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Porträt Hilde Domin

Ihr erstes Gedicht entsteht 1951, nach dem Tod ihrer Mutter. Es ist auch sonst eine schwere Zeit für Domin. Zwei Jahrzehnte Exil haben sie zermürbt; und die Ehe mit ihrem Mann Erwin Walter Palm scheint kaum zu retten. Hilde Domin ist 42 Jahre alt – ein später Beginn für eine Autorin.

Von Matthias Kußmann | 27.07.2009
    Rückblickend, Jahre danach, nennt sie diesen Zeitpunkt ihre "zweite Geburt":

    "Ich war ein Sterbender, der gegen das Sterben anschrieb. Und so lange ich schrieb, lebte ich."

    "Das war ein Geschenk oder, wenn Sie wollen, kann man durchaus sagen, eine Gnade. Es war eine Erlösung.""

    Domins frühe Gedichte entstehen an einem Tiefpunkt ihres Lebens. Aber sie klagen nicht, im Gegenteil. Sie wenden sich, wie ihre späteren Texte, gegen das Negative, formulieren ein "Dennoch".

    ""Ich habe den Glauben an die Menschen nie verloren, und das ist etwas ganz einzigartiges, dass ich den Glauben an die Menschen behalten konnte, trotz all der schrecklichen Sachen. Das ist ein Glück. "

    Auch den Glauben an die Poesie verliert sie nicht. "Nur eine Rose als Stütze" heißt ihr erster Gedichtband, die Rose steht als Symbol für Schönheit und Poesie. Lyrik sei eine Sache "der ratio und der Erregung", notiert sie in ihren "Frankfurter Vorlesungen". Gedichte steigerten die Bewußtheit des Menschen und stärkten seine Individualität gegen die gesellschaftliche "Außensteuerung", wie sie es nennt. Auch ihre eigenen Texte setzen sich immer wieder für die Freiheit und Würde des Menschen ein; als Jüdin von den Nazis ins Exil getrieben, weiß sie, wovon die spricht. – Domins Gedichte machen Mut, einfach, klar und poetisch. Vielleicht liegt darin ein Grund für ihren Erfolg beim Publikum. Ein Autor freilich brauche gleich drei Arten von Mut, sagt sie einmal. Er müsse "er selber" sein, an die "Anrufbarkeit" der andern glauben und die Dinge beim Namen nennen. In ihrem Werk hat sich Hilde Domin daran gehalten.

    "Wort und Ding
    lagen eng aufeinander
    die gleiche Körperwärme
    bei Ding und Wort"

    Wenn es um ihr eigenes Leben ging, nannte sie die Dinge aber nicht immer beim Namen – jedenfalls nicht richtig. In den meisten Lexika steht ein falsches Geburtsdatum, der 27. Juli 1912. Hilde Domin hat sich, ganz Dame, drei Jahre jünger gemacht. Erst spät kam heraus, dass sie 1909 geboren wurde – heute vor 100 Jahren. Auch nannte sich die Diplom-Volkswirtin "Dr. Domin", ohne den Titel erworben zu haben. Und in Gesprächen verklärte sie ihre Ehe mit dem Kunsthistoriker Erwin Walter Palm, die tatsächlich eher ein Rosenkrieg war. Doch vielleicht braucht es derlei Ungereimt- und Unzufriedenheiten, damit große Literatur entsteht.

    "Worte sind reife Granatäpfel,
    sie fallen zur Erde
    und öffnen sich.
    Es wird alles Innre nach außen gekehrt,
    die Frucht stellt ihr Geheimnis bloß
    und zeigt ihren Samen,
    ein neues Geheimnis."

    Hildegard Löwenstein wird am 27. Juli 1909 in Köln geboren, als Kind wohlhabender jüdischer Eltern. "Hilde Domin" nennt sie sich erst Jahrzehnte später, als ihre ersten Gedichte gedruckt werden: eine Verbeugung vor ihrem Exilland, der Dominikanischen Republik, wo sie die Nazizeit überstand. – Ende der 20er-Jahre beginnt sie zu studieren, zunächst Jura, dann Nationalökonomie in Heidelberg, Köln und Berlin. Vor allem die Heidelberger Jahre scheinen glücklich gewesen sein. Ein halbes Leben später, 1961, läßt sie sich mit ihrem Mann in der kleinen Stadt am Neckar nieder. Fast alle ihre Werke entstehen dort, Gedichte, Erzählungen, Essays und ein Roman – und dort stirbt sie auch, im Februar 2006, mit 96 Jahren. Im Studium belegt sie auch Kurse in Philosophie, unter anderem bei Karl Jaspers. Im Hörsaal lernt sie ihren späteren Mann Erwin Walter Palm kennen, der Archäologie und Kunstgeschichte studiert. Der junge Dandy, ebenfalls Jude, und die hochintelligente, handfeste Studentin beginnen das, was sie später ein "Lebensgespräch" nennt: einen intellektuellen Austausch, der bis zu Palms Tod 1988 reicht. Jan Bürger vom Deutschen Literaturarchiv Marbach, wo sich Domins Nachlaß befindet:

    Es begann damit, dass sie sich 1932 in Heidelberg in der Mensa kennengelernt haben. Dann gingen sie zu einem Studienaufenthalt für Erwin Walter Palm ( ... ) nach Rom. Aus diesem Studienjahr wurde ein Exil, in Deutschland fand die Machtübernahme statt. Sie wollten eigentlich in Italien bleiben, wo sie sich ganz wohl fühlten. Aber dann gab es Abmachungen mit Mussolini und Hitler, plötzlich griffen die Rassegesetze auch in Italien. Da flohen sie nach England und von dort weiter nach Santo Domingo. Das war völlig beliebig ausgewählt, weil es einfach ein billiger Exilort war; man musste für die Einreise in Exilländer viel Geld zahlen und Santo Domingo war umsonst.

    Das "Lebensgespräch" findet vor allem in Briefen statt, da das Paar oft getrennt ist. Palm reist zu wissenschaftlichen Studien durch Italien, später durch Südamerika. Erst nach Domins Tod findet man in ihrer Wohnung ein riesiges Konvolut Briefe. Es dokumentiert auch die Exilzeit des Paars, die bis 1954 dauert; erst dann kehren sie nach Deutschland zurück. Eine Auswahl aus Domins Briefen an ihren Mann ist jetzt als Buch erschienen. "Die Liebe im Exil" heißt es, von Jan Bürger und Frank Druffner herausgegeben, und umfaßt die Zeit von 1931 bis '59. Allerdings geht es um eine schwierige Liebe, wie viele Briefe zeigen. Domin stellt sich ganz in den Dienst ihres Mannes, der sich zum Dichter berufen fühlt, aber nur mäßige Gedichte im Stil Stefan Georges zustandebringt. Sie gibt Deutschunterricht, macht den Haushalt und hilft ihm bei Recherchen zu wissenschaftlichen Arbeiten. Palm läßt sie oft allein, hat Affairen, auf die sie mit eigenen Affairen reagiert. Doch in den Briefen an ihren Mann erkennt man bereits die spätere Autorin:

    Dieser Gründungsmythos der Schriftstellerei, von dem sie selbst immer erzählte, diese "zweite Geburt" in Santo Domingo, die in den 50er Jahren vor dem Hintergrund des Todes der Mutter stattfindet – ich glaube, das ist wirklich ein Mythos. Eine Frau, die solche Briefe schreibt, wird über kurz oder lang auch selbst in die Schriftstellerei gehen. Vielleicht wäre es gar nicht so sehr die Lyrik geworden, sondern eher die Prosa. Sie kann wunderbar erzählen in diesen Briefen. Oft ist sie da auch stärker als in den später veröffentlichten Prosastücken.

    Anfang Februar 1936, auf der Suche nach einer Wohnung in Rom, schreibt sie:

    Ich habe den versprochenen Brief gestern nicht mehr geschrieben, mein Liebster, ich war gar zu müde. Ich glaube, es muss das römische Klima sein, ich bin halb tot vor Müdigkeit. Du wirst es schon noch merken. Heute bin ich ein bißchen kläglich von all der Lauferei, der Tiber ist so lang und hat so viele Windungen. Zum Trost habe ich die ganze Zeit Deinen Brief in der Hand gehalten, damit du mich ein bißchen begleitetest bei all dem Getrappel. Ich habe mir auch ein kleines Bouquet Veilchen gekauft, weil es gar so schönes Wetter ist, bei aller Kälte gar nicht winterlich, und alle Männer sagen, wenn sie den Brief und die Veilchen sehen: Certamente una lettera del fidanzato. Überhaupt sind die Römer, trotz der Kälte, sehr liebenswürdig und freigiebig mit Komplimenten.

    Nach Deutschland zurückgekehrt, wird Erwin Walter Palm Professor für Kunstgeschichte, Domin lebt als freie Autorin – in dem Land, aus dem sie vertrieben wurden.

    "Das Wort, die Sprache, sind die Leidenschaft des Lyrikers. Ich sage von mir selbst, die ich erst sehr spät zu schreiben begann: "Da stand ich auf und ging heim in das Wort. Das Wort aber war das deutsche Wort. Deswegen fuhr ich zurück über das Meer, dahin, wo das Wort lebt."

    1959, Domin ist 50 Jahre alt, erscheint ihr erstes Buch; es bringt einen neuen Ton in die deutschsprachige Nachkriegsliteratur. Die Autorin folgt weder der Naturlyrik der "inneren Emigranten", noch schreibt sie "moderne", hermetische Gedichte. Ihre Texte sind, wie die späteren auch, auf Verständigung mit dem Leser angelegt.

    Nicht müde werden
    sondern dem Wunder
    leise
    wie einem Vogel
    die Hand hinhalten.


    Hilde Domin hat nur sechs Gedichtbände publiziert. Ab den 70er Jahren begann ihre lyrische Produktion zu versiegen, sie konzentrierte sich auf Prosa und Essays. Zum ihrem 100. Geburtstag ist jetzt ein schöner Band mit "Sämtlichen Gedichten" erschienen, der auch Unpubliziertes enthält. Es ist ein an Umfang kleines – nur 300 Seiten –, aber literarisch großes Werk. Es zeigt, was der Titel ihrer "Frankfurter Vorlesungen" zusammenfaßt:

    Das Gedicht als Augenblick von Freiheit.


    Vorgestellte Bücher:
    Hilde Domin: Sämtliche Gedichte. 352 Seiten, 16 Euro.
    Hilde Domin: Die Liebe im Exil. Briefe an Erwin Walter Palm 1931-1959. 440 Seiten, 19,90 Euro. – Beide im S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main.