
Ein Chor aus einem Dutzend älterer Männer mit Hut und Weste marschiert auf den Hauptplatz von Figueira dos Cavaleiros. Der kleine Ort, mitten in der südportugiesischen Region Alentejo, ist festlich geschmückt: Bunte Girlanden hängen an kleinen Holzbaracken. Auf einem Mast flattert eine portugiesische Fahne im heißen Sommerwind. Der Musikverein feiert sein 40-jähriges Bestehen und hat aus dem ganzen Land Chöre und Musikgruppen eingeladen. Es wird getrommelt und Akkordeon gespielt, doch die meisten Lieder singen die Musiker a-cappella:
Ein Solist beginnt, der Chor stimmt mit ein. Der Aufbau orientiert sich an den Kirchentonarten des Mittelalters: Der Cante Alentejano ist das musikalische Herz dieser ländlichen Region im Süden Portugals.
"Die Bauern im Alentejo waren fast alle Saisonarbeiter. Und sie arbeiteten vor allem in drei unterschiedlichen Bereichen: Unkraut jäten, Getreide sensen und die Olivenernte."
Serrafim Silva, ein 67-jähriger Rentner, sitzt in seiner dunklen Tracht in einem Park und wartet auf den Auftritt seiner Musikgruppe aus dem nördlicheren Alentejo.
"Der Gesang hat all diese Arbeiten begleitet und damit das Tempo vorgegeben. Unter der Woche schliefen die Landarbeiter auf den Feldern, aber am Wochenende liefen sie zu Fuß nach Hause, denn es gab ja keine öffentlichen Verkehrsmittel. Und auf dem Weg marschierten sie und sangen wieder den Cante. Und dieser Rhythmus des Laufens hat die Musik stark geprägt."
Auftritt der Chöre in Figueira dos Cavaleiros
An diese Tradition erinnert auch der Auftritt der Chöre in Figueira dos Cavaleiros. Die Sänger laufen im Gleichschritt, die Arme ineinander verschränkt, durch die Gassen mit den weiß getünchten, flachen Häusern. Auf einer Bank sitzen ein paar Dorfbewohner im Schatten und unterhalten sich. Der Cante sei ein fester Teil ihres Alentejo, sagen sie, und die Musikgruppen reisen am Wochenende auf Einladung befreundeter Chöre durchs ganze Land und verbreiten den Gesang bis ins nördliche Portugal.
"Reisen und Singen: Das ist für die Chorgruppen ein und dasselbe. Sie lernen so ganz Portugal kennen. Und es geht dabei nur um eins: das Zusammensein. Singen, essen, trinken."
Eine Spur Melancholie schwingt mit, wenn sie über ihre Region reden. Das Fest sei schön, sagen sie, aber sonst ist der Ort so ausgestorben wie eine Wüste. Sechs, sieben, acht – die Senioren auf der Bank zählen die Haustüren durch, hinter denen niemand mehr wohnt: Die Alten sind verstorben, die Jungen in die Städte gezogen.
Auf dem Festplatz ist Zeit für Danksagungen. Der örtliche Musikverein verteilt auf einer kleinen Bühne Medaillen an die Gästemusiker und lädt dann alle zum gemeinsamen Abendessen unter freiem Himmel ein. An der improvisierten Theke steht Ana Pereira und rührt in riesigen Töpfen schmackhafte Fleischgerichte an. Die 75-Jährige singt eigentlich immer mit, aber ihr Bruder sei gerade verstorben, sagt sie, und sie sei noch in der Trauerphase. Vor über 35 Jahren trat die Landarbeiterin mit ihrer Gruppe sogar in Jugoslawien auf.
"Ich habe mit acht Jahren angefangen, auf dem Feld zu arbeiten. Die Arbeit war sehr hart. Von morgens ganz früh, bis spät abends. Und damit der Tag schneller vorbei ging, haben wir einfach immer gesungen."
Nur Ältere singen den Cante noch
Wenig später in der Warteschlange vor der Essenstheke: Hungrige Chorsänger aus einer Stadt im Norden des Alentejo sind gerade von der Bühne runter und verbringen sich die Zeit mit ein paar Späßen. Die überwältigende Mehrheit der Musiker ist über 50 Jahre alt. Und das werde sich wohl kaum ändern, sagt der ehemalige Lkw-Fahrer Francisco Gonçalves:
"In unserer Gruppen sind die Leute zwischen 40 und 80 Jahre alt. Aber aus der Jugend ist fast niemand dabei. Das macht uns ein bisschen Angst. Was wird aus dem Cante? Vielleicht gibt es ihn in 30, 40 Jahren gar nicht mehr. Der Gesang ist zwar jetzt Weltkulturerbe, aber das hat uns auch nicht viel weiter gebracht."
In Figueira dos Cavaleiros gibt es aber doch noch ein paar junge Menschen, die den Cante Alentejano singen. So, wie der 17-jährige Luís Camponice, der unter der Woche auf eine Schule in der 30 Kilometer entfernten Provinzhauptstadt Beja geht, und am Wochenende in seinem Heimatort viel Zeit mit dem Männerchor verbringt.
Er sei der erste aus seiner Familie, der den Cante singe, erzählt Luís. Und es mache ihm Spaß, andere Orte und Traditionen in Portugal kennen zu lernen. Aber leider gebe es nicht viele aus seiner Generation. Warum nur? Keine Ahnung, sagt er. Das wisse er einfach nicht.
Der Abend neigt sich dem Ende zu. Mit Fleischgericht und Rotwein im Bauch schlendern die Musiker zum Kirchplatz. Dort stehen ihre Reisebusse. Serrafim Silva bleibt vor einem kleinen Häuschen stehen, wo der örtliche Musikverein die Medaillen, Trophäen und andere Erinnerungsstücke in einem großen Schaufenster präsentiert.
Nelkenrevolution in den 1970er-Jahren belebte den Cante wieder
Nach der Nelkenrevolution in den 1970er-Jahren, erzählt der ehemalige Industriearbeiter, seien überall im Süden Portugals Gruppen gegründet worden, die den Cante Alentejano als Chorgesang regelmäßig einstudieren.
"Der Cante hat sich auch heute seinen spontanen Charakter bewahrt. Früher wurde der Cante nicht einstudiert, sondern einfach so gesungen. Aber in unserem Chor üben wir natürlich Atemtechniken und Tonlagen. Denn wenn jeder nur so für sich singt, dann klingt das wie ein Haufen Betrunkener. Das hat natürlich auch seine Tradition, denn in den Tavernen des Alentejo singen die Leute nach vielen Gläsern Wein auch eine Art Cante. Wenn wir aber heute mit dem Chor auftreten, müssen wir unser Publikum respektieren. Und deshalb treffen wir uns und üben. Wir singen nicht nach Noten, denn davon hat keiner von uns Ahnung, aber wir versuchen einen klaren, sauberen Gesang einzustudieren."
Serrafim Silva sammelt seine Sänger ein und läuft mit ihnen zum Bus. Die Heimfahrt wird rund zwei Stunden dauern. Doch bevor sie aufbrechen, stimmen sie unterhalb der alten Dorfkirche von Figueira dos Cavaleiros noch ein kleines Ständchen ein.
Die Musiker steigen in den Bus ein. Der Fahrer wirft den Motor an und lenkt sein Fahrzeug auf die fast leere Landstraße, bis die roten Rücklichter in den Olivenhainen verschwinden. Zum Abschied erklingt unter dem glasklaren Sternenhimmel das Glockenspiel der alten Dorfkirche.