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Porträt der modernen Frau

Filmstar Juliette Binoche spielt die Titelrolle des "Fräulein Julie" in August Strindbergs Drama um eine verhängnisvolle Affäre, das seinerzeit Skandal machte. Das war 1889. Regisseur Frédéric Fisbach interessiert das kaum: Er zeigt eine radikal modernisierte Mademoiselle Julie. Doch das führt zu dramaturgischem Nebel.

Von Eberhard Spreng | 09.07.2011
    Party auf dem Gutshof: Im Hintergrund eines großen weißen Bühnenraums tanzen Leute von heute ausgelassen, laute Discomusik dringt nach vorne in Kristins moderne Designerküche, wo die müde Köchin mit Edelstahltöpfen beschäftigt ist. Ein paar Birkenstämme ragen durch den hinteren Teil des Dekors, eine Figur mit weiß getünchtem Bastumhang erinnert wie von Weitem an afrikanische Rituale.

    Andere Inszenierungen haben die Mittsommernachtsparty immer nur angedeutet, hier ist es eine hippe Veranstaltung mit 16 zusätzlichen Akteuren. Alles, was sich zwischen dem Diener Jean und der heiteren Julie abspielen wird, ist hier nur aus einer Sondersituation zu erklären, aus Alkohol, Ausgelassenheit, Partylaune. Dass hier zwei Menschen ihre sozialen Rollenkorsetts abstreifen, am Ende des 19. Jahrhunderts Klassenschranken überwinden und deshalb ein seelisches Chaos anrichten, interessiert Regisseur Frédéric Fisbach kaum. Und so spielt Juliette Binoche hier eine radikal modernisierte Mademoiselle Julie.

    "Man hat das Fräulein Julie oft als Aristokratin gespielt und das soziale Oben und Unten betont. Aber mich interessiert die Tatsache, dass sie halb Frau halb Mann ist. Das ist eine liberale Frau, die sich um den Status der Aristokratin nicht schert und das ist für uns entscheidend: Das Oben und Unten spielt heute eine kleinere Rolle, aber der Konflikt zwischen Männern und Frauen eine immer größere. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass Julie so etwas wie eine Waise ist, dass sie fast allein lebt, ohne Mutter und Vater. Die Frage ist, was macht man in so einer Situation?"

    Juliette Binoches Fräulein Julie ist zunächst eine moderne Partygöre in glitzerndem Kleid, die sich für ein kleines amouröses Abenteuer einen Mann, sagen wir, aus dem Catering-Service schnappen will, der aber dummerweise einer langweiligen Kollegin versprochen ist. Das mag im ersten Teil funktionieren, während wir in ein kaltes aufgeräumtes Dekor schauen, das durch verschiebbare Glaswände noch vom Publikum getrennt ist. Dann aber, wenn Jean dem erotischen Werben der Julie erlegen ist, und nachdem die beiden im Bett waren, rächt es sich, dass die Inszenierung das traditionelle Machtsystem des Stückes ignoriert: Bei Strindberg wird die Macht im Herr-Knecht-Verhältnis durch die Macht des Mannes über die Frau abgelöst. Jetzt hat Jean, der ehrgeizige, am Aufstieg Interessierte, die Herrschaft übernommen. Aber Nicolas Bouchauds übertriebenes Gebrüll deutet ein dramaturgisches Problem an: Strindbergs "naturalistische Tragödie" bräuchte für Jean den sofortigen Rausschmiss und für Julie den drohenden Verlust des guten Rufs als dramatische Triebfeder. Aber dieses moderne liberale Fräulein kann doch durch eine Affäre nicht glaubhaft entehrt werden.

    Die Binoche navigiert tapfer durch den dramaturgischen Nebel: Spielte sie erst kindliche Ausgelassenheit und falsche Ahnungslosigkeit, gibt sie jetzt die selbstironische Tragödin und schließlich die irre Fanatikerin, wenn sie versucht, erst Jean und dann auch Kristin zu einer Menage à Trois und einem Leben woanders zu überreden. Am überzeugendsten ist Juliette Binoche, wenn sie die Sehnsucht des Fräuleins nicht nach dem Mann als Sexualpartner, sondern als Freund spielt. Dann nämlich, wenn sie mit einem widerwilligen Jean auf der Vorderbühne sitzt, sich am Wein betrinkt und von ihrer verkorksten Kindheit erzählt.

    "Je suis venu au monde, contre le désir de ma mère. D'après ce que j'ai pu comprendre, elle a décidé de m'élever en enfant de la nature. Je devais même apprendre tous ce qu'apprennent les garçons pour bien lui montrer la parfaite égalité entre femmes et hommes. J'ai du étrier, harnacher, apprendre l'agriculture, aller à la chasse et même abattre du bétail. C'était horrible."

    Dass sich diese Frau am Ende mit Jean Rasiermesser umbringen soll, glaubt kein Mensch, auch nicht, wenn man bedenkt, dass die Binoche vor Jahren in Pirandellos "Die Nackten kleiden" auf der Bühne schon einmal eine Selbstmörderin spielte. Was ihr gelingt, ist ein Porträt all der modernen Frauen, deren sozialer Status ihnen erlaubt, dass sie sich holen können, was sie wollen, und die dann doch verzweifeln, weil nichts die Seelennot lindern kann, die fehlende Elternliebe hervorgerufen hat.