ich würde auch sagen, dass die Wissenschaften und ihre Vertreter gut beraten sind zu bedenken, dass nicht alle Aversionen gegenüber den Wissenschaften sozusagen schon eine epistemische Kritik an ihnen ist, sondern dass die Wissenschaften in den modernen Gesellschaften ganz ungeheuer machtvolle Instanzen geworden sind."
Wie Populismus durch Sprache die Demokratie gefährdet
Die aktuelle Situation hebe auch das Phänomen der Gekränktheit noch einmal deutlich hervor. Er beobachte, so Strohschneider, eine zunehmende "Vulnerabilität, Verletzlichkeit. Wir fangen an, in einer Weise, die gesellschaftlich problematisch ist, uns gegenseitig nur noch im Modus unserer Verletzlichkeit wahrzunehmen." Damit werde Politik gemacht, so wie in den USA, wo der noch amtierende Präsident Donald Trump behauptet, man habe ihm die Wahl gestohlen. Referenzpunkt solcher Rede seien nicht mehr die Rechtsordnung, sondern die eigene Macht. "Da werden Wörter verwendet, die jeder kennt, aber der Verwendungszusammenhang und der Begründungszusammenhang, in dem sie funktionieren, ist umgestülpt von einer allgemein verbindlichen Ordnung des Rechts, der Demokratie zum Beispiel auf eine autokratische Ordnung der Macht eines einzelnen Subjekts." Solchen populistischen Tendenzen zum Trotz müsse man darauf insistieren, dass eine Gesellschaft nur funktionieren kann, wenn es einen gemeinsamen Verständigungsrahmen gibt, "also zum Beispiel den, dass Macht durch Recht legitimiert wird und nicht Recht durch Macht."
Generalisierung der eigenen Moral
Gekränktheit sei ein Instrument von rechts und von links, wenn auch in unterschiedlichen Ausprägungen. Von links werde mit einer Moralsteigerung reagiert - Zu sehen derzeit vor allem an den Klimabewegungen. Ohne Moral wäre Veränderung aber auch kaum vorstellbar, meint Strohschneider. "Ich glaube gar nicht, dass man sich menschliche Gesellschaften vorstellen kann, die ohne Moral funktionieren. Der Punkt ist nur die Frage der Generalisierung der eigenen Moral. Moderne Gesellschaften sind eben nicht mehr durch eine einheitliche Moral integrierbar. Das unterscheidet sie auch von vormodernen Gesellschaften."