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Porträt der Vollstrecker

Der Historiker Johannes Hürter hat das blutige Handwerk der deutschen Oberbefehlshaber im Krieg gegen die Sowjetunion untersucht. "Hitlers Heerführer" zeichnet ein Porträt der militärischen Elite und ihres Anteils am nationalsozialistischen Vernichtungskrieg. Hannes Heer, der erste Leiter der Wehrmachtsausstellung, hält Hürters Analyse für brillant, seine Schlussfolgerungen aber übten falsche Rücksicht.

    Anders als der Titel suggeriert, handelt es sich nicht um eines der zahllosen Produkte, die mit dem Label "Hitler" Kohle machen wollen. Hürters Buch ist eine seriöse Studie zum Thema Verbrechen der Wehrmacht, anhand einer kleinen aber wichtigen Gruppe von Akteuren - der 25 Oberbefehlshaber an der Ostfront. Der Autor begreift und beschreibt die Generalsgruppe als Schaltstelle zwischen dem politischen Willen Hitlers und dem militärischen Vorgehen an der Front. Dank dieses bisher fehlenden Gliedes versteht man jetzt, warum der Krieg gegen die Sowjetunion, diese historisch einzigartige Form entgrenzter Gewalt und ungehemmten Verbrechens, so reibungslos funktionierte und dessen Akteure nach 1945 so hemmungslos gelogen haben.

    Die maßgeblichen Generäle des Ostheeres, so der Autor, waren über Hitlers geplanten Kreuzzug aufgrund von persönlichen Gesprächen und offiziellen Ansprachen ab Beginn des Jahres 1941 "sehr gut informiert." Spätestens nach der Vorlage der so genannten verbrecherischen Befehle gegen Kommissare, Kriegsgefangene und Zivilbevölkerung im Mai/Juni 1941 wussten sie dann genau, was von ihnen erwartet wurde: Krieg im rechtsfreien Raum.

    "Das gesamte deutsch beherrschte Ostgebiet sollte - ähnlich wie bereits das Generalgouvernement in Polen - zu einem einzigen Konzentrationslager werden, in dem die Landeseinwohner nichts als Unterdrückung und Versklavung, zu großen Teilen auch Ermordung und Hungertod erwarteten. Die Aufgabenteilung war klar. Die Wehrmacht sollte das Gelände für dieses riesige KZ erobern und befrieden, dann aber die polizeilichen Unterdrückungs- sowie die wirtschaftlichen Ausbeutungsmaßnahmen möglichst schnell und vollständig anderen Kräften überlassen. […] Ahnten die Generäle, auf welchen Krieg sie sich einließen? […] Sie alle mussten zum 'Kreuzzug' gegen den Bolschewismus nicht erst überredet werden, er entsprach ihren Ressentiments gegen die 'bolschewistische Gefahr', teilweise wohl auch gegen die 'Ostvölker', zu denen Slawen, Ostjuden und 'Asiaten' gezählt wurden. Daß dieser Feldzug auch ein Raub- und Mordzug werden würde, wussten sie - wenn nicht in all seinen schrecklichen Ausmaßen, so doch in der Tendenz."

    Entsprechend war das Verhalten der Heeresgruppenbefehlshaber Rundstedt, Leeb und Bock und der ihnen untergeordneten Armee- und Panzergruppenführer Kluge, Strauß, Weichs, Küchler, Busch, Stülpnagel, Reichenau, Guderian, Hoth und Hoepner, nachdem sie am 22. Juni 1941 mit mehr als drei Millionen Mann die Grenze zur Sowjetunion überschritten hatten. Johannes Hürter lässt keinen Zweifel daran, dass die vorgeschriebene Erschießung der Kommissare "an der ganzen Ostfront" durchgeführt wurde, dass die Vorgaben der Oberkommandos von Wehrmacht und Heer (OKW und OKH) und des Ernährungsministeriums zur Behandlung der sowjetischen Kriegsgefangenen, die bereits im ersten Halbjahr zum Tod von fast zwei Millionen Menschen führten, von der Mehrheit der Befehlshaber über Monate "hilflos oder gleichgültig, wegschauend oder achselzuckend" zur Kenntnis genommen wurden. In der Partisanenfrage fällt das Urteil des Autors noch härter aus: Aufgrund der "belgischen Gräuel" im Ersten Weltkrieg, durch die Kämpfe mit revolutionären Arbeitern oder irregulären bolschewistischen und polnischen Formationen in den Grenzkämpfen nach 1918, zuletzt wegen der Erfahrungen beim Überfall auf Polen 1939 hätten die Befehlshaber in dieser Frage "keine nationalsozialistische Belehrung benötigt". Sie trugen, so Hürter, die von Hitler und seinen Helfern in OKW und OKH formulierte "Strategie des abschreckenden Terrors im Hinterland" von vornherein mit. Die Grundlage dieser Politik: "rassistische Geringschätzung" der Slawen und Hass auf den so genannten Bolschewismus. Die zunächst durchaus kooperationswillige Bevölkerung - willkürlichen Erschießungen, Evakuierung und vor allem dem Hunger ausgeliefert - ging entweder auf Distanz oder lief zu den Partisanen über. Und die Verfolgung der Juden? Hürters Analyse ist eindeutig:

    "Im Ostfeldzug radikalisierten sich zwei Antisemitismen, die beide in der deutschen Gesellschaft sehr verbreitet, ja geradezu populär waren: zum einen der religiös und kulturell motivierte, nicht unbedingt mörderische Antisemitismus gegen die orthodoxen Juden Mittel- und Osteuropas, zum anderen der politisch und ideologisch motivierte, in diesem Feldzug hochgradig aggressive und unbedingt 'eliminatorische' Antisemitismus gegen den so genannten jüdischen Bolschewismus […]. Es ist davon auszugehen, daß die meisten Oberbefehlshaber vom Feindbild des 'jüdischen Bolschewismus' tief durchdrungen waren."

    Als Beleg nennt Hürter die bekannten Maßnahmen der Wehrmacht gegen die Juden - die Registrierung, Kennzeichnung, Gettoisierung, die mörderischen Aktionen von Feldgendarmerie oder Geheimer Feldpolizei und die logistische Unterstützung bei den Massenerschießungen der SS-Einsatzgruppen. "Ohne die tatkräftige Mithilfe der Wehrmacht", schlussfolgert der Autor, "hätte das große Judenmorden in der besetzten Sowjetunion nicht so schnell und wirkungsvoll durchgeführt werden können."

    Im Widerspruch dazu steht dann die Behauptung, die Befehlshaber hätten zwar die Ermordung aller sowjetischen Juden - auch der Frauen und Kinder - aus militärischen Gründen für wünschenswert beziehungsweise gerechtfertigt gehalten, als aber mit der Deportation der deutschen und europäischen Juden der Völkermord begonnen hätte, sei es vielen unheimlich geworden, habe sich "das vorher abgestumpfte Gewissen geregt." Wahnhafte Verschwörungstheorien hören bekanntlich nicht an den Grenzen auf, erst recht nicht, wenn der von den Befehlshabern hochverehrte Führer die Juden ständig für den Deutschland angeblich aufgezwungenen Weltkrieg verantwortlich macht.

    Fast noch verräterischer sind die Wendungen, die den Truppenführern bescheinigen, sie hätten den Judenmord nur hingenommen oder akzeptiert und ihnen das Versäumnis vorhalten, diesem Verbrechen in der Anfangsphase des Ostkrieges keine Grenzen gesetzt zu haben. Attentismus soll die vorherrschende Haltung gewesen sein. Diese ärgerliche Tendenz zum Weichzeichnen findet sich aber auch bei den Verbrechen, die - aus analogen rassistischen Motiven - an den "slawischen Untermenschen" erfolgten: Die Schinderei der Kriegsgefangenen, vermerkt der Autor, "musste jedem erfahrenen Berufsoffizier unangenehm sein" und der Gedanke, sie "vorsätzlich verhungern zu lassen" habe den Befehlshabern "vermutlich ferngelegen". Mit "schlechtem Gewissen" sei die Erschießung der Kommissare vollzogen worden, ein notwendiges, aber "höchst lästiges Mordwerk". Und harte Repressionen gegen die Zivilbevölkerung seien dieser konservativen militärischen Elite, so Hürter wörtlich, "kaum sympathisch gewesen".

    Alle diese Formulierungen sind nicht wohlüberlegte, aus wissenschaftlicher Vorsicht erfolgte Einschränkungen, sondern unbelegte Vermutungen, die auf ein ideologisches Defizit des Autors hinweisen. Dieser Verdacht bestätigt sich, wenn man die meist auf Nachkriegserinnerungen beruhende Darstellung der Frühphase des NS-Regimes betrachtet, die künftigen Oberbefehlshaber hätten die Einschränkung der Bürgerrechte, die Verfolgung der politischen Gegner, die Errichtung von Konzentrationslagern und den staatlichen Antisemitismus "teilweise mit zwiespältigen Gefühlen beobachtet" oder sogar "mit Unbehagen" registriert, die sich verschärfende Entrechtung der Juden sei sogar "den meisten unangenehm" gewesen. Bei aller Übereinstimmung zum Nationalsozialismus sei ihnen dessen Ideologie "fremd" und "verzichtbar" erschienen.

    Wie der brillante Teil eins von Hürters Gruppenbiographie zeigt, der die verhängnisvolle Sozialisation einer Militärkaste von der Kaiserzeit bis zu den revolutionären Wirren der Nachkriegszeit verfolgt, geht es ihm gar nicht um deren Ehrenrettung. Aber er wagt es nicht, seinen Protagonisten an der Ostfront eigenständige genozidale Motive und Handlungen zuzuschreiben. Daher behauptet er gegen besseres Wissen ein aus moralischen Restbeständen und soldatischem Ehrenkodex gespeistes diffuses Humanum. Solange diese mit Rücksicht auf tradierte Erklärungs- und Entschuldungsmuster geübte Selbstzensur andauert, bleibt die Geschichte des Vernichtungskrieges und seiner Akteure noch immer Stückwerk.

    Johannes Hürter: Hitlers Heerführer.
    Die deutschen Oberbefehlshaber im Krieg gegen die Sowjetunion 1941/42
    Oldenbourg Wissenschaftsverlag, München 2006
    719 Seiten, 49,80 Euro