Mittwoch, 24. April 2024

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Porträt-CD Zeynep Gedizlioğlu
Mit Spontanität und Intellekt

Das Schaffen der Komponistin Zeynep Gedizlioğlu klingt vielgestaltig. Im Fokus steht die Wahrnehmung der Welt und die Suche nach dem künstlerisch Eigenen. Ihre Porträt-CD in der Edition Zeitgenössische Musik macht neugierig auf mehr!

Von Yvonne Petitpierre | 10.05.2020
    Porträt einer dunkelhaarigen Frau mit ärmellosen T-Shirt und orangem Schal vor weißem Hintergrund.
    Lebt und arbeitet in Berlin: Komponistin Zeynep Gedizlioğlu (Dan Safier)
    Musik: Gedizlioğlu - "Sights of Now" - Klavierduo Sugawara/Hemmi; Quatuor Diotima (Ausschnitt)
    Das Komponieren steht für die aus der Westtürkei stammende, in Berlin ansässige Zeynep Gedizlioğlu im Zentrum ihres Lebens. Es ist für sie höchst existenziell. Die Suche nach einer Wahrheit und das Gefühl einer inneren Notwendigkeit beflügeln ihre künstlerische Arbeit. Als Urheberin geht es ihr um Stellungnahme zu gesellschaftlichen Fragen, ebenso um ein abstraktes Reflektieren über musikalisches Material. Beides spiegelt sich in den fünf Werken aus den Jahren 2013 bis 2018, die unter dem Motto "Verbinden und Abwenden" kürzlich beim Label WERGO erschienen.
    Nähe und Distanz
    Die Platte beginnt mit einer Komposition für zwei Klaviere und Streichquartett namens "Sights of Now". Das Stück versucht Ansichten eines einzelnen Augenblicks in Form von Musik auszuleuchten. Gedizlioğlu formuliert verschiedenste Begriffe dafür: "Zersplittern, sammeln, aufbauen, durcheinander bringen, wieder aufbauen, wieder sammeln ... verknüpfen, unvereinbar lassen. Vergessen, wiederfinden, vergessen, etwas anderes finden … immer weiter."
    Die Konfrontation von Gegensätzlichem gehört zu einer Technik, die die Komponistin oft anwendet. In "Sights of Now" begegnen Nähe und Distanz, Aktion und Reaktion einzelner Klanggruppen in unterschiedlichen Konstellationen – wenn z.B. ätherische Streicherklänge und pulsierende Repetitionen kontrastierend aufeinander treffen. Hier ein Ausschnitt mit dem Klavierduo Yukiko Sugawara und Tomoko Hemmi und dem Quatuor Diotima.
    Musik: Gedizlioğlu - "Sights of Now" - Klavierduo Sugawara/Hemmi; Quatuor Diotima (Ausschnitt)
    Geboren wird Zeynep Gedizlioğlu 1977 in Izmir. Sie entscheidet sich früh, Komponistin zu werden und studiert zunächst in Istanbul bei Cengiz Tanç. Der Wunsch nach Veränderung und ihre ausgeprägte Neugier führen sie im Jahr 2000 nach Deutschland, wo sie zunächst in Saarbrücken bei Theo Brandmüller studiert. Fortsetzungen folgen in Strasbourg bei Ivan Fedele und in Karlsruhe bei Wolfgang Rihm. Lehrtätigkeiten als Dozentin für Meisterkurse in der Türkei und in Deutschland schließen sich an, ebenso die Teilnahme an internationalen Festivals mit Neuer Musik. 2012 wird ihr ein Komponisten-Förderpreis der Ernst von Siemens Musik-Stiftung zuteil.
    Spätestens als sie 2018 den "Heidelberger Künstlerinnenpreis" erhält, etabliert sich ihre Wahrnehmung im zeitgenössischen Musikbetrieb. Nicht zu Unrecht bescheinigt ihr die Heidelberger Jury-Begründung "Konzentration auf das Detail" und "Erweiterung und Bereicherung der zeitgenössischen Musiksprache".
    Gedizlioğlu‘s gegenwärtiger Arbeits- und Lebensmittelpunkt ist Berlin-Kreuzberg. Hier mischen sich verschiedenste Einflüsse und Erfahrungen. Sie grenzt sich nicht ab, sie fühlt sich hier vielmehr verwurzelt. Auch Klänge der Heimat hat sie immer im Ohr. Erst der Weggang nach Deutschland aber hat der Künstlerin einen differenzierteren Blick auf die Welt ihrer Herkunft und deren Reflektion in neuen Zusammenhängen ermöglicht.
    Spannungsverhältnisse
    Exemplarisch für das Finden einer eigenen kompositorischen Sprache steht auf der Porträt-CD das sehr unruhige Ensemblestück "Jetzt – mit meiner linken Hand". Der Titel will auf das Wechselspiel zwischen einer klanglicher Vorstellung und ihrer schriftlichen Fixierung verweisen. Ursprünglich sollte das Stück den Titel "Jetzt" tragen – während des Kompositionsprozesses hat sich die Idee in eine essentielle Frage verwandelt: "Jetzt aber wie? Es war wichtig diese Frage bei jedem Schritt, vor jeder Entscheidung immer wieder neu zu stellen, bis zum letzten Doppelstrich des Stückes frisch zu halten. Jetzt? ... Komm, jetzt, hier, schreibe! Jetzt! Wie? ... Mit einem Aktionsplan, dann aber dem Plan nicht folgen" – erinnert Gedizlioğlu.
    Tatsächlich wird dieses dramaturgische Konzept eindrucksvoll sinnlich hörbar. Die Musik lässt beim Hören Raum. Im Zentrum steht eine ornamentreiche, sich in mikrotonalen Abweichungen bewegende Bassbaritonstimme, die von ostinaten Trommeln und Liegeklängen der Streicher umgeben wird. Nach und nach bohren sich Schlagzeuge in den Raum, durchbrechen das Geschehen. Das sich dabei deutlich verlangsamt. - Leonard Garms leitet das Klangforum Wien.
    Musik: Gedizlioğlu - "Jetzt. Mit meiner linken Hand" - Klangforum Wien, Ltg. Leonard Garms (Ausschnitt)
    Erschienen ist diese eindrucksvolle und kompositorisch vielgestaltige Porträt-CD im Rahmen der Reihe "Edition Zeitgenössische Musik" des Deutschen Musikrats. Seit 1986 dokumentiert die Edition das Schaffen junger deutscher oder in Deutschland lebender Komponist*innen, um diese einem breiteren Publikum im In- und Ausland vorzustellen. Darüber hinaus verfolgt die stetig wachsende Edition die Absicht, die Vielfalt kompositorischer Sprachen im Komponieren der Gegenwart aufzuzeigen. Im Zentrum stehen Urheber, die über ein besonderes Maß an Kreativität, Experiment, Innovation und künstlerischem Wagnis verfügen. Unter den bisher 107 erschienenen Ausgaben ist Gedizlioğlu die zweiundzwanzigste komponierende Frau.
    Konflikt des Seins
    Eher selten widmet sich Zeynep Gedizlioğlu vokalen Kompositionen, so wie in "Kelimeler" für fünf Stimmen. Übersetzt bedeutet das: Worte. Die Komposition ist als Auftragswerk der Stuttgarter Vocalsolisten entstanden und beschäftigt sich mit Möglichkeiten und Unmöglichkeiten künstlerischen Sprechens. Für Gedizlioğlu ist das auch eine Form der Selbstbefragung: ‘Kelimeler‘ ist ein Werk, dessen Identität, Substanz und Gehalt sich durch den Konflikt mit sich selbst definiert. "Wie dieser Konflikt ausgeführt ist, hat mit einer Suche nach Verhältnissen, Verbindungen und Nicht-Verbindungen zu tun", mit der Suche auch nach dem Abwesenden. In vielerlei Ausdrucksarten suchen die Vokalstimmen unterschiedliche Formen von Sein und Befindlichkeit auf – das letzte Wort im Stück lautet "Jetzt"!
    Musik: Gedizlioğlu - "Kelimeler" - Neue Vocalsolisten Stuttgart (Ausschnitt)
    Als musikalische Urheberin stellt sich Zeynep Gedizlioğlu einen begrenzten Raum vor, in dem sie sich frei bewegen kann. Die Konfrontation mit der potentiellen Begrenzung liefert den entsprechenden Impuls, zu komponieren – gegebenenfalls auch als Reaktion auf eigene Grenzen.
    Die der CD den Titel gebende Arbeit "Verbinden und Abwenden" für Ensemble und Orchester will Gegensätze zwischen Individuum und Gemeinschaft assoziieren. Statt eines Solisten trifft ein Ensemble auf ein Orchester; wobei einzelne Musiker auch solistisch hervortreten. Die Begegnung des Gesamtapparats mit einzelnen Individuen daraus birgt für Gedizlioğlu auch eine soziale Dimension. Weil "die permanente Eindeutigkeit einer bestimmten Rollenverteilung, eines bestimmtes Verhältnisses zwischen den Klangkörpern" in Frage gestellt wird. Was auf musikalischer Ebene bleibt, sei ein, "aus den Fugen geratenes Kollektiv, das in einen Zustand hilfloser Ordnung zurückgeführt werden will", so Dirk Wiescholleks Werkkommentar im CD-Booklet.
    Musik: Gedizlioğlu - "Verbinden und Abwenden" - Ensemble Modern und HR-Sinfonierorchester (Ausschnitt)
    Im Konflikt mit sich selbst
    Spannungsverhältnisse reflektiert Zeynep Gedizlioğlu auf musikalischer Ebene immer aufs Neue – so auch in dem 2018 entstandenen Stück "Blick des Abwesenden" für Klavier und Orchester. Im Mittelpunkt steht die Frage, ob die komponierte Musik im Moment subjektiver Fixierung "Abwesendes" bereits mitdenken kann.
    Formal knüpft Gedizlioğlu hier mit gut zwanzig Minuten an ein klassisches Klavierkonzert an. Das solistische Tasteninstrument wird klangfarblich durch einen reichhaltigen Schlagzeugpart für zwei Spieler ergänzt. Zögerliche, oft einstimmige Melodiebewegungen, fragmentarische Akkorde oder Einzeltöne im Klavier werden von eher statischen Streicherklängen aus Tönen der Klavierstimme begleitet. "Im Bewusstsein eigener Einsamkeit" ist eine zentrale Klavier-Solopassage überschrieben. Diese wird von zwei Generalpausen eingerahmt, so "als wäre die Pianistin plötzlich ganz isoliert und ungeschützt konfrontiert mit ihrem eigenen Tun. Dennoch steigert sich das Klavier wenig später in einen Zustand virtuoser Raserei hinein" – so Dirk Wieschollek im Booklet.
    Eingespielt wurde das Werk mit Tamara Stefanovich, Klavier und dem HR-Sinfonieorchester unter der Leitung von Jonathan Stockhammer.
    Musik: Gedizlioğlu - "Blick des Abwesenden" - Tamara Stefanovich (Klavier), HR-Sinfonieorchester (Ausschnitt)
    "Blick des Abwesenden" für Klavier und Orchester. In unserer Sendung "Die neue Platte" wurden Ihnen heute Kompositionen von Zeynep Gedizlioğlu aus den Jahren 2013 bis 2018 vorgestellt. Die Ausführenden waren Yukiko Sugawara, Tomoko Hemmi und das Quatuor Diotioma, das Klangforum Wien, das Ensemble Modern, die Neuen Vokalsolisten Stuttgart, Tamara Stefanovich und das HR-Sinfonieorchester. Erschienen ist die CD beim Label WERGO im Rahmen der "Edition Zeitgenössische Musik" des Deutschen Musikrats.
    Zeynep Gedizlioğlu - Verbinden und Abwenden
    Klavierduo Sugawara/Hemmi; Quatuor Diotima; Klangforum Wien; Tamara Stefanovich, Klavier; Ensemble Modern; HR-Sinfonieorchester; Neue Neue Vokalsolisten Stuttgart
    CD WER 64282; LC 00846
    Deutscher Musikrat, Edition Zeitgenössische Musik
    EAN: 40102286642827