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Porträt eines Optimisten

Der französische Schriftsteller und Romancier Robert Merle schrieb Zeit seines Lebens Science Fiction und historische Romane. In seinen Büchern verstellte er also die Zeit in beide Richtungen. Er selber wollte 120 Jahre alt werden und hielt sich auch im hohen Alter geistig wie körperlich fit. Als er mit 95 Jahren stirbt, sind alle überrascht. Merle wäre im August 2008 100 Jahre alt geworden.

Von Rebecca Partouche |
    "Ich bin ein Optimist. Ich bin es aber nicht aus Prinzip. Ich bin vollkommen überzeugt davon, dass ich unsterblich bin. Manchmal gehe ich Kompromisse ein, dann denke ich: ich werde mit 120 sterben, wie die Alten in der Bibel. Ich liebe das Leben. Sie nicht? Ich liebe das Leben, ja. ich freu mich am Leben zu sein und ich liebe das Leben."

    Robert Merle wurde nicht 120. Aber fast. Und als er mit 95 Jahren stirbt, wundern sich alle. Selbst seine Frau, die erheblich jünger ist als er, denn auch sie hat er davon überzeugt, dass er ewig jung ist. Vielleicht weil er so spät zu schreiben anfing. Mit 40 verfasst er sein erstes Buch: "Wochenende in Zuydcoote" - wofür er als "Jungautor" auch gleich den hoch angesehenen Prix Goncourt bekommt. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass er sich im Alter geistig und körperlich sehr fit hält. Als ich ihn besuche ist er 91. Da hebt er täglich ein Dutzend Gewichte. Und - er hofiert nach wie vor die Damen. Nicht nur die eigene. Darauf ist er stolz. Auf seinem Schreibtisch hat er die Bilder all seiner Frauen, Kinder, Enkelkinder und mittlerweile auch seiner Urenkel aufgestellt. Gleich daneben, auf dem Kachelofen, thronen die Trophäen seiner geistigen Potenz:

    " Jedes Mal, wenn ich eine Tintenpatrone leer geschrieben habe, wasche ich sie und stelle sie auf meinen Ofen. Es macht mir einfach Spaß - und gibt mir auch Mut."

    Ein halbes Jahrhundert verschriebener Tinte. Ob Merle gegen die Zeit anschreibt? Vielleicht. Auf jeden Fall versucht er sie zu manipulieren. Nicht nur im Leben. Auch in seinen Büchern verstellt er die Zeit in beide Richtungen, in die Zukunft und in die Vergangenheit. Er schreibt Science Fiction und historische Romane. Aber was er beschreibt ist nie wirklich fern. Merles "Zukunft" ist immer nur die Verlängerung des Hier und Jetzt: das Leben nach dem Atomschlag, der Einsatz von Delphinen als lebende Unterseeboote - durchaus realistische, an der Realität erprobte Visionen der Nachkriegszeit. Auf die Präzision seiner wissenschaftlichen Recherchen legt Merle auch großen Wert. Fast größeren sogar als auf seinen Stil. So hemmungslos er seine 40 Seiten täglich herunterschreibt - so akribisch recherchiert er jedes Detail. Wörterbücher, Memoiren, Geschichtswerke - Robert Merle lässt keine Quelle ungeprüft. Darum erfährt man bei ihm ebensoviel über die Hintergründe des Vietnamkriegs wie über den Klang des Pferdegetrappels im mittelalterlichen Paris oder die Paarungsgewohnheiten der Delphine - über die sicher noch nie so viele Worte gefallen sind:

    "Hier Oberfläche. 23.35 Uhr. Sie beginnen wieder, sich zu erregen. Ja, ich sehe. Bessie schlüpft unter Ivan, Ivan hält still, und sie knabbert an seinem Bauchspalt. Es kommt bei ihm zur Erektion. Ich mache eine Aufnahme. Es ist das erste Mal, dass ich das so deutlich und so aus der Nähe sehe. Sehr interessant. Der Penis der Delphine hat zwei Besonderheiten. Zum ersten: Er ist nicht vaskulös, sondern faserelastisch. Das bedeutet, dass er weder anschwillt noch länger wird. Der Penis tritt wie ein Federmesser, das aus seinem Gehäuse springt, aus dem Bauchspalt hervor."
    Auszug aus: Ein vernunftbegabtes Tier. S. 106/107

    Die Bücher von Merle strotzen vor - zum Teil recht unappetitlichen - Informationen, die aus Platzgründen oft in den Fußnoten unterbracht sind. Wie in wissenschaftlichen Essays. Tatsächlich ist Merle auch Wissenschaftler - genau genommen Professor für englische Literatur. Allerdings weniger um die Wissenschaft voranzutreiben, als um in den langen Sommerferien Romane zu schreiben - und um mit Menschen zu verkehren, die nie altern: Studenten. In seinem Leben wie in seinen Büchern - ticken die Uhren anders - beziehungsweise: Es gibt keine Uhren. Für Merle bedeutet Zeit - Verfall, Zerstörung und Ende des Lebens. Er lehnt sie ab. Und was der alternde Wissenschaftler in dem Roman "Ein vernunftbegabtes Tier" sagt, ist Merles absolute Überzeugung:

    "Sobald ich mich glücklich fühle, denke ich an den Tod, so dass ich manchmal Angst davor habe, mich glücklich zu fühlen, das Herz eines Primitiven müsste man sich anschaffen, im gegenwärtigen Augenblick leben, ohne sich, wie die Weißen, vom Gedanken an die Zukunft quälen zu lassen, aber die Zukunft ist da, sie verlangt nach einem. Dann kommt die Angst vor dem Alter, mit erschreckender Geschwindigkeit fühlt man sich von den Jahren, die vergehen, weitergestoßen, wie ein Kartenhaus fallen sie zusammen, viel bleibt nicht übrig von ihnen, kaum dass man gelebt hat, ist plötzlich das Ende da, die Demütigung, wenn die Kräfte nachlassen, die Vitalität schwindet. Ja, sagte er mit einem traurigen Blick, ich wehre mich ganz ordentlich, aber gegen einen Feind, der stärker ist als ich."
    Robert Merle. Auszug aus: Ein vernunftbegabtes Tier. S. 188

    Der Zeit stellt Merle ein mächtiges Werk entgegen - Zwei Dutzend Romane, die von Jahr zu Jahr immer dicker und barocker werden. Aus anfänglichen 200 Seiten werden schnell 600 und schließlich ein vieltausendseitiger Zyklus - der eigentlich gar kein Ende finden sollte. Unbeirrt von den Depressionen seiner Schriftstellerkollegen - die sich angesichts des Horrors des 2. Weltkriegs für düstere Themen und eine prinzipielle Reduktion entscheiden - marschiert der barocke Merle durch das 20 Jahrhundert als wäre das Unheil nie geschehen.

    Sonderbar, dass ausgerechnet dieser grundgesunde Merle den Völkermord zu seinem Ausgangspunkt macht und ihn dann zu seinem Lebensthema erhebt: Unmittelbar nach den Nürnberger Prozessen schreibt er "La mort est mon métier"- "Der Tod ist mein Beruf". Der auf authentischen Aufzeichnungen beruhende Bericht von Rudolf Höß, dem Lagerkommandanten von Auschwitz:

    "Ich hab es im Vorwort schon gesagt. Es war schrecklich. Denn ich bin sehr menschlich, und es war schrecklich über diesen inhumanen Roboter zu schreiben. Schon deshalb, weil mein Satz so warmherzig ist. Ich konnte keinen warmherzigen Satz in den Mund dieses Menschen legen, ohne alles zu verderben. Und ich musste das "Ich" verwenden. Ich, der ich so ein sinnlicher Mensch bin. Ich musste so werden wie er, so unsinnlich. Ich, der ich die Menschen liebe - die Frauen natürlich auch. Er liebte die Menschen nicht. Er hatte keine Freundschaften. Er hatte geheiratet, aber das zählte nicht. Es war übrigens ein guter Ehemann, denn er hätte nie den Gedanken gehabt, mit einer anderen Frau anzubändeln."

    Merle geht das Thema ganz direkt an. Man möchte fast sagen Kunst - und emotionslos - in Form einer nüchternen Bestandaufnahme - wie sein Gegenstand:

    "Ich brachte unverzüglich eine beachtliche Verbesserung an. Ich ließ an beiden Gebäuden die Inschrift "Desinfektionsraum" und im Inneren zu Schein Brausen und Rohrleitungen anbringen, um bei den Häftlingen den Eindruck zu erwecken, man führe sie zum Waschen dahin. Es blieb noch das Problem der Vergasung. Von Anfang an hatte ich die Verwendung der LKWs als Notbehelf angesehen, und während der zwei folgenden Wochen suchte ich fieberhaft nach einem schnelleren und sichereren Verfahren. Ich ließ anfragen, ob es nicht möglich wäre, mir eine gewisse Menge erstickenden Gases zu bewilligen. Cyclon B - Material, um die Kasernen von Ungeziefer zu befreien und ich schloss, dass dieses Gas für den Menschen ebenso gefährlich sei wie für Ungeziefer."
    Auszug aus: Der Tod ist mein Beruf, S. 212.

    Der Mann, den Merle beschreibt, ist weder pervers noch triebgesteuert. Keine wilde Bestie wie in Jonathan Littells vieldiskutiertem Roman "Die Wohlgesinnten", sondern ein steriler und impotenter Mensch - ohne Leidenschaft und Sexualität. Ein Bürokrat - das neutrale kleine Rad in einer großen Maschine.

    "Es war eine interessante Figur, denn an ihr sah man, wie ein Henker funktionieren konnte. Man hatte aus ihm einen Automaten gemacht, er erhielt einen Befehl, er führte ihn aus. Der Befehl war der Gott, den man nicht verärgern durfte. Das hast ihn dazu gebracht, monströse Dinge zu tun, obwohl er keine monströsen Dinge tun wollte."

    Nach dem Roman "La mort est mon métier" hört Merle auf zu schreiben. Zehn Jahre lang schweigt er sich aus. Der Grund: Merle steht vor einem handwerklichen Problem: Er hat sein gesamtes Pulver verschossen. Bis - er beschließt die Geschichte von Höß fortzusetzen, in der nahen Zukunft. Aus dem ferngesteuerten Roboter Höß werden: ferngesteuerte Flugzeuge, die in den sicheren Tod rasen, ebenso ferngesteuerte Delphine und mysteriöse Viren, die ausschließlich Männer töten. Sie alle - arbeiten an der globalen Vernichtung des Menschen. Blind, anonym, unbeteiligt. Wie die Waffen unserer Zeit: Atombomben und Bakterien.

    In der Welt von Robert Merle gibt es weder Gut noch Böse, wohl aber lebensbejahende und -verneinende, sinnliche und frigide Menschen, sich großzügige Vermehrende und Kontaktscheue. Das klingt grotesk, ist es zum Teil auch. Mit einer Mischung aus tiefem Ernst und einem enormen Witz lässt Merle Armeen von Robotern gegen sympathische Lustmolche antreten. Wobei die Partei der Lustmolche im Laufe der Jahre immer detailreicher und saftiger ausgeschmückt wird. In seinem letzten Roman Der wilde Tanz der Seidenröcke werden die Roboter nur noch kurz über die Bühne geschoben und dann gleich wieder abgeschaltet:

    "Und um ihr seine Aufrichtigkeit zu beweisen, machte er ihr ein Kind. Es war ein Sohn. Doch gab es wenig Anlass, sich seiner zu freuen, denn weil er die Frucht der Entsagung war, sah er schon bei seiner Geburt verdrießlich aus. Und sowie er gehen konnte, schritt er von Unglück zu Unglück bis ans Ende seiner Tage. Er liebte das Leben nicht, und das Leben vergalt es ihm."
    Auszug aus: Der wilde Tanz der Seidenröcke. S. 68

    Mit 70 beschließt Robert Merle dem düsteren Science-Fiction-Roman ganz den Rücken zu kehren, um sich dann völlig dem farbenfrohen, galanten historischen Roman zu widmen. Er tauscht seine apokalyptischen Zukunftsvisionen gegen die mythische Zeit der Liebe, die französische Renaissance. Und auch wenn er auf den Horror nicht ganz verzichtet - badet der alte Herr von nun an im Glück: Er beschreibt kilometerlang - feurige Tänze, dralle Milchbrüste und Zofen, die fünfjährigen Jungs ins Bett gesteckt werden. In seiner Begeisterung zieht er selbst an den Schauplatz seiner historischen Romane, nach Mont-Fort-l'Amaury, sein kleines Liebesnest bei Versailles. Einige Kritiker werfen ihm "Pornographie" vor. Denn in seinen historischen Romanen dominieren nun Lustmolche und Nymphomaninnen. Wobei die Lustmolche im Schnitt 70 sind, zeugungsfähig, vital. Und die Nymphomaninnen 20, drall und natürlich: äußerst willig. Dasselbe Bild hat er übrigens von seinen Leserinnen:

    "Als ich angefangen habe, den Ausdruck "schöne Leserin" zu verwenden, hat sich meine Frau beschwert. Sie fand, dass ich meiner Leserin zu sehr schmeichelte, und sagte: es gibt bestimmt auch hässliche darunter. Woraufhin ich antwortete: "Aber wenn sie lesen, dass sie schön sind, werden sie es am Ende glauben. Und das wird ihnen doch gut tun." Damit habe ich sehr viel Erfolg gehabt. Denn in den Briefen, die ich bekomme, sprechen mich die Frauen an mit: "Ich bin eine ihrer schönen Leserinnen". Ja, die Frauen sind im Allgemeinen warmherzig, während die Männer nörgelig sind. Sie machen mich auf Fehler aufmerksam."

    Aber die Zeit der Nörgler hat Merle hinter sich gelassen. Im Alter erschließt er sich ein völlig neues Publikum - junge Frauen, die ihm täglich Liebesbriefe schreiben. Und die vor lauter Schwärmerei noch gar nicht mitbekommen haben, dass Robert Merle nicht mehr lebt. Denn bis heute trudeln ihre Briefe ein in Mont-Fort-l'Amaury - das kleine Liebesnest bei Versailles.