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Porträt eines verstörten Menschen

Alison Louise Kennedys aktueller Roman erzählt die Geschichte des Alfred Francis Day, Bomberschütze im Zweiten Weltkrieg. Das Buch "Day" ist ein Bittgebet für die Lebenden und die Toten.

Von Agnes Hüfner | 10.03.2008
    Am Anfang eine Alltagsszene: Mit dem Satz "Alfred ließ sich einen Schnauzer wachsen" beginnt A.L. Kennedy die Geschichte ihres Romanhelden Alfred Francis Day. Wenige Worte beschreiben die äußere Erscheinung: unschöne Züge und andere kleine Mängel:

    "aber so furchtbar hässlich war er nicht, kein hoffnungsloser Fall. ... Er war nicht etwa unbeholfen oder eigenartig, ganz im Gegenteil : Er war umgänglich, vernünftig, ganz normal."

    Wer die Bücher der Autorin kennt, lässt sich nicht täuschen. In A.L. Kennedys Welt gibt es keine normalen Menschen.

    Die banalen Situationen, mit denen viele ihrer Geschichte einsetzen, trügen. Sei es, dass die Hausfrau Mrs. Brindl in der Erzählung "Gleissendes Glück", irritiert über den Verlust ihres Gottvertrauens, auf dem Fußboden des Wohnzimmers einer Selbsthilfe-Sendung der BBC zuhört, sei es, dass der Schriftsteller Nathan Staples im Roman "Alles, was du brauchst ", sich, weil sein Arm kribbelt, Folterszenen ausmalt, um sich davon zu überzeugen, es könnte alles noch schlimmer sein: Kaum hat man diese nicht weiter auffälligen Helden zur Kenntnis genommen, entwickeln sie wahre Obsessionen. Auch Alfred Francis Day, dessen Lebensgeschichte so prosaisch anfängt, ist ein verstörter Mensch. Er kann sich einen Bart wachsen lassen, aber er kann nicht aus seiner Haut.

    "Wenn du nicht wachsam bliebst und die Kontrolle behieltest, konnten dich alle möglichen Gedanken ereilen, und genau diese Freiheit wolltest du vermeiden. Manchen konntest du ausweichen, Haken schlagen und ihnen aus dem Weg gehen, aber sie würden dich trotzdem verfolgen. Du musst auf der Hut sein."

    Die Ermahnung wirkt nicht. Immer wieder aufs Neue muss Alfred seinen Gedanken befehlen: "Schluss jetzt. Verstanden?" Woran er nicht denken will, bleibt erstmal ein Rätsel. Auch Lebensweg, Alter des Helden, Ort und Zeit, alles, was die Geschichte in Gang brächte, lässt die Autorin im Ungewissen. Erst als Alfred die britische Luftwaffe erwähnt und von den Zigaretten spricht, die "nach Einsätzen verteilt wurden" wird klar: Alfred Day gehört zum Ensemble jener Heimkehrer, die den Krieg überlebt haben, sich nach Kriegsende im Leben aber nicht mehr zurechtfinden.

    Das Thema ist in der Literatur oft behandelt worden, am kompromisslosesten vielleicht von Virginia Woolf in der Figur des Septimus Warren Smith, der den Tod seines Freundes in den letzten Tagen des Ersten Weltkriegs ungerührt hinnimmt, nach dem Krieg an seiner Gefühllosigkeit zerbricht, allenthalben den toten Freund zu sehen meint und sich umbringt. Septimus Warren Smith spielt in Woolfs Roman "Mrs. Dalloway" eine Nebenrolle, Alfred ist die Hauptfigur des nach ihm benannten Romans "Day", und er ist, anders als sein Pendant, eine traurige, aber keine unrettbar verlorene Gestalt.

    Am Ende des Romans steht der ehemalige Bomberschütze des Zweiten Weltkriegs, Alfred Day, auf einer Bühne und singt.

    "Und er kann glauben, wenn er die Augen öffnet, werden auf den Bänken all die Jungens sitzen, die sie an den Himmel verloren haben, und seine Freunde ihm am nächsten, seine Crew am nächsten, so nah, dass er ihre Hände nehmen und spüren kann, dass es ihnen gut geht, dass sie nie Schaden genommen haben, nie Angst hatten, nie verloren waren. Und er kann glauben, dass ihm vergeben wird. Er kann soviel glauben, dass ihn die Wahrheit zum Weinen bringt."

    Sobald es sein Alter erlaubte, hatte sich Alfred freiwillig zur Armee gemeldet. Er wird Heckschütze in einem Bomber der Air Force, genießt die Anerkennung der Kameraden und fühlt sich in seiner Crew so sicher aufgehoben, wie er es im Haus seines Vaters, eines brutalen Fischhändlers, nie erlebt hatte. Ein Jahr vor Kriegsende, kurz bevor die Mannschaft ihr Einsatzsoll von 30 Flügen absolviert hat, wird die Maschine über Norddeutschland abgeschossen. Alfred überlebt als einziger. Er gerät in Gefangenschaft, wird halb tot geprügelt, später in ein Lager überführt. Nach der Befreiung verkriecht er sich im Antiquariat eines Londoner Bekannten. 1949 kehrt er als Komparse eines englischen Films über deutsche Lager vorübergehend nach Deutschland zurück.

    Dieses für die Dreharbeiten nachgebaute Lager bildet den Rahmen für die Geschichte des Alfred Day, ein aus Bruchstücken bestehendes Flickwerk, in dem der Bericht der Autorin, die Selbstgespräche der Hauptfigur und Dialogzitate aus Vergangenheit und Gegenwart sich durchkreuzen. Die fragmentarische Logik und zeitliche Abfolge missachtende Erzählweise lässt offen, was genau, wann und wo der Hauptfigur widerfahren ist. Umso nachdrücklicher beschwört Kennedy die seelische Drangsal des Helden. Auch ihre durchweg rücksichtslosen Schilderungen zerfetzter Körper reden dem Leser ins Gewissen.

    Anders als die Autorin glaubt Alfred zumindest zu wissen, warum er sich als Komparse gemeldet hat:

    "Es war ihm nicht unwahrscheinlich erschienen, dass er seine eigene kleine Vorstellung in diese professionalle Täuschung einbetten könnte, einen Tunnel direkt zu dem Fleck graben, an dem er sich selbst verloren hatte, oder eher zu dem dunklen, tauben Loch, das in ihm schlummerte. ... Deshalb hatte es womöglich seinen Sinn, dass er hier auftauchte und zumindest herausfand, was ihm fehlte, vielleicht sogar die Lücke füllte."

    Doch binnen kurzem holt die Vergangenheit die Statisten ein. Heimlich graben einige in ihrer Baracke tatsächlich einen Fluchttunnel.

    "Hab ich mir auch nicht so gedacht, als ich hergekommen bin, aber ... Musste sein","

    erklärt einer von ihnen. Alfred fällt bei einem Appell in Ohmacht, nachts träumt er, Hunde würden auf ihn losgelassen. Den Heimsuchungen der ehemaligen Häftlinge stellt Kennedy ein Filmteam gegenüber, dessen Vorstellungskraft, so originalgetreu die Kulisse auch dasteht, an die Wirklichkeit des Lagerlebens nicht herankommt. Die Idee, dass Gefangene in Ohnmacht gefallen sein könnten, übernimmt der Regisseur sofort für seinen Film.

    A.L. Kennedy gruppiert viele Figuren um ihren Helden, vor allem die Mitglieder der Crew, aber auch Einwohner Londons, die der Bombardierung ihrer Stadt ausgesetzt sind, seltener den Gegner, die Nazis, gelegentlich die 'Scheißdeutschen' genannt. Jedem ihrer Leute gewährt sie eine eigene kleine Geschichte, Schicksale, die von Pflicht, Zorn und Zweifel bestimmt waren. Ausführlich schildert sie die Albereien der Kameraden, die uneingestandenen Zusammenbrüche, die Rituale gegen die Todesangst, das unbedingte Vertrauen, in dem Alfred sich geborgen fühlte.

    Nach dem Ende der Dreharbeiten, kurz bevor die Komparsen nach England zurückgeflogen werden, erinnert sich Alfred an das Ende der Lagerhaft, den Weg in die Freiheit:

    ""Und wenn wir still standen, waren wir tot, und wenn wir uns noch bewegen konnten, gingen wir in den Tod, und die mit Gewehren brachten uns um, bis sie irgendwann nicht mehr an ihre Gewehre glauben konnten und uns in Ruhe ließen oder sich selbst umbrachten. Lumpen und Blut und Gewehre und Bewegung, mehr waren wir nicht."

    Ein kurzer Epilog widerspricht der Aussichtslosigkeit des Elends. Zurück in London fasst Alfred den Mut, die Liebe einer Frau zu erwidern.

    A.L. Kennedys Roman "Day" gleicht dem Memento der katholischen Messe, er ist ein Bittgebet für die Lebenden und die Toten, mehr noch der Wunsch, den Krieg exkommunizieren zu können. Wie alle Bücher der Autorin hat Ingo Herzke auch diesen Roman ins Deutsche übersetzt, die Anteilnahme an der Geschichte des Alfred Francis Day ist auch ihm zu verdanken.


    A.L. Kennedy: Day
    Roman. Aus dem Englischen von Ingo Herzke.
    Wagenbach Verlag, Berlin 2007
    350 Seiten, 22,90 Euro