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Portrait einer neuen Frau

1931 erscheint Irmgard Keuns Roman "Gilgi - eine von uns". Die Autorin wird damit über Nacht bekannt; sie ist 26 Jahre alt. "Hier ist ein Talent", jubelt Kurt Tucholsky: "Wenn die noch arbeitet, reist, eine große Liebe hinter sich und eine mittlere bei sich hat: Aus dieser Frau kann einmal etwas werden." Und es wird etwas aus ihr: Keuns frühe Bücher treffen einen Nerv der Zeit. Ihre Biografin Hiltrud Häntzschel:

Von Matthias Kußmann | 04.02.2005
    Mit "Gilgi" hat sie einen Volltreffer gelandet. Sie hat die Mentalität von Tausenden getroffen, ins Herz getroffen, kann man etwas sentimental sagen. Grade war Kracauers Essay über die Angestellten erschienen, es war das Thema: Die Schar der weiblichen Angestellten, die plötzlich aufgetaucht sind nach 1923, nach der Wirtschaftskatastrophe, wo so viele Frauen plötzlich berufstätig sein mussten, die früher von einem Erbe gelebt hatten, das nun zerronnen war. Ich glaube, es gibt seit Goethes "Werther" kein Buch, keinen so identifikatorischen Text wie diese "Gilgi".

    Denn die junge Angestellte Gilgi - und dadurch wird sie zum Vorbild - kämpft sich durch und nimmt ihr Leben selbst in die Hand. Sie ist das, was man Ende der 20er, Anfang der 30er Jahre als "neue Frau" bezeichnet:

    Gilgi sieht aus dem Fenster. Die Trostlosen da im Wagen - nein, sie hat nichts mit ihnen gemein, sie gehört nicht zu ihnen, will nicht zu ihnen gehören. Sie sind grau und müde und stumpf. Und wenn sie nicht stumpf sind, warten sie auf ein Wunder. Gilgi ist nicht stumpf und glaubt an kein Wunder. Sie glaubt nur an das, was sie schafft und erwirbt. Sie ist nicht zufrieden, aber sie ist froh. Sie verdient Geld.

    Doch dann verliebt sich Gilgi in den Bohemien Martin, und als sie von ihm schwanger wird, gerät ihr Leben vollends durcheinander. Am Ende freilich verlässt sie ihn und kehrt zu ihrer Selbständigkeit zurück.

    Wenige Monate nach "Gilgi" erscheint Keuns zweiter Roman "Das kunstseidene Mädchen", mit dem sie endgültig berühmt wird. Das Buch erreicht Rekordauflagen und wird in mehrere Sprachen übersetzt. Filme und Schlager der frühen 30er Jahre bestimmen das Leben der Sekretärin Doris, die aus ihrem kleinen Angestellten-Dasein ausbrechen und Schauspielerin werden will. "Ich will ein Glanz werden", sagt sie, fasziniert vom Film und der schon damals mächtigen Traumfabrik Hollywood:

    Ich denke, dass es gut ist, wenn ich alles beschreibe, weil ich ein ungewöhnlicher Mensch bin. Ich denke nicht an Tagebuch - das ist lächerlich für ein Mädchen von achtzehn und auch sonst auf der Höhe. Aber ich will schreiben wie Film, denn so ist mein Leben und wird noch mehr so sein. Und ich sehe aus wie Colleen Moore, wenn sie Dauerwellen hätte und die Nase mehr schick ein bisschen nach oben. Und wenn ich später lese, ist alles wie Kino - ich sehe mich in Bildern. Und jetzt sitze ich hier in meinem Zimmer im Nachthemd, das mir über meine anerkannte Schulter gerutscht ist, und alles ist erstklassig an mir - nur mein linkes Bein ist dicker als mein rechtes. Aber kaum. Es ist sehr kalt - aber im Nachthemd ist schöner.

    Ihr Biografin schreibt über sie:

    "Ich will schreiben wie Film" - das war das Stichwort. Das Kino war um dieser Zeit das aufregendste Medium, es war gerade der Tonfilm gekommen. Und Doris bewegt sich durch Berlin wie im Film. Sie will das ja auch, sie will sich selbst beobachten. Es gibt eine Sequenz in diesem Roman, wo sie einem blinden Mann Berlin zeigt. (...) Das ist fantastisch, wie sie ihm die Straßen beschreibt, die Häuser, den Verkehr, die Menschen, die sich hin und her bewegen. Das ist Berlin in den frühen 30er Jahren!

    Keun bringt Anfang der 30er Jahre einen eigenen, frischen Ton in die deutsche Literatur:

    Eine Ampel, die wechselt grün und rot und gelb - so riesige Augen und Autos warten vor ihr - ich gehe durch die Tauentzien - und Geschäfte mit rosa Korsetts verkaufen in einem auch grüne Pullover - wieso? Und Krawatten und der gestreifte Bademantel eines Mannes im Fenster - und ich gehe - es sind braune Schuhe und ein Automatenrestaurant mit Walkürenradiomusik und Brötchen, wie ein Stern arrangiert - und Delikatessen, die man sich schämt, nicht zu kennen - in der Stadtküche. Und bei Zuntz vorbei riecht es nach Kaffee, er liegt klein und braun in südländischen großen, schaligen Körben, es ist ja alles wunderbar - und breite Wege mit Schienen und gelben Bahnen. Und Menschen am KaDeWe, das ist so groß und mit Kleidern und Gold und an der Tür viele elegante kleine Hunde an Leinen, die warten auf Damen, die kaufen drinnen - und enorm viereckig - und ein kleiner Wittenbergtempel, da fährt unten im Bauch die Untergrund - es leuchtet ein großes Riesen-U...

    Ein Vorbild habe es nie gegeben, wie sie Jahrzehnte später betont:

    Also direkte Vorbilder, so wie Sie das jetzt denken, die hatte ich nie, die hätte ich auch abgelehnt. Denn ich wollte ja ich sein, ich, ich, ich! Das war die Hauptsache.

    Irmgard Keun wird am 6. Februar 1905 in Berlin geboren: ein Datum, das die junge Erfolgsautorin später auf das Jahr 1910 verlegt. So glaubt alle Welt, sie sei erst Anfang 20, ein literarisches Wunderkind. Erst vor wenigen Jahren wurden Unterlagen gefunden, die ihren tatsächlichen Lebenslauf dokumentieren:

    Man kann sich bei Irmgard Keun eigentlich auf nichts verlassen. Das Geburtsdatum ist schon Legende, das hat sie ja bis auf das erste Grabkreuz fünf Jahre später verlegt, auf das Geburtsdatum ihres Bruders. Und dadurch hat sie ihre Jugend fünf Jahre verkürzt. Das muss man sich mal vorstellen - das muss man erst mal hinkriegen! Was man da mogeln muss an übersprungenen Klassen und irgendwelchen versteckten Ausbildungen.

    Keun:
    Es sind Rollen, die ich gern spiele. Das macht mir Spaß. Ich hantiere mit den Figuren. Ich spiele mit allen. Das sind alles meine Rollen.

    1913 zieht die Familie nach Köln. Keun nimmt Schauspielunterricht, tritt in Hamburg und Greifswald auf. Dann beginnt sie zu schreiben. 1932 heiratet sie den Regisseur Johannes Tralow, hat aber bald darauf eine Beziehung mit dem jüdischen Arzt Arnold Strauss, die mehrere Jahre dauert. Als die Nationalsozialisten an die Macht kommen, verbieten sie Keuns Texte als "Asphaltliteratur". Ihre literarische Karriere in Deutschland endet nach nur drei Jahren. Keun löst - naiv oder mutig? - einen Skandal aus, als sie die Nazis wegen Verdienstausfalls auf Schadenersatz verklagt. 1936 geht sie ins Exil nach Belgien und Holland, wo sie den berühmten Autor Joseph Roth kennen lernt; sie wird für zwei Jahre seine Lebensgefährtin:

    Am Nachmittag haben wir zusammen in irgendeinem Café an der Place Damm gearbeitet und geschrieben. Und am Abend, da war das Restaurant geschlossen, aber uns wurde ein Raum unten zur Verfügung gestellt, da saßen wir noch die halbe oder drei Viertel der Nacht zusammen. Da haben wir unseren Wein oder sonstwas getrunken und lasen einander vor: er, was er geschrieben hatte und ich, was ich geschrieben hatte. Und das gefiel uns und das machte uns Spaß - wir fanden uns beide irgendwie gut, wir gefielen einander.

    1937 erscheint im Amsterdamer Querido-Verlag jener Roman, den viele für ihren besten halten: "Nach Mitternacht". Die 19jährige Susanne will in Deutschland mit ihrem Freund einen Zigarettenladen eröffnen. Doch Franz wird verhaftet, der Inhaber eines anderen Ladens hat ihn denunziert. Keun zeigt beeindruckend, wie sich die Menschen im Alltag mit dem Faschismus arrangierten - in einer Mischung aus Angst vor Repressalien und bislang versteckten Ressentiments gegen andere, die man nun austragen kann:

    Gerti und ich saßen im Esplanade, um uns wurde es leerer, immer leerer, ganz leer. Alle Juden gingen fort. Aus dem Lautsprecher rasten Reden wie ein Gewitter. Voll war das Café von diesen Reden über den Führer, der kommen werde, über das freie Deutschland, über die Begeisterung der Menge. Zwei ältere Damen kamen herein, dünn und sauber sahen sie aus, unverheiratet und nach beschränkten Mitteln, wie reisende Lehrerinnen aus einer kleinen Stadt. Sie bestellten Kaffee und Apfeltorte mit Sahne. Als sie anfangen wollten zu essen, wurde im Radio das Horst-Wessel-Lied gespielt, die alten Fräuleins ließen ihre Löffel fallen, standen auf, reckten die Arme. Das muß man, weil man nie weiß, wer einen beobachtet und anzeigt. Vielleicht hatten sie voreinander Angst. Gerti und ich standen auch auf.

    Mit dem internationalen Erfolg von "Nach Mitternacht" erlebt Keun einen zweiten literarischen Triumph. Doch auch der ist nicht von Dauer. 1940 beginnt Hitler seinen Westfeldzug. Da Keun kein Ausreisevisum erhält, verlässt sie Holland illegal. Vierzig Jahre später sagt sie über das Exil:

    Es war nicht leicht auszuhalten, aber man hatte Freunde, vieles wurde ersetzt durch Wesentlicheres. Die Heimat war keine mehr, der brauchte man nicht nachzutrauern, da ging alles drunter und drüber, das war ekelhaft, da war man dankbar, dass man nicht mehr da war. Die Eltern waren total auf meiner Seite, sie gingen mir nicht verloren, sie besuchten mich bei jeder Gelegenheit. Sie halfen mir auch finanziell, indem sie mir Schmuck mitbrachten, den ich dann ins Pfandhaus tragen konnte. Ich kannte sämtliche Pfandhäuser der Welt. Alle! Und alle waren verschieden und hochinteressant. Nur, dass sie einen beschissen haben... Wir haben wie Fürsten gelebt - und hatten kein Geld. Wie, das ist mir heute noch manchmal ein Rätsel.

    Keun kehrt nach Köln zurück und lebt fünf Jahre versteckt bei Freunden und ihren Eltern. Nach dem Krieg hält sie sich mit Arbeiten für Funk und Presse über Wasser; es gelingt ihr nicht, an die früheren Erfolge anzuknüpfen. Im literarischen Leben, das die "Gruppe 47" bestimmt, wird sie - wie andere Exilanten auch - vergessen, ihr letzter Roman "Ferdinand, der Mann mit dem freundlichen Herzen" übersehen. Die Autorin lebt zurückgezogen im Keller ihres zerbombten Kölner Elternhauses; sie ist zunehmend alkohol- und medikamentenabhängig. 1951 kommt ihre Tochter Martina zur Welt. Den Namen des Vaters hält Keun bis zu ihrem Lebensende geheim - auch vor ihrer Tochter. Martina Keun-Geburtig, die heute in Mainz lebt, erinnert sich an ihre großzügig-liberale Erziehung. Und an das unkonventionelle Verhalten ihrer Mutter:

    Was mir noch in Erinnerung geblieben ist: dass wir in den Stadtwald gegangen sind zum Picknicken. Und unterwegs, wenn da so ältere Damen waren, die wir nicht mochten, dann haben wir je nach Jahreszeit Kletten gesammelt und haben die mit Kletten beschmissen und haben furchtbar gelacht. Manchmal haben sie's gemerkt und haben sich böse umgedreht, und wir haben dann so ganz unschuldige Gesichter gemacht.

    Ende der 50er Jahre wird es still um Irmgard Keun; im Wirtschaftswunder-Deutschland ist sie wohl nie angekommen. Sie verbringt Monate, später Jahre in Entzugskliniken und Psychiatrien. Erst 1977 wird die Autorin durch einen Artikel im "Stern" wieder entdeckt. Der Claassen-Verlag bringt ihre Bücher neu heraus - und Keun, die schon lange nicht mehr schreibt, ist ein drittes, letztes Mal "ein Glanz". Sie hält Lesungen und gibt Interviews. Im In- und Ausland feiern die Feuilletons ihre Wiederentdeckung - was sie genießt, doch auch mit Skepsis sieht:

    Plötzlich gehöre ich zu einer Welle - einer Welle der Vergangenheit...

    Noch einmal Biografin Hiltrud Häntzschel:

    Sie muss immer noch getrunken haben, man muss sie hingeschleppt haben in die Rundfunkstationen oder zu den Lesungen. Aber wenn sie dann da war, war sie anscheinend hellwach und hat das Publikum fasziniert. Sie hat sich wieder Pelze kaufen können, hat sich richtig was leisten können!

    Ein Jahr vor Keuns Tod wird ihre Wiederentdeckung mit der Verfilmung von "Nach Mitternacht" bestätigt. Die 76jährige ist schwer krank, spielt im Film aber dennoch eine kleine, für sie typische Rolle. Ihre Tochter Martina erinnert sich:

    Das letzte große Ereignis war Ende 1981 die Premiere zu "Nach Mitternacht". Da waren wir mit dabei in Frankfurt. Sie hat nicht gesprochen, aber eine kleine Rolle übernommen, am Ende des Films. Da wo der Hitler nach Frankfurt kommt, das hat sie ja miterlebt. Da sitzt sie an einem Tisch und streckt die Zunge raus - einem Nazi streckt sie die Zunge raus.

    Fünf Jahre später stirbt Irmgard Keun, am 5. Mai 1982 in Köln. Ihre bis heute bestens lesbaren Bücher sind weitgehend vergessen. Doch die Stadt Köln hat ihrer gedacht. Wer dorthin reist, kann sie finden, wenn er den Blick nach oben richtet: als Bronzeplastik auf dem Kölner Rathausturm.