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Portugal im Sparzwang

Die Ratingagenturen haben nicht nur Spanien und seinen Schuldenhaushalt weiterhin im Blick, sondern auch Portugal, dessen Zahlungsfähigkeit immer mehr in Zweifel gezogen wird. Und dies trotz beispielloser Sparmaßnahmen, die nun auch ihre Spuren im Gesundheitssystem hinterlassen sollen.

Von Tilo Wagner | 16.12.2010
    Es ist kurz vor acht Uhr morgens. Noch hat das Gesundheitszentrum in Sintra, rund 15 Kilometer westlich von Lissabon, nicht geöffnet. Doch in dem kühlen, dunklen Gang stehen schon zwei Dutzend Bürger. Nur wer ganz früh kommt, hat eine Chance noch am gleichen Tag von einem Arzt gesehen zu werden. Darauf hofft auch die chronisch kranke Ana Pereira, die die letzten Laboruntersuchungen vorzeigen muss.

    "Ich verstehe das System nicht. Seit mein Hausarzt pensioniert wurde, habe ich keinen Arzt mehr, der für mich zuständig ist. Das heißt, ich habe niemanden, der meine Krankheit regelmäßig beobachtet."

    Große Bereiche des portugiesischen Verwaltungsapparats sind ineffizient. Das bekommen die Portugiesen sonst nur sporadisch zu spüren. Doch mit den Problemen des Gesundheitssystems werden sie alltäglich konfrontiert. Das Recht auf eine gebührenfreie Behandlung steht in der portugiesischen Verfassung. Und obwohl der Staat immer mehr Geld aus der Sozialkasse und über Steuern in das System pumpt, sind die Mängel allerorts sichtbar: keine Hausärzte in den Gesundheitszentren, Patienten auf den Fluren der staatlichen Krankenhäuser, lange Wartelisten für lebenswichtige Operationen.

    Jetzt hat eine unabhängige Kommission unter Leitung des ehemaligen Wirtschaftsministers Augusto Mateus eine Studie veröffentlicht, die als Hauptgrund für die Ineffizienz schwerwiegende Koordinationsprobleme zwischen dem staatlichen, dem privaten und dem von der Kirche unterhaltenen Gesundheitssektor aufdeckt:

    "Wir beobachten eine Zersplitterung des Systems in drei nicht miteinander verbundene Untersysteme. Dadurch ist die Einsatzplanung der Ärzte oder das Angebot von Gesundheitseinheiten vollkommen unkoordiniert. Die Menschen glauben, es gibt in Portugal keine Ärzte; dabei haben wir europaweit einen der besten Werte in der Kategorie Ärzte pro Einwohner. Es existiert kein Ärztemangel, sondern ein Organisationsproblem."

    Mit punktuellen Einsparmaßnahmen hat die sozialistische Regierung bislang versucht, die Kosten des Systems, die sich in den vergangenen zehn Jahren verdoppelt haben und mittlerweile annähernd ein Zehntel des Bruttosozialproduktes ausmachen, unter Kontrolle zu bekommen. Die vereinzelte Schließung von staatlichen Gesundheitszentren in dünn bevölkerten Landstrichen hatte zum Aufschrei der lokalen Bevölkerung geführt. Vor allem, weil die Kosten dennoch nicht gesenkt werden konnten. Die gleichzeitig steigenden Medikamentenpreise rissen weitere Lücken in den Haushalt. Der drastische Sparplan der Regierung sieht für 2011 eine Absenkung der Gesundheitsausgaben um fast 13 Prozent vor. Weil alle Maßnahmen bislang nicht gegriffen haben, fordert Augusto Mateus eine tiefgreifende Reform. Andernfalls stünde das System vor dem Kollaps:

    "Wir regen einen Paradigmenwechsel an. Bisher wurde im Gesundheitssystem das Angebot finanziert. Jetzt soll die Nachfrage unterstützt werden. Für den Bürger würde sich nichts ändern. Mit seinem Gesundheitspass hat er kostenfreien Zugang zum System. Doch der Staat unterstützt die tatsächlich in Anspruch genommenen Leistungen. Und nicht etwa das zuvor definierte, mögliche Gesamtangebot."

    Die Zeichen für eine radikale Gesundheitsreform stehen jedoch schlecht. Im Sommer hatten sich Oppositionsführer Pedro Passos Coelho und Premierminister José Sócrates über das Thema derartig zerstritten, dass der für das finanzielle Überleben Portugals notwendige Sparhaushalt 2011 nicht direkt zwischen den beiden Politikern ausgehandelt werden konnte. Augusto Mateus ist sich dieser Gefahr bewusst und schlägt in seiner Studie deshalb vor:

    "Die Reform soll etappenweise durchgeführt werden. Sie soll im Detail nicht auf parteipolitischer Ebene ausgehandelt werden. Doch die Reform soll nicht von Politikern, sondern von allen an der Organisation des Gesundheitssystems beteiligten Personen und Institutionen durchgeführt werden."