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Porträt des Lebens in der Provinz

Wyoming ist Schauplatz der Geschichten, die Annie Proulx in ihrem Erzählband "Hinterland" vereint. Sie zeichnet das Bild eines Menschenschlags, der wie die Landschaft rau und schwer zugänglich ist. Ein Western wäre sicher ähnlich besetzt, doch Proulx bedient keine Klischees.

Von Eva Mesken | 28.02.2006
    Wyoming im Westen Amerikas. Bevölkerungsärmster Bundesstaat der USA. Ein paar vereinzelte Farmen, endlose Feldwege, über die Prärie weht rauer Wind. Das ist die Szenerie, in der Annie Proulx die Geschichten ihres Erzählbandes "Hinterland" angesiedelt hat. Sie erzählt darin von Cowboys, Wildhütern und Ranchern, von kleinen Pubs, Indianern und zugezogenen Fremden. Ein Western wäre sicher ganz ähnlich besetzt, doch Annie Proulx ist weit davon entfernt, Klischees zu bedienen. Ihre Protagonisten sind keine eindimensionalen Helden. Im Gegenteil. Annie Proulx zeichnet das Bild eines Menschenschlags, der – genau wie die Landschaft – rau und schwer zugänglich ist. Verschrobene Eigenheiten werden hier kultiviert, allzu große Abweichungen von der Norm aber strikt abgelehnt.

    "Sie war eine betagte Rancherswitwe, Mitte Siebzig, ein typisches Exemplar des republikanischen, konservativen, kunsthassenden, unverblümten, politisch rechtsaußen positionierten Menschenschlags und hatte ein Gesicht wie aus Granit. Sie hielt Rinder und ein paar Schafe und fuhr einen uralten schwarzen Jeep. Sie verabscheute Umweltschützer und Leute von anderswo."

    Wie schon in ihrem Roman "Mitten in Amerika", in dem sie ihren Protagonisten in der Provinz nach Grundstücken für Schweinemastfarmen suchen lässt, beschreibt Annie Proulx auch in "Hinterland" die Schwierigkeiten des Landlebens. In ihrem Roman ist es der Gestank der Schweine, der das Leben unerträglich macht. In "Hinterland" ist es der raue Wind, der eine Ehefrau dazu treibt, in die Stadt zu ziehen. Durch Großunternehmer und Immobilienspekulanten oder durch Söhne, die die Ranch des Vaters nicht übernehmen wollen, entwirft Annie Proulx auch das Bild einer untergehenden Welt. Dabei gelingt es ihr, zunächst glaubhaft die harte Schale der Provinzler aufzubauen, und die Leser anschließend zum weichen Kern vordringen zu lassen:

    "Sein Gefühl für die Ranch war die heftigste Empfindung, die ihn jemals bewegt hatte, eine erstickende Liebe, die in sein Herz eintätowiert war. Sie gehörte ihm. Es war, als hätte er aus einem Zauberbecher getrunken, bis zum Kelchesrand gefüllt mit dem Elixier des Besitzdenkens. Und obwohl Generationen von Rindern die Ufer des Bull Jump Creek blank und schlammig getrampelt hatten, obwohl sie nur hie und da von üppigen grünen Weiden gesäumt waren, hatte die Zerstörung so allmählich stattgefunden, dass es ihm nicht aufgefallen war, denn für ihn war die Ranch zeitlos und unwandelbar in ihrer Schönheit."

    Annie Proulx beschreibt die Liebe zum Land eindringlich, aber ohne Pathos. In ihrem ersten Kurzgeschichtenband über Wyoming, der 1999 unter dem Titel "Weit draußen" erschien, beschreibt sie das Leben in der Provinz noch sehr viel extremer und brutaler – Rancher kastrieren einen behinderten Spanner, eine Witwe entdeckt auf dem Speicher die Leichen der Frauen, die ihr Mann ermordet hat, ein Homosexueller wird mit einem Wagenheber zu Tode gefoltert.

    In "Hinterland" werden leisere Töne angeschlagen, der Gesamteindruck ist eher unaufgeregt. Annie Proulx lässt die Prioritäten des Landlebens in ihre Erzählungen einfließen, indem sie zum Beispiel dem familiären Hintergrund sehr viel Platz einräumt. Viele ihrer Figuren sind mit einer Kurzbiografie ausgestattet, die Angaben zu Groß- oder Urgroßeltern, bemerkenswerte Ereignisse oder konkrete Jahreszahlen umfasst. In dieser Hinsicht lässt sich das Buch auch losgelöst vom Bezug zu Wyoming, als Porträt des Lebens in der Provinz, lesen. Dieser Eindruck eines überschaubaren Mirkokosmos wird auch durch die eingestreuten Anekdoten verstärkt:

    "Es hieß, dass einst in den fünfziger Jahren beim Anbringen von Brandzeichen ein Kalb mit einem Tritt DeBock die Vorderzähne ausgeschlagen hatte. Er hatte die Zähne aufgesammelt, während ihm das Blut am Kinn herabrann, hatte sie mit Kaffee abgespült und in die Löcher zurückgesteckt. Als sie und ihre gelockerten Nachbarn ihm den Dienst versagten, hatte er sich jeden einzelnen in echter Cowboy-Manier gezogen, den Kopf zum Gegengewicht an einen Torpfosten gedrückt. Im Verlauf der Jahre war er ein Fachmann für alle erdenklichen kulinarischen Versuche mit Maisbrei geworden."

    Es ist ein pragmatischer Menschenschlag, den Annie Proulx in "Hinterland" beschreibt. Nicht übertrieben skurril, aber etwas wunderlich. In dieses Wyoming fügen sich auch fantastische und märchenhafte Elemente problemlos ein – ein Teekessel, der Wünsche erfüllt oder ein Höllenschlund, der Wilderer verschluckt zum Beispiel. Solche Wunder erscheinen durch die unbeeindruckte Haltung der Figuren hier fast selbstverständlich.

    Annie Proulx legt die verborgenen Schätze eines rauen Hinterlands frei. Wie in jedem guten Western wird also auch hier erfolgreich nach Gold gegraben.

    E. Annie Proulx: Hinterland
    Luchterhand Literaturverlag